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Zum Tod von Reinhard Kühnl (1936 – 2014)

von Gudrun Hentges/Gerd Wiegel
Juni 2014

Die Beschäftigung mit dem historischen Faschismus und der wieder erstarkenden extremen Rechten war in den sechziger Jahren keine Selbstverständlichkeit in der Bundesrepublik. Reinhard Kühnl hat sich gleich zu Beginn seiner wissenschaftlichen Kariere diesen beiden Themen gewidmet, die zu einer Lebensaufgabe für ihn wurden. Zahlreiche Studierende kamen in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren nach Marburg, um bei Kühnl zu studieren und sich mit dem Faschismus und seinen Wiedergängern zu befassen. Als Politikwissenschaftler machte er sie mit historischen und gegenwärtigen Deutungsmodellen bekannt, die einem marxistischen Theoriebestand entstammten, der in der Bundesrepublik des Kalten Krieges unter einem starken Ideologieverdacht stand. Als Faschismusforscher erlangte Kühnl international Anerkennung und seine Bücher wurden in 14 Sprachen übersetzt. Seine frühe Schrift „Die nationalsozialistische Linke 1925- 1930“, mit der Kühnl 1965 bei Wolfgang Abendroth promovierte, ist bis heute grundlegend.

Formen bürgerlicher Herrschaft

Um den Faschismus historisch und als gegenwärtige Gefahr deuten zu können, war es für Kühnl wichtig, die spezifischen Voraussetzungen des Faschismus und seine Stellung im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft und der kapitalistischen Produktionsweise zu analysieren. Grundlegend hierfür wurde das erfolgreichste Buch Kühnls, „Formen bürgerlicher Herrschaft“ (1971). Gestützt auf ein marxistisches Verständnis von Herrschaft als Ausdruck von Klassenkämpfen ging es Kühnl hier um den Nachweis, dass auch der Faschismus eine Form bürgerlicher Herrschaft sei, wenngleich es sich um eine sehr spezifische und auf mannigfachen Voraussetzungen beruhende (Ausnahme-)Form von Herrschaft handelt. Allein die Verbindung von Liberalismus und Faschismus als unterschiedliche Formen bürgerlicher Herrschaft führte zu einer vehementen Ablehnung von Kühnls Ansatz durch konservative Kreise, die den Faschismusbegriff generell nur als ideologisches Kampfinstrument des Kommunismus zur Diskreditierung der bürgerlichen Gesellschaft begriffen. Die Relektüre seiner Texte zeigt aber gerade, dass es Kühnl unter marxistischen Vorzeichen um eine Erweiterung des erstarrten Faschismusverständnisses ging, wie es im Anschluss an Dimitroff in den realsozialistischen Staaten vorlag. Mit seinem bündnistheoretischen Ansatz der Faschismusdeutung ging es Kühnl zum einen um die objektiv herrschaftsstabilisierende Funktion des Faschismus in der Krise bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften nach dem Ersten Weltkrieg. Auf der anderen Seite wird der Faschismus von ihm jedoch gerade nicht als Marionette der herrschenden Klasse verharmlost, sonder seine eigenständige Rolle betont.

Der von Kühnl formulierte bündnistheoretische Ansatz der Faschismusdiskussion stützte sich auf vielfältige Vorarbeiten, die Kühnl mit seinen Büchern Faschismustheorien 1 und 2 (1974 und 1979) präsentierte. Hier werden marxistische und nichtmarxistische Stränge der Faschismustheorie ausführlich dargestellt und einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Zusammen mit dem voluminösen Dokumentanband „Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten“ (1975) hat Reinhard Kühnl somit entscheidend zur Verbreiterung der Faschismusdiskussion beigetragen

Die extreme Rechte in der Bundesrepublik

Mit der NPD beschäftigt sich ein anderes bis heute viel zitiertes Werk Kühnls, in dem er – zusammen mit Rainer Rilling und Christine Sager – den Aufstieg der NPD in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre untersucht (Die NPD. Struktur, Ideologie und Funktion einer neofaschistischen Partei, 1969). Für die frühe Phase der ältesten Partei der extremen Rechten in Deutschland ist die ca. 400 Seiten umfassende Studie bis heute grundlegend. Die eingehende Untersuchung rekonstruiert die Vorgeschichte, den Aufstieg und die organisatorische Struktur der NPD.

Reinhard Kühnls Verdienst besteht darin, dass er – auch unabhängig von konjunkturellen Schwankungen – die Entwicklungen in diesem politischen Kräftefeld aufmerksam verfolgte und in seinen Vorlesungen, Seminaren und Vorträgen – universitär und außeruniversitär – thematisierte.

Abschließend sei angemerkt, dass Reinhard Kühnl in einem beeindruckenden Maße über hochschuldidaktische Fähigkeiten verfügte: Die von ihm gehaltenen Vorlesungen (u.a. Entstehung und Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft) und seine Seminare zu Weimarer Republik, Konservativer Revolution, Faschismusforschung, Frauen im Faschismus etc. haben Generationen von Studentinnen und Studenten nachhaltig geprägt. Als brillanter Rhetoriker vermochte er es, Studierende für Geschichte und Politikwissenschaft zu begeistern. Hierbei verfolgte er das Prinzip, dass er nicht geschichtliche Entwicklung als Detailgeschichte lehrte, sondern nach den Kausalitäten fragte. Als Hochschullehrer regte er zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten an, die ohne seine Unterstützung und seine Ermutigung sicherlich nicht zustande gekommen wären.

Seit 2005 machte eine langwierige und schwere Krankheit jede weitere wissenschaftliche Arbeit Kühnls unmöglich.

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