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Frühsozialistische Themen im „Hessischen Landboten" von Georg Büchner

von Frank Deppe
September 2013

[1]

Georg Büchner hatte von 1831 bis 1833 im französischen Straßburg studiert und hielt sich auch 1834 zeitweilig dort auf. Beindruckt von der französischen Revolution des Jahres 1830 gründete er (so informiert uns der Kommentar zur „Marburger Ausgabe“) im Vorfeld der Niederschrift des „Landboten“ mit Gesinnungsgenossen eine „Gesellschaft der Menschenrechte“ nach französischem Vorbild. Einer der bekanntesten Repräsentanten des französischen Frühsozialismus (bzw. des sog. „Arbeiterkommunismus“) – in der Tradition des Babouvismus – war Louis Auguste Blanqui (1805-1881)[2]. Er hatte aktiv an der Revolution von 1830 teilgenommen. Nach 1830 wurde er zuerst Mitglied, dann selbst Mitbegründer verschiedener Geheimgesellschaften (die immer wieder verboten wurden): zuerst der „Gesellschaft der Menschenrechte“, dann der Gesellschaft der „Volkfreunde“ (Amis du Peuple) und schließlich der „Gesellschaft der Jahreszeiten“. Er verbrachte fast 40 Jahre bis zu seinem Tode im Jahre 1881 in Gefängnissen. Die Revolutionen von 1848 und 1870 befreiten ihn nur für jeweils kurze Zeit. Am 5. Januar 1881 folgten in Paris fast 200.000 Menschen – überwiegend aus dem „petit peuple“ – seinem Sarg zum Friedhof Père Lachaise. Sie verehrten in ihm die Traditionen der französischen Revolutionen seit 1789, genauer: der revolutionären Volksbewegungen in diesen Revolutionen. In Deutschland stand die radikaldemokratische Bewegung des sog. „Vormärz“ (1830-1848) unter dem Eindruck der französischen Revolution von 1789 und vor allem der von 1830. Viele seiner Exponenten hielten sich als Emigranten, die im Gefolge der „Karlsbader Beschlüsse“ von 1819 (Einschränkung der Meinungsfreiheit, Pressezensur, Überwachung der Universitäten, Berufsverbote gegen Professoren usw.) vertrieben worden waren, in Paris auf. Der Junge Marx formulierte 1843/44 die Losung „Krieg den deutschen Zuständen! Sie stehen unter dem Niveau der Geschichte!“; sie warten auf das „Schmettern des gallischen Hahnes“ (MEW 1: 380 u. 391).

In einem ersten Schritt wird die politische Botschaft des „Landboten“ rekonstruiert. Danach wird auf die Entwicklung des „Frühsozialismus“ eingegangen, um im letzten Abschnitt Überlegungen zum Bezug des „Landboten“ auf den Frühsozialismus zu diskutieren.

1.

Wie die berühmte Losung „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ ausdrückt, handelt es sich beim „Landboten“ um eine revolutionäre Flugschrift, in der Illegalität produziert und verteilt, sofort durch die Justiz verfolgt – eine radikale Anklage gegen die herrschende politische Ordnung im Großherzogtum Hessen – stellvertretend für die Fürstenherrschaft in Deutschland (und Europa) insgesamt, eine radikale Kritik der Ausbeutung der Bevölkerungsmehrheit durch das Steuersystem (zur Finanzierung eines parasitären Staates), und ein Aufruf an das „Volk“, sich von dieser Herrschaft und Knechtschaft zu befreien. Der Kampf zwischen Arm und Reich – so die Botschaft Büchners – steht im Mittelpunkt der bevorstehenden Revolution! Am Schluss – hier häufen sich Bibelzitate – steht die Hoffnung: „Der Tag der Auferstehung wird nicht säumen. In dem Leichenfeld (Deutschland) wird sichs regen und wird rauschen und der Neubelebten wird ein großes Heer sein … (denn) … Wer das Schwert erhebt gegen das Volk, der wird durch das Schwert des Volkes umkommen … Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld, bald wird es ein Paradies sein.“

Walter Grab hat in seinem Heine-Buch darauf hingewiesen, dass dieser unter dem Eindruck der „trois glorieuses“ in Paris Ende Juli 1830, als die Dynastie der Bourbonen vom Thron gefegt wurde, ein „Schlachtlied“ intonierte: „Worte gleich flammenden Sternen, die aus der Höhe herabschießen und die Paläste in Flammen verbrennen und die Hütten erleuchten“. Die „bildliche Gegenüberstellung von Hütte und Palast“, so fährt Grab fort, „stammt aus dem Begriffsarsenal der französischen Jakobiner und tauchte erstmals im Herbst 1792 auf, als die Sansculottenarmeen ins Rheinland vorstießen, um dem deutschen Volk die Freiheitsbotschaft zu bringen.“[3] Im Vordergrund steht eine überwiegend in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung; allerdings: auch die Stadtarmut kennt die „Hütten“, die elenden Wohnquartiere. Der „Landbote“ aus dem Jahre 1834 fügt sich ein in die „neue politische Atmosphäre“, die sich in Europa nach dem Juli 1830, nach dem (erhofften) Ende des Restaurationsperiode, ausbreitete: in Polen und Belgien bezogen sich Volksbewegungen und Aufstände auf die Ereignisse in Paris; in Deutschland wurde das Hambacher Fest von 1832 und der sog. „Wachensturm“ in Frankfurt (1833) durch diesen Umschwung beflügelt. Büchner gründete mit Haftentlassenen seine „Gesellschaft der Menschenrechte“. Beim Hambacher Fest schloss der Hauptredner, der Journalist und Jurist Philipp Jakob Siebenpfeiffer, seine Eröffnungsrede mit den folgenden Worten ab: „Es lebe das freie einige Deutschland! Hoch leben die Polen, der Deutschen Verbündete! Hoch leben die Franken (i.e. die Franzosen), der Deutschen Brüder, die unsere Nationalität und unsere Selbständigkeit anerkennen. Hoch lebe jedes Volk, das seine Ketten bricht und mit uns den Bund der Freiheit schwört: Vaterland – Volkshoheit – Völkerbund hoch!“ Hier steht die Forderung des liberalen Bürgertums – Einheit und Freiheit – im Vordergrund, nicht die soziale Frage. Aber es wird schon deutlich, dass die radikaldemokratischen und auch die frühsozialistischen Bewegungen dieser Zeit allgemeine Forderungen („Freiheit/Gleichheit“, Sturz der Fürstenherrschaft) vertraten, aber gleichzeitig diese mit spezifischen Themen ihrer Länder bzw. Nationen verknüpften: in Deutschland, Italien, Polen (aber auch in den Großreichen Ost- und Südeuropas: im russischen Zarenreich, im Reich der Ottomanen und im Vielvölkerstaat der österreichisch-ungarischen Monarchie, wo sich ebenfalls Widerstand artikulierte) stand die „nationale Frage“, das Ziel der nationalen Einheit bzw. der nationalen Selbständigkeit im Vordergrund. Auch im „Landboten“ spielt diese Frage eine wichtige Rolle!

Der „Landbote“ setzt ein mit einer Anklage gegen den Gegensatz von Herrschenden und Volk, von Bauern und Handwerkern auf der einen, Fürsten und „Vornehmen“ auf der anderen Seite. Es ist der Gegensatz zwischen denen, die arbeiten, aber arm sind – und denen, die nicht arbeiten, aber reich sind, weil sie dem Volk den Ertrag ihrer Arbeit rauben. Das Instrument der Ausbeutung sind Steuern und andere Abgaben, die nunmehr mit exakten Zahlen aufgelistet werden. 700.000 Menschen schuften für den Staat und das vornehme Leben von „vielleicht … 10 000 Pressern, die nur stark sind durch das Blut, das sie Euch aussaugen und durch Eure Arme, die ihr ihnen willenlos leihet“. Mit den Steuergeldern wird ein Staatsapparat finanziert, der das Volk im Namen der „Ordnung“ unterdrückt; die Justiz – als Teil dieses Systems – ist (so heißt es) „in Deutschland seit Jahrhunderten eine Hure der deutschen Fürsten“. Die Gehälter und Pensionen der Beamten, die Kosten des Militärs (die Soldaten sind „gesetzliche Mörder, welche die gesetzlichen Räuber schützen“) usw. sind Mittel, ein politisches System der illegitimen, parasitären und repressiven Herrschaft zu reproduzieren.

Im folgenden Abschnitt setzt sich der „Landbote“ mit der herrschenden Ideologie auseinander, der zufolge der Großherzog Ludwig „von Gottes Gnaden“ regiere, also durch höhere Weihen (von oben, nicht von unten) legitimiert sei. Dagegen stellt Büchner (oder Weidig[4]) das ausschweifende Leben der „adlichen Herrn und Damen“, die am Hof „Götzendienst“ leisten. Gegen den Anspruch des „Gottesgnadentums“ wird die Idee der Volkssouveränität gesetzt, die seit dem 17. Jahrhundert die Revolutionen zum Sturz des Absolutismus angetrieben hatte und sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (vor allem über Rousseaus „Contrat Social“) radikalisiert hatte. Im „Landboten“ allerdings wird die Infragestellung des fürstlichen Gottesgnadentums mit dem etwas abenteuerlichen Gedanken kombiniert, dass die deutschen Fürsten „den deutschen Kaiser, der vormals vom Volke frei gewählt wurde, verachtet und endlich gar verraten“ haben. Diese Fürsten haben „Deutschland, unser liebes Vaterland, … zerrissen“.[5] Deutschland wird – und hier gerät jetzt schon das Thema der nationalen Einheit ins Zentrum – nach dem Sturz der Fürstenherrschaft „als ein Freistaat mit einer vom Volk gewählten Obrigkeit wieder auferstehen“. Im Kampf gegen die politische Zersplitterung des Landes greift Büchner also auch auf durchaus fragwürdige Argumente zurück; denn niemals waren die deutschen Kaiser von einem freien Volke gewählt!

Damit kommt der „Landbote“ zum Vorbild der französischen Revolution von 1789, die mit dem Sturz der Monarchie und der Entmachtung der Aristokratie zuerst das Prinzip der Selbstbestimmung des Volkes, der Demokratie (in der Tradition des Denkens von John Locke, Montesquieu und Rousseau), durchgesetzt hat (wenn auch nur für kurze Zeit): „Die höchste Gewalt ist in dem Willen aller oder der Mehrzahl. Dieser Wille ist das Gesetz, er tut sich kund durch die Landstände oder die Vertreter des Volks, sie werden von allen gewählt und Jeder kann gewählt werden …“[6] Das sind die grundlegenden Prinzipien der modernen repräsentativen Demokratie, wobei die radikalen Demokraten dieser Epoche immer auch Rousseaus Modell einer „direkten Demokratie“ („volonté générale“) im Sinne hatte, wenn sie räteähnliche Organe der Selbstbestimmung des Volkes etablieren wollten. Diese Gedanken wurden – nach der restaurativen Gegenbewegung (nach 1815) – durch die Aktionen vom Juli 1830 wieder belebt. Allerdings wurden die damit verbundenen Hoffnungen mit dem monarchischen Regime des „Heuchlers“ Louis Philippe schnell enttäuscht. Nunmehr war freilich an die Stelle der landbesitzenden Aristokraten (als herrschende Klasse) eine bürgerliche „Aristokratie“ von Bankiers, Finanziers und Fabrikanten getreten.

In Deutschland hatten die Fürsten unter dem Druck der Revolutionen z. T. Verfassungsreformen zugestimmt, die den Landtagen begrenzte Rechte – z. B. das Budgetrecht – oder Vetorechte bei der Gesetzgebung zugestehen. Solche Verfassungen sind – so der „Landbote“ – „ein elend jämmerliches Ding“. „Das ganze deutsche Volk muss sich die Freiheit erringen“ – „und diese Zeit, geliebte Mitbürger, ist nicht ferne“ – so beschwört der „Landbote“ die bevorstehende Revolution, die in den folgenden Passagen immer wieder durch Berufung auf Gott, der nicht an der Seite der Fürsten, sondern an der Seite des Volkes stehe, beschworen wird. „Gott hat das Reich zu Trümmern gehen lassen, um es zu einem Freistaat zu verjüngen. Das Maß … der Fürsten … ist voll! Der Tag der Auferstehung ist nah!“

Soweit – in Grundzügen – dieses Programm einer radikalen Demokratie, die vor allem auf die Selbstbestimmung des Volkes abhebt. Das Volk (le peuple in Frankreich, „popolo“ in den italienischen Stadtstaaten des Spätmittelalters, z. B. Florenz) wird aber gerade nicht als die Gesamtheit der Staatsbürger bestimmt, sondern als die Masse der „kleinen Leute“, die als Subjekt der Revolution gedacht sind, ohne deren Beteiligung die bürgerliche Revolution, der Sturz des Ancien Regimes, keine Chance hatte. Darin – und nicht nur im Gegensatz von arm und reich – ist (wenn auch noch unscharf) die Klassendimension dieses Programms der Demokratie (und damit der Gegensatz zur liberalen Konzeption der repräsentativen Demokratie, die dazu noch auf dem Zensuswahlrecht beruht) deutlich angelegt. Als Blanqui im Jahre 1832 vor Gericht stand und nach seinem Beruf gefragt wurde, antwortete er: „Proletarier“. „Das ist der Beruf von 30 Millionen Franzosen, die von ihrer Arbeit leben und der politischen Rechte beraubt sind.“[7]

2.

Eric Hobsbawm hat – im ersten Band seiner 4-bändigen Universalgeschichte des langen 19. Jahrhunderts – die Epoche zwischen 1776 und 1848 als „Zeitalter der Revolution“ bezeichnet[8]. Er sprach von einer „Doppelrevolution“. Die industrielle Revolution leitete – von England ausgehend – eine gewaltige ökonomische, soziale, wissenschaftliche Umwälzung ein. Der Industriekapitalismus erzeugte ein industrielles Proletariat, das sich – auch inspiriert durch die Erklärungen der Menschenrechte sowie durch die Forderungen der Französischen Revolution nach Gleichheit und Brüderlichkeit – gegen Ausbeutung und Unterdrückung zur Wehr setzte und dabei von Ideen von einer „neuen Welt“ leiten ließ. Die Anfänge der Arbeiterbewegung konzentrierten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch auf England, wo aus großen Streikbewegungen erste Gewerkschaftsgründungen hervorgingen, Anfänge des Genossenschaftswesens entstanden (Robert Owen) und die politische Bewegung der Chartisten nicht nur für das allgemeine Wahlrecht eintrat, sondern auch die bestehende kapitalistische Eigentumsordnung in Frage stellte.

Die Französische Revolution hatte nach 1789 universell Maßstäbe für Freiheit und Volkssouveränität gesetzt, die auch in der Epoche der Restauration (im Grunde bis in die Gegenwart) fortwirken und den Kampf gegen die restaurierte Fürstenherrschaft nach 1815 immer wieder beflügelten. In der Revolution trat freilich der Widerspruch zwischen Freiheit und Gleichheit – das unterschiedliche Verständnis von Gleichheit zwischen den Liberalen und den Sprechern der Unterschichten – immer deutlicher zutage![9] Im Jahre 1795 – im Zeichen des Thermidors – hatte der Kopf der gescheiterten „Konspiration für die Gleichheit“, Gracchus Babeuf, formuliert: „Die Gegenwart geht mit der Zukunft schwanger.“[10] Und er gab die Losung für die nachfolgenden Generationen aus: „Die Französische Revolution ist nur der Vorbote einer anderen, noch viel größeren, viel feierlicheren Revolution, die die letzte sein wird.“ Das Programm dieser Revolution ist ein Zweifaches: die Verwirklichung der „wahren Gleichheit“ durch die Gemeinschaft aller Güter und Arbeiten sowie die Wiederherstellung der politischen Demokratie durch die Verfassung von 1793. Gleichzeitig vertrat Babeuf die Auffassung, dass zur Durchsetzung dieses Programms – nach der Ergreifung der Macht durch einen bewaffneten Aufstand – eine zeitweilige Diktatur errichtet werden müsse, um die Angriffe der Konterrevolution abzuwehren!

Die Ideen des Gracchus Babeuf wurden von einem der überlebenden Mitverschwörer, dem Italiener Filipo Buonarroti, 1827 unter dem Titel „Die Verschwörung für die Gleichheit“ publiziert. Eine junge Generation, die dann 1830 in den revolutionären und frühsozialistisch-kommunistischen Bewegungen in Frankreich führend werden sollte (darunter auch Blanqui), machte sich über die Schrift mit der Botschaft von Babeuf, aber auch mit der Praxis der Verschwörung (in Geheimgesellschaften, die die Revolution bzw. den Aufstand vorbereiten) vertraut.[11] Vielfach zeigte sich da eine „romantische Vision der Revolution“, vor allem des Revolutionärs: jung, wagemutig, den Tod verlachend, als Volkstribun, der umgeben ist von der Aura der Konspiration, der Vorbereitung auf die Insurrektion. Hobsbawm verweist in diesem Zusammenhang auf das Gemälde von Delacroix aus dem Jahre 1831 „Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden“[12]. Heine war beim Anblick des Bildes fasziniert: „ein jugendliches Weib“, barbusig, in der Mitte, umgeben von Jünglingen, „mit einer roten phrygischen Mütze auf dem Haupte, einer Flinte in der einen Hand und in der andern“ die Tricolore[13]. Georg Büchner war 1834 21 Jahre alt – ein jugendlicher Heißsporn, der aber schon 1835 in „Dantons Tod“ den Kampf der Fraktionen in der Revolution, den Übergang zur „Schreckensherrschaft“ (Terreur) und damit das Scheitern der Freiheitsideale zum Gegenstand machte.

Im Zentrum dieser ganzen Epoche – bis 1848 – stand demnach der Übergang von der politischen zur sozialen Revolution, wobei in denjenigen Ländern, in denen die politische Revolution, d.h. der Sturz des Ancien Régimes, noch längst nicht vollzogen war, die zentralen Themen – Demokratisierung/Volkssouveränität, Sozialreformen, nationale Einheit und Unabhängigkeit – mit der Betonung der „sozialen Frage“ Verbindungen eingingen. Dennoch: In der Vorgeschichte von 1848 vollzog sich die Auflösung jener Bündniskonstellation des „Dritten Standes“, die die liberale Bourgeoisie und die plebejisch-proletarischen Massen zusammen gehalten hatte. Die frühsozialistischen Theorien und Praxis-Ansätze reflektierten diese Erosion (und schließlich Konfrontation). Inzwischen waren auch die Bedeutung der sozioökonomischen Revolution, die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise und die Herausbildung der ihr eigenen Klassenstruktur (ungleichzeitig, aber in Anfängen auch in Frankreich und Deutschland), nicht länger zu übersehen. In der „Parabel“ von Saint-Simon (1819), in der der Fortschritt in der Wissenschaft, den Künsten, in Handwerk und Gewerbe als Signum der Zeit – gegen die Herrschaft der Aristokraten und höfischen Nichtsnutze – erkannt wird, heißt es: „die heutige Gesellschaft hat die Welt wahrhaftig auf den Kopf gestellt“. Der Begriff des „Proletariats“ – zunächst noch unscharf – verbindet sich immer mehr mit der Entwicklung einer industriellen Arbeiterklasse.

Natürlich bleibt hier nicht der Raum, die verschiedenen Entwicklungsrichtungen und Varianten frühsozialistischen Denkens zwischen 1830 und 1848 zu kommentieren. Das Programm zum Sturz der Fürstenherrschaft – Herstellung der nationalen Einheit, freie Wahlen auf der Basis des allgemeinen Wahlrechts, Presse- und Meinungsfreiheit – wurde von frühsozialistischen Denkern und Politikern um eigene Forderungen ergänzt: auf der einen Seite die Forderung nach Koalitionsfreiheit (z. B. zur Bildung von Gewerkschaften), ein Vereinsrecht, das die Gründung von politischen Organisation legalisiert. In Großbritannien hat die Bildung eines industriellen Proletariats einerseits Reformbewegungen (wie die Gründung von Gewerkschaften und Genossenschaften) hervorgebracht; andererseits vertraten die Initiatoren solcher Bewegungen – wie z. B. Robert Owen – nicht nur karitative, sozial- und bildungspolitische Ideen, sondern propagierten auch eine „neue Gesellschaft“ auf der Basis der Aufhebung des Privateigentums (bis hin zur Gründung kommunistischer Gemeinden in den USA). In Frankreich wirkten verschiedene Tendenzen: Auf der einen Seite Philosophen wie Saint-Simon und Fourier, später Proudhon, die – im klassischen Sinne (im Anschluss an Thomas Morus) Utopien einer befreiten und gerechten Gesellschaft auf der Basis des Gemeineigentums entwarfen; der Saint-Simonismus propagierte die Idee des industriellen Produktivismus. Auf der anderen Seite gab es eine reformorientierte Strömung um Louis Blanc, die sich für konkrete soziale Reformen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (Werkstätten 1848) für die Arbeiter einsetzte.

Und schließlich der radikale Flügel der Revolutionäre, für den der Name Blanqui bzw. Blanquismus steht. Vor 1848 zumindest war diese Strömung noch durch die Kritik der alten Feudalgesellschaft und des Ancien Regimes geprägt – in den Statuten der Geheimgesellschaften ist immer vom „Volk“ die Rede, nicht vom industriellen Proletariat. Auch die ökonomische Analyse bleibt (z. B. bei Blanqui) fixiert auf das Geld, den Zins und den Wucher, von dem die Kapitalbildung, die Polarisierung zwischen arm und reich sowie die Ausbeutung der Arbeiter abgeleitet wird. Die klassische Politische Ökonomie seit Adam Smith, die die Frage nach den „Quellen des Reichtums“ mit der Frage nach der Spezifik der kapitalistischen Produktionsweise verband, also nach den immanenten Strukturen und Entwicklungstendenzen kapitalistischer Produktion und Akkumulation fragte, wurde erst seit den späten 1840er Jahren – ansatzweise im „Manifest“ von Marx und Engels, dann im „Kapital“ von Marx – ins Zentrum gerückt. Für die meisten Frühsozialisten galt die Formel von Proudhon: „Eigentum ist Diebstahl!“. Dazu kommt, dass für viele Frühsozialisten der Bezug zum christlichen Glauben, zum Evangelium der Freiheit und Gerechtigkeit bestimmend ist – wie es dann Wilhelm Weitling formulierte in seinem „Evangelium des Armen Sünders“ von 1843: „Kommet alle, die ihr arbeitet, die mühselig und beladen, arm, verachtet, verspottet und unterdrückt seid, wenn ihr Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen wollt.“ Die „Abschaffung des Eigentums, dieses für die Verwirklichung der Gemeinschaft der Arbeiter und der Güter unentbehrliche Mittel“, wird aus der Lehre Jesu abgeleitet. Solche Bezüge wirken sogar noch in den Worten des jungen Marx nach, der aus der Kritik der Religion den „kategorischen Imperativ“ ableitete, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1: 385).

3.

Die abschließende Bewertung des „Landboten“ im Kontext der Entwicklung des Frühsozialismus vor 1848 beschränkt sich auf einige Thesen:

(1) In der Radikalität der Sozial- und Staatskritik fügt sich der „Landbote“ ein in eine lange zurückreichende Tradition von revolutionären Pamphleten, die in den Bewegungen und Aufständen der Bauern, der städtischen Armen formuliert worden waren: Beim Aufstand der Ciompi in Florenz im 14. Jahrhundert, in den Reden von Thomas Müntzer in den Bauernkriegen Anfang des 16. Jahrhunderts, in der Staatskritik von Thomas Morus am Ende der „Utopia“ (1513)[14], in den Reden und Pamphleten von Gerrard Winstanley für die Levellers und Diggers in der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts und dann natürlich in den Manifesten von Marat, der Enragés um Jacques Roux, der Hebertisten und von Babeuf in der Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts.

(2) Der „Landbote“ kritisiert die herrschenden sozialen und politischen Verhältnisse, aber in der Analyse dieser Verhältnisse bleibt er an der Oberfläche. Die Belastung des Volkes durch die Steuern trifft gewiss zu, aber sie erklärt nicht die Produktionsverhältnisse und die Bedingungen der Reichtumsproduktion, die ja für die Frühsozialisten die Eigentumsfrage (auch die Enteignung des Großgrundbesitzes) beinhalteten – die Eigentumsfrage wird im „Landboten“ selbst nicht gestellt. Er bleibt also sehr stark den hessischen Verhältnissen der Zeit verbunden, die hinter der „Entwicklung der modernen Verhältnisse“ weit zurück lagen.

(3) Die Sozialkritik – und die daraus abgeleitete Kritik des Staates als Instrument der Ausbeutung der Mehrheit der Bevölkerung im Interesse einer kleinen Oberschicht – verleiht dem „Landboten“ seine Radikalität und ordnet ihn in die Tradition des Frühsozialismus ein, die freilich viele Vorläufer hat (siehe These 1). Die zentralen politischen Forderungen – „Volkssouveränität“, Freiheit, Einheit der deutschen Nation – sind nicht spezifisch frühsozialistisch; sie gehören zum Programm der radikalen Demokratiebewegung vor 1848.

4.

Zum Schluss ein Hinweis auf die Aktualität des „Landboten“: Wir leben in einer Zeit, in der an verschiedenen Orten dieser Welt Menschen auf die Straße gehen und dabei Losungen folgen, die gelegentlich an die Pamphlete und Losungen des Vor-März erinnern. Der französische Ex-Diplomat Stephane Hessel hat z. B. im Jahre 2010 mit seinem Manifest „Empört Euch!“ die Jugend zum Widerstand gegen Finanzmarktkapitalismus, Sozialabbau und soziale Unsicherheit aufgerufen und dabei an Traditionen der Résistance gegen den Faschismus erinnert! Schon im Jahre 2011 bezogen sich viele junge Menschen, die – nicht nur in Spanien als „Indignados“ – auf die Straße gingen, auf dieses Manifest. Der amerikanische Nobelpreisträger für Ökonomie, Joseph Stiglitz, hat in seinem jüngsten Buch „Der Preis der Ungleichheit“ (2012) sogar direkte Bezüge hergestellt. Er schreibt im Vorwort: „Es gibt Momente in der Geschichte, in denen sich anscheinend überall auf der Welt Menschen erheben, um zu sagen, dass etwas nicht in Ordnung ist, und um Veränderungen zu fordern.“ Dann nennt er die Jahre 1848 und 1968 – und vermutet, das Jahr 2011 könnte sich als ein „Datum von ähnlicher Tragweite“ erweisen. Der Ruf „Friede den Hütten – Krieg den Palästen!“ (einschließlich der Bankpaläste) ist also höchst aktuell! Diese These mag – zumal aus deutscher Sicht – überzogen scheinen. Dennoch lohnt es sich, gerade im Kontext der Beschäftigung mit dem Vor-März und dem „Landboten“, etwas genauer darüber nachzudenken!

[1] Der Text beruht auf einem Vortrag zu einer Tagung, die am 7. Juni 2013 in Marburg – aus Anlass des Erscheinens der von Burghard Dedner bearbeiteten und herausgegeben 2-bändigen Ausgabe des „Hessischen Landboten“ – stattfand. Die Zitate aus dem „Landboten“ im Text stammen aus dem 1. Band dieser Edition: Burghard Dedner (Hrsg.), Georg Büchner, Der Hessische Landbote, Marburger Ausgabe, Band 2/1, Darmstadt 2013, S. 3-14.

[2] Ich habe mich vor langer Zeit mit Blanqui befasst: Frank Deppe (Hrsg), Louis Auguste Blanqui, Instruktionen für den Aufstand, Frankfurt/Wien 1968; Frank Deppe, Verschwörung, Aufstand und Revolution. Louis Auguste Blanqui und das Problem der sozialen Revolution im 19. Jahrhundert, Frankfurt/Wien 1970. Demnächst wird allerdings eine Neuausgabe der „Instruktionen für den Aufstand“ im Laika-Verlag erscheinen.

[3] Walter Grab, Heinrich Heine als politischer Dichter, Frankfurt/Main 1992.

[4] Friedrich Ludwig Weidig (1791-1837) war evangelischer Theologe, Pfarrer in der hessischen Wetterau; er überarbeitete Büchners Text und gab ihn zum Druck. Die Bibelzitate dürften daher hauptsächlich auf ihn zurückgehen. Büchner soll darüber nicht erfreut gewesen sein. Weidig wurde 1834 und 1835 verhaftet; er starb 1837 im Darmstädter Gefängnis.

[5] Diese Geschichte bezieht sich auf eine damals in Deutschland verbreitete Sage, dass der Kaiser ursprünglich von den Fürsten gewählt wurde, dass aber mit der Verselbständigung der Fürstenherrschaft die Zersplitterung des Deutschen Reiches besiegelt worden sei. Die Einheitsbewegung des 19. Jahrhunderts bediente sich solcher Mythen!

[6] Zum Begriff der Volkssouveränität vgl. neuerdings: Ingeborg Maus, Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie, Berlin 2011.

[7] Zit. n. Deppe, Verschwörung…, a.a.O., S. 52.

[8] Eric Hobsbawm, The Age of Revolution, London 1962.

[9] Wenig später – seit Tocqueville und seinen Studien über die Demokratie in Amerika, praktisch: mit den Kämpfen um die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, die erste Teilerfolge erzielten – fürchteten die Liberalen eine „Diktatur der Mehrheit“, das bedeutete zumindest in Europa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts: Sozialismus! In den Revolutionen öffneten sich früh die Fronten zwischen den Anhängern der „Gleichheit“, die Eingriffe in die Eigentumsordnung (Enteignungen), Umverteilung des Reichtums von oben nach unten sowie Sozialgesetze und das Recht zur Bildung von Parteien und Gewerkschaften einforderten, und den Verteidigern der Freiheit, die solche Eingriffe als Kollektivismus zurückgewiesen, der als „totalitäre Gefahr“ die individuelle Freiheit bedrohe. Die Vertreter der liberalen Demokratie im 19. Jahrhundert verstanden sich daher nicht als „Demokraten“. Die Forderungen der Demokratie (allgemeines Wahlrecht, Koalitionsfreiheit, Sozialreformen) wurden von der sich entwickelnden sozialistischen Arbeiterbewegung vertreten, die allerdings gleichzeitig die „Eigentumsfrage“ stellte. Wolfgang Abendroth, der sich immer wieder auf die Schrift von Arthur Rosenberg „Demokratie und Sozialismus“ (1936) bezog, hat diese Spaltung zwischen Liberalismus und Demokratie auf die Entstehung des modernen industriellen Proletariats im Gefolge der „industriellen Revolution“ zurückgeführt, denn diese Klasse „musste nicht nur politische, sondern auch soziale und wirtschaftliche Privilegien jeder Art um ihrer Existenz willen bekämpfen“. Seitdem haben sich „die besitzenden Klassen von allen demokratischen Vorstellungen bewusst und deutlich getrennt. Der liberale Bürger des 19. Jahrhunderts hätte den Vorwurf, er sei demokratisch, entschieden zurückgewiesen. Schon im Jahrzehnt vor 1848 sind in allen europäischen Ländern liberale und demokratische Bewegungen stets Gegner gewesen.“ (Wolfgang Abendroth, Demokratie als Institution und Aufgabe, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 2, hrsgg. von Michael Buckmiller u.a., Hannover 2008, S. 407 – 417, hier S. 408).

[10] Hegel hatte in der Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes“ (1806) diese Grundstimmung, in einer Übergangsepoche zu leben, folgendermaßen zusammengefasst: „Es ist übrigens nicht schwer zu sehen, dass unsre Zeit eine Periode der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung. Zwar ist er nie in Ruhe, sondern immer in fortschreitender Bewegung begriffen. Aber wie beim Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Atemzug jene Allmählichkeit des nur vermehrenden Fortgangs abbricht – ein qualitativer Sprung, - und jetzt das Kind geboren ist, so reift der sich bildende Geist langsam und stille der neuen Gestalt entgegen, löst ein Teilchen des Baus seiner vorhergehenden Welt nach dem anderen auf, ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet; der Leichtsinn wie die Langeweile, die im Bestehenden einreißen, die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten sind Vorboten, dass etwas anderes im Anzuge ist. Dies allmähliche Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht verändert, wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt.“ Der „Blitz“, das ist die Revolution! Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), Hamburg 1952, Vorrede S. 15/16.

[11] Lorenz von Stein (1815-1890), der die Jahre 1841/42 zum Studium in Paris verbrachte, verfasste mehrere Schriften über die revolutionären Geheimgesellschaften in Frankreich: Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreich, 1842; Die sozialistischen und kommunistischen Bewegungen seit der dritten französischen Revolution, 1848; Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, 3 Bände; 1850.

[12] Vgl. Hobsbawm, a.a.O., S. 323/4.

[13] Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, Bd. 5, München 1976, S. 39. Nicht wenige der jungen 68er Revolutionäre – die roten Dannies und Joschis – mögen sich in diesem Bilde wieder erkennt haben. Sehr schnell verrieten sie freilich die Ideale ihrer Jugend und wurden – wie übrigens nicht wenige der radikalen Vormärz-Literaten – anerkannte Stützen der herrschenden Ordnung, die sie einst stürzen wollten.

[14] Thomas Morus rief zwar nicht zur Revolution auf, aber seine Staatskritik am Ende der Utopia ist von außergewöhnlicher Radikalität: „Wenn ich daher alle unsere Staaten, die heute irgendwo in Blüte stehen, im Geiste betrachte und darüber nachsinne, so stoße ich auf nichts anderes, so wahr mir Gott helfe, als auf eine Art Verschwörung der Reichen, die den Namen und Rechtstitel des Staates missbrauchen, um für ihren eigenen Vorteil zu sorgen. Sie sinnen und hecken sich alle möglichen Methoden und Kunstgriffe aus, zunächst um ihren Besitz, den sie mit verwerflichen Mitteln zusammengerafft haben, ohne Verlustgefahr festzuhalten, sodann um die Mühe und Arbeit der Armen so billig als möglich sich zu erkaufen und zu mißbrauchen.“ (Thomas Morus, Utopia, Stuttgart 2003, S. 144). Karl Kautsky oder Max Beer haben diese Vorläufer des Sozialismus bis in die Antike zurückverfolgt.