Editorial

September 2003

Die Demontage des Sozialstaats, die gegenwärtig im Zentrum der sozialpolitischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik steht (vgl. Z 55, Sozialstaatsdemontage), führt nicht nur zu weiterer Umverteilung von unten nach oben, sondern bewirkt tief greifende Veränderungen im sozialen Leben der Gesellschaft. Die systematische Ausrichtung des Sozialen an wirtschaftlichen Interessen von Konkurrenz und Effizienz, die den verschiedenen Varianten des neoliberalen Gesellschaftsumbaus zugrunde liegt – bis hin zum sozialdemokratischen „aktivierenden Sozialstaat“ – bewirkt nicht nur die rapide Ausweitung der Zone von sozialer Depravierung und Prekarisierung der Arbeitsbeziehungen (Westerwelle: „Faulheit muss bestraft werden“), sondern wirkt bereits weit in das Alltagsbewusstsein der Lohnabhängigen, insbesondere der unter den veränderten Verhältnissen sozialisierten neuen Generationen, hinein. In den Kernbereichen der Gesellschaft, also bei jenen Lohn-, Gehalts- und Sozialabhängigen, deren Familien- und Lebensplanung durch die Sozialkürzungen z.T. einschneidend betroffen wird, überwiegen offenbar derzeit die entmutigenden, entsolidarisierenden und destruktiven Momente. Die Gewerkschaften bekommen das zu spüren. Nicht nur durch rückläufige Mitgliederzahlen und Mobilisierungsschwierigkeiten, sondern auch, wie im Fall der IG Metall, durch innere Konflikte und Richtungsdiskussionen, die durch die politische Klasse und die Medienöffentlichkeit von außen angeheizt und beeinflusst werden. Die Auseinandersetzung um den abgebrochenen Streik in Ostdeutschland und die darüber auch nach außen offenkundig gewordene Interessenpolarisierung in der IG Metall kann nur in diesem Kontext gesehen werden. Es mag in Belegschaften und vielen vom Sozialabbau betroffenen Bevölkerungsgruppen zunehmenden Unmut und wachsende Unruhe geben, Gegenbewegungen entwickeln sich gegenwärtig eher vom Rande her. Dies zeigte auch die Berliner Demonstration der Hunderttausend vom 1. November.

Im Schwerpunkt des vorliegenden Heftes werden solche Aspekte näher beleuchtet. Die neoliberale Demontage des Sozialstaats erfordert auch eine Umdeutung des Begriffs der sozialen Gerechtigkeit. Christoph Butterwegge setzt sich kritisch mit dieser Diskussion in Politik und Programmatik der ‚Neuen Sozialdemokratie’ auseinander. Sie zielt aus seiner Sicht darauf, den der Tradition der Arbeiterbewegung entstammenden Grundwert der Solidarität nunmehr völlig seines Inhalts zu entleeren und ihn auf Chancengleichheit im wirtschaftlichen Wettbewerb zu reduzieren.

In sozialen Umfragen wird als Ausdruck widersprüchlichen Bewusstseins die Gleichzeitigkeit von hoher Wertschätzung des Sozialstaats und Akzeptanz seiner neoliberalen Demontage konstatiert. Wie sind diese gegensätzlichen Seiten im Alltagsbewusstsein vereinbar? Harald Werner verweist darauf, dass nicht nur die neoliberale Ideologie, sondern auch die mit ihr verbundene Praxis zu einer weitgehenden „Amnesie“ tradierter sozialer Deutungsmuster geführt haben.

Mit Anspielung auf die „Agenda 2010“ als Synonym forcierter sozialer Ungerechtigkeit erinnert Rainer Diederich an die „Agenda 1510“ des Erhart Falckener aus der Vorgeschichte des Bauernkrieges und eine daran anknüpfende Kunstaktion aus Anlass der 150-Jahr-Feier der Frankfurter Paulskirchenversammlung.

Unter dem Druck der Sozialdemontage und mit Blick auf dramatische Mobilisierungsschwächen und Terrainverluste sind bei den Gewerkschaften nbene bekannten Handlungsmustern von Anpassung und Defensive auch zögernde und widersprüchliche Re-Politisierungsprozesse zu verzeichnen. Der Beitrag von Wolfram Burkhardt und Jürgen Reusch über eine Tagung der Gewerkschaftslinken in Frankfurt/Main beschreibt die Schwierigkeiten, Ansätze gewerkschaftlicher Autonomie aus der Defensive heraus wieder zu gewinnen.

Neoliberale Denkmuster sind inzwischen tief in die Gewerkschaften eingedrungen. Für die Entwicklung einer autonomen, gegenmachtorientierten Gewerkschaftspolitik liegt hier der neuralgische Punkt. Juri Hälkers Befragung unter Duisburger Betriebsräten zeigt bei diesen durchgängig ein widersprüchliches Bild: Positionen kämpferischer Interessenvertretung und konkurrenzorientierten Standortdenkens stehen unverbunden nebeneinander.

Axel Gerntke und Horst Schmitthenner gehen davon aus, dass den in der IG Metall zutage getretenen Richtungsauseinandersetzungen tiefgreifende materielle und ideologische Veränderungen in der Gesellschaft zugrunde liegen, die von der Gewerkschaft nicht hinreichend zur Kenntnis genommen worden sind. Sie wenden sich gegen die Tendenz, die bisher eingeschlagene Politik einer nationalen Wettbewerbskoalition weiter fortzuführen und votieren für eine nachhaltige Re-Politisierung der Gewerkschaftsarbeit, um den Auswirkungen des Neoliberalismus entgegentreten zu können. Dazu gehören auch die Überprüfung des Verhältnisses von Betriebsräten und Gewerkschaft wie eine Neubestimmung des Verhältnisses zur Sozialdemokratie und die stärkere Orientierung der Gewerkschaft auf „strategische Allianzen“ und Bündnisse mit außerparlamentarischen Bewegungen.

Unter den weiteren Beiträgen bilanziert Ernst Lüdemann die Verschiebungen in den internationalen (zwischenstaatlichen) Kräfteverhältnissen. Es ist fraglich, ob hier das Triaden-Konzept noch haltbar ist. Die Dominanz der USA scheint zu groß zu sein. Lüdemann verweist jedoch auf die inneren Schwächen der US-Supermacht (Verschuldung, Außenhandelsdefizit, Abhängigkeit von Kapital- und Energieimporten). Er prognostiziert eine wachsende Kluft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern und ein zunehmendes Gewicht der globalen Auseinandersetzung um Ressourcen.

Ergebnisse und Perspektiven der sozialen Kämpfe in Lateinamerika in den letzten 30 Jahren fasst Dieter Boris zusammen. Hier zeichnet sich seit Mitte der 90er Jahre eine allmähliche Wiederbelebung von sozialen Bewegungen ab, die in der Lage sein könnten, die „soziale Depression“ abzuwerfen, in die die Kette von Militärdiktaturen und die darauf folgende, unter neoliberalen Vorzeichen ablaufende „Re-Demokratisierung“ den Subkontinent gestürzt hatte.

In den Dezember dieses Jahres fällt der 200. Todestag von Johann Gottfried Herder. Wolfgang Förster nimmt dies zum Anlaß für eine Reflexion über den Fortschrittsbegriff und die Aktualität der Aufklärung und verweist auf wichtige Aspekte im Werk Herders, die für das Konzept einer „neuen Aufklärung“ produktiv zu machen sind.