Buchbesprechungen

Wissenschaft und Staatsdoktrin

von Werner Röhr zu Lexikon der Vertreibungen
März 2011

Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Detlef Brandes, Holm Sundhaussen, Stefan Troebst. In Verbindung mit Kristina Kaiserová und Krzysztof Ruchniewicz, Redaktion: Dmytro Myeshkov, Böhlau Verlag, Wien – Köln – Weimar 2010, 801 S., 79 Euro

Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein deutsches Massenmedium die Vertreibung deutscher Minderheiten aus den Ländern beklagt, deren Völker sie zu Recht nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr ertragen wollten. Parlament und Regierung richten per Gesetz und mit vielen Millionen Euro ein „sichtbares Zeichen“ gegen Vertreibungen ein, um ältere und jüngere Geschichtsfälschungen gegenständlich zu machen. Bei soviel Zeitgeist konnten professionelle Vertreter der bürgerlichen deutschen Historiographie nicht abseits stehen und beeilten sich, der Staatsideologie ein „wissenschaftliches Fundament“ zu bauen. Im Herbst 2010 wetteifern sie öffentlich, dem uneinigen Vorstand der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ mit einer konsensfähigen museumspädagogischen Gestaltung der Dauerausstellung aus der Klemme zu helfen.

Das erste deutschsprachige „Lexikon der Vertreibungen“ wurde entscheidend von jener Institution gefördert, die bereits für Konzeption und Veranstaltung der Wanderausstellung „Flucht, Vertreibung und Integration“ verantwortlich zeichnete, die nun als Grundlage für das „Sichtbare Zeichen“ dient, nämlich vom Bundesbeauftragten für Kultur und Medien Bernd Neumann. Dabei verdankt das Lexikon seine Geburt gerade einer Gegeninitiative: Den Vorschlag machte der Südosteuropahistoriker Holm Sundhaussen 2002 auf einer Konferenz für ein „Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen“. Doch dieses als Alternative für eine bundesdeutsche Einrichtung gedachte europäische Zentrum wurde nicht realisiert, die vorgesehenen Mitträger aus den Nachbarländern Polen und Tschechien wollten nicht als Feigenblatt für den vergegenständlichten deutschen Revanchismus dienen. So blieb von dieser „europäischen Lösung“ allein das Lexikon übrig. Außer dem Bundesbeauftragten werden das Bundesministerium für Bildung und Forschung und das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung Wien als Förderer des Lexikons genannt, weiterhin das Geisteswissenschaftliche Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, ein ebenfalls aus Bundesmitteln finanziertes An-Institut der Universität Leipzig. Bei so viel offizieller und offiziöser Förderung sollte man nicht all zu viel kritische Wissenschaft erwarten.

Die Herausgeber gruppierten die ins Lexikon aufgenommenen 308 Stichworte so: Erstens „betroffene Ethnien in ihren Heimat- und Aufnahmeländern bzw. -regionen, zweitens zentrale Pläne, Konferenzen, Beschlüsse oder Maßnahmen, drittens Akteure, Personen und Organisationen und viertens Ausblicke auf Erinnerungskultur und Geschichtspolitik“. (S. 9) Eine fünfte Gruppe bilden wichtige historische Begriffe.

Diese Gliederung löst die erfassten Stichworte in ein Meer von einzelnen Sachverhalten auf und zerschneidet historische Zusammenhänge. Faktisch wird die tatsächliche Auswahl der Stichworte an Völker und Volksgruppen als Opfergruppen ausgerichtet, deren jeweilige Vertreibungsgeschichte das Gerüst der Lemmata bildet. Die Völker bzw. Volksgruppen erscheinen in dem Band nur als Opfergruppen, ihre Tätigkeiten kommen nicht vor. Völker, Länder und Aktionen überschneiden sich. Es gibt jeweils mehrere Stichworte zum selben Gegenstand. Nicht selten werden einzelne Opfergruppen mehrfach behandelt, z.B. 1. unter dem Herkunftsland der vertriebenen Gruppe, 2. unter ihrem Aufnahmeland, 3. als ethnische Gruppe in einem selbständigen Stichwort und 4. als konkrete, datierte Aktion. So tauchen die „Deutschbalten“ unter diesem Lemma auf, aber auch unter Deutschland, baltische Länder, nationale Minderheiten, Sowjetunion, Umsiedlung, Warthegau und weiteren. Die Deutschen aus den böhmischen Ländern werden außer im gleichnamigen Stichwort auch behandelt in den Lemmata Tschechoslowakei, nationale Minderheit, Münchener Abkommen, Dekrete des tschechoslowakischen Präsidenten, Lager, wilde Vertreibungen aus der Tschechoslowakei, Sudetendeutsche Emigration nach Schweden, Sudetendeutsche Landsmannschaft und weiteren.

Die Gründe für Auswahl und Aufnahme der Stichworte bleiben undurchsichtig. Die meisten gehören zu fünf großen zeitlich-räumlichen Komplexen:

1. Südosteuropa vom Beginn des ersten Balkankrieges bis zur Konferenz von Lausanne (1912-1923),

2. Die Sowjetunion der 1930er und 1940er Jahre,

3. die vom Hitlerfaschismus und seinen Verbündeten verübten Verbrechen,

4. die Vertreibungen der deutschen Bevölkerungsgruppen aus Ostmitteleuropa nach 1945 und

5. die ethnischen Säuberungen während der Staatsgründungskriege der Nachfolgestaaten Jugoslawiens nach 1990.

Ungeachtet der europaweiten Anlage liegt der Hauptakzent auf den Aussiedlungen deutscher Minderheiten nach 1945, gefolgt von den innersowjetischen Deportationen der Stalinzeit. Auf die Einordnung in die jeweiligen Zusammenhänge der Kriegführung wird verzichtet. Dagegen nehmen sich Stichworte zu den nazistischen Massenaussiedlungen an Anzahl und Umfang geradezu bescheiden aus. Die Auswahl ist problematisch, die Proportionen recht einseitig. Wenn von zentralen Plänen etc. gesprochen wird, bleibt offen, welche Zentrale jeweils als Bezugspunkt fungiert.

Für Europa im 20. Jahrhundert waren die Herausgeber um Vollständigkeit bemüht. So entstand ein riesiger Materialfundus von Einzelaktionen. Die Ursachen und Zusammenhänge der Vertreibungsprozesse werden nicht expliziert, das Geflecht nicht durchsichtig gemacht. Die Absicht der Herausgeber, „Schneisen zu Analyse, Kategorisierung und Periodisierung zu schlagen“, überlässt es dem Leser, aus dem Materialfundus Zusammenhänge zu gewinnen. Dies wird ihm aber gleichzeitig erschwert, weil weder Herausgeber noch Autoren zu einer klaren und trennscharfen Auffassung ihres Gegenstandes fanden. Obwohl Massenfluchtbewegungen definitorisch ausgeschlossen bleiben sollten, wird das nicht durchgehalten. Die Verbrechen des Völkermords an Armeniern, Juden und Roma werden explizit behandelt, obwohl sie nicht nur strafrechtlich eine andere Gattung darstellen als Vertreibungen.

Wo es um Begriffe wie Flucht, Vertreibung, Deportation, Irredentismus, Genozid geht, die für die Konzeption des Lexikons tragend sein müssten, bleiben die Bestimmungen ungenau oder dürftig. Selbst die titelgebende „Vertreibung“ kann nicht klar und trennscharf bestimmt werden: Was „Vertreibung“ im Unterschied zu „Zwangsemigration“, „Flucht“, „Deportation“ oder „Evakuierung“ ausmacht, bleibt unklar, alle diese Bezeichnungen gehen durcheinander. Einigermaßen klar sind nur die juristischen Begriffe. Für ein solches Werk müssten auch solche Begriffe wie nationale Minderheit, Nationalität, Nationalitätspolitik, Nationalismus, Irredentismus eigens bestimmt werden, doch der ganze Komplex hat gravierende Lücken und enthält viel Unsinn. Selbst wo es weniger um Begriffe als um historische Sachverhalte geht, werden manche Lemmata, z.B. „Deutsche Volksliste“, der Sache nicht gerecht.

Noch willkürlicher als die Auswahl der Begriffe ist die der aufgenommenen Personen. Hier tauchen führende Politiker der am häufigsten behandelten Länder auf, so Churchill, Gomułka, Mikołajczyk, Beneš, Antonescu, aus der Sowjetunion vor allem die Geheimdienstchefs Jagoda, Jeshow und Berija. Aus Deutschland wurden Heydrich und Himmler aufgenommen, doch die praktischen Organisatoren der nazistischen Massenvertreibungen, die Beauftragten des „Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums“, die Leiter der „Umwandererzentralstel-len“ und SS-Stäbe fehlen durchweg, die nazifizierten deutschen „Volksgruppenführungen“ ebenfalls.

Die Grundschwäche des Lexikons besteht im Mangel an historischer Erklärung: Warum die Hauptmächte des Völkerbundes nach 1919 und jene der UNO nach 1945 die mit dem Abkommen von Lausanne präjudizierte Lösung, die blutigen Nationalitätenkonflikte innerhalb von Vielvölkerstaaten durch nationale Homogenisierung, also durch Trennung, Bevölkerungsaustausch und Aussiedlung, für den einzig erfolgversprechenden Weg zur Lösung der Nationalitätenprobleme hielten, bleibt scheinbar unerklärlich, zumal diese Konzeption heute längst verabschiedet ist, ohne dass die Praxis bei den gegenwärtigen Staatsgründungskriegen anders wäre. Warum diese Nationalitätenkonflikte nicht von selbst, sondern stets im Zusammenhang imperialistischer Kriege, Staatsgründungskriege und ihrer Expansionen eskalierten und für sie funktionalisiert wurden, wird nicht analysiert. Die einzelnen Vertreibungen kommen im Lexikon jeweils aus heiterem Himmel über die Völker, quasi aus einem plötzlichen bösen Willen. Warum sie jeweils zum zeitgemäßen und nachgeahmten Erfolgsmuster wurden, wird nicht einmal gefragt.

Das Lexikon ist leider kein „solides Nachschlagewerk zu einem schwierigen Thema“, wie der Rezensent der linken Tageszeitung junge Welt meinte (4.10.2010). Das verkündete Bemühen um Nüchternheit der Darstellung endet vor der Gegenwart und hat zum Beispiel bei den jüngsten jugoslawischen Staatsgründungskriegen nicht zu „einem entspannten Umgang mit dem Stoff“ geführt. Vielmehr verzerrt eine einseitige Parteinahme für den albanischen Nationalismus die Darstellung und bezieht Falschinformationen explizit ein. Selbst eingedenk des sehr unterschiedlichen Forschungsstandes hinsichtlich der einzelnen Prozesse enthält das Buch nicht wenige Detailfehler – auch dort, wo der Forschungsstand das ausschließen könnte.

Die Herausgeber haben rund hundert Autoren herangezogen, vor allem aus Deutschland, nicht immer Experten, sondern häufig jüngere Autoren, die ihren Bildungsgang vor dem Publikum absolvieren. Zahlreiche Artikel haben die Herausgeber selbst verfasst und dabei ihre aus der Literatur bekannten Positionen bestätigt. Die Lemmata enthalten ausgewählte Literaturangaben, wobei die Autoren vor allem ihre eigenen Arbeiten angeben. Die Herausgeber schreiben ihrem Werk nur eine kurze Halbwertzeit zu und nennen als Gründe erstens den ungleichmäßigen Forschungsstand und zweitens die aktuellen Bezüge auf die jüngste Vergangenheit in Südosteuropa. Sie visieren eine zweite, verbesserte und erweiterte Auflage an und erwarten Übersetzungen in mehrere Sprachen. Doch das Ungenügen an diesem publizistisch-politischen Schnellschuss ist nicht nur diesen Gründen geschuldet, sondern der Konzeption der Herausgeber.

Werner Röhr