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Eine Hochburg demokratischer Bewegungen/Alle Buchbesprechungen

von Jürgen Hofmann zu Walter Schmidt
September 2014

Eine Hochburg demokratischer Bewegungen

Walter Schmidt, Die schlesische Demokratie von 1848/49. Geschichte und Akteure, 2 Halbbände, trafo Verlag, Berlin 2012, 346 und 241 S., 39,80 und 29,80 EURO (Silesia. Schlesien im europäischen Bezugsfeld. Quellen und Forschungen, Bde. 13.1 u. 13.2)

Schlesien stellte im Revolutionsjahr 1848/49 von allen preußischen Provinzen die meisten demokratischen Abgeordneten für das Berliner Parlament. Das allein ist schon ein gewichtiger Grund, dieser für die Geschichte demokratischer Emanzipationsbewegungen bedeutsamen Provinz mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Bisher ist sie im Vergleich zur Rheinprovinz, zu Berlin und Wien eher vernachlässigt worden. Walter Schmidt, ausgewiesener Kenner der Revolution von 1848/49,1 hat eigene langjährige Forschungsarbeiten und die seines verstorbenen Kollegen Helmut Bleiber in einer beeindruckenden Gesamtdarstellung vereint. Im Zentrum stehen die demokratischen Vereine in Schlesien und ihre wichtigsten Akteure. In elf Kapiteln wird im ersten Halbband die Geschichte der schlesischen Demokratiebewegung von der ersten Vereinsgründungswelle ab März 1848 bis zum Nachhall der demokratischen Aktivitäten in der Zeit nach der Niederlage der Revolution detailliert und kenntnisreich nachgezeichnet. Dabei geht es beileibe nicht nur um Organisationsgeschichte. In eigenen Unterabschnitten bzw. eingebunden in die jeweiligen Ereigniskomplexe erhält der Leser Einblick in Diskussionen und Kontroversen zu nahezu allen wichtigen zeitgenössischen Debatten, so zur Frage des Wahlrechts, der Rolle des Vereinigten Landtages, der Märzerrungenschaften, der Polen- und Slawenfrage, der Steuerverweigerungskampagne, der Arbeiterfrage und der Reichsverfassungskampagne, um nur einige zu nennen. Besonderes Interesse dürfte auch der Abschnitt über Frauenvereine und die Diskussionen, welches Verhältnis „das Weib zu Demokratie“ haben und welchen Anteil es am öffentlichen Leben nehmen dürfe, beanspruchen. Er fällt wegen der dürftigen Quellenlage leider knapp aus. Einleitung und Resümee bieten dem Leser Orientierung in der Faktenfülle. Die stringente und informative Gliederung hilft ebenfalls, Zeitabschnitte, Ereignisse oder Einzelfragen schnell zu erschließen.

Bereits wenige Tage nach den Barrikadenkämpfen in Berlin gaben Repräsentanten der Vormärzopposition in Breslau den Anstoß zur Konstituierung eines Demokratischen Vereins, der später als Demokratischer Hauptverein eine Schlüsselrolle in der Demokratiebewegung der Provinz und darüber hinaus einnahm. Moritz Elsner, Eduard von Reichenbach und Julius Stein gehörten neben anderen zu den prägenden Persönlichkeiten. „Doch blieben die politischen Vertreter des Bildungsbürgertums nicht unter sich“, wie Schmidt anmerkt. Die soziale Basis war zugleich durch Kleinbürgertum, Handwerker, Gesellen, Arbeiter bestimmt, von denen „bald stärker werdende Bestrebungen politischer und sozialer Radikalisierung ausgingen“. (15) Der erste Provinzialkongress der schlesischen Demokratie im Juli 1848 vereinte bereits neben den Vertretern aus Breslau Delegierte bzw. Einzelpersonen aus weiteren 25 Orten. Bis zum zweiten Kongress im Oktober 1848 verdoppelte sich die Zahl der vertretenen Vereine. Bis in den Spätherbst 1848 hinein habe sich „die schlesische Demokratie fast über die ganze Provinz ausgebreitet“. (113)

Eng verwoben mit der demokratischen Bewegung entwickeln sich in der 1848er Revolution Organisationsbestrebungen der Arbeiterbewegung. Der Arbeiterverein wird innerhalb kurzer Zeit neben dem Demokratischen Hauptverein zur stärksten demokratischen Kraft in Breslau und mischte sich mit radikalen demokratischen Positionen in die Politik ein. Zugleich ging es um die Artikulierung ureigener ökonomischer Interessen. Der Zusammenhang zwischen politischen Freiheiten und sozialer Frage gehörte zu den heftig diskutierten und nicht selten auch umstrittenen Fragen. Dass von der demokratischen Studentenschaft die Einrichtung eines Lehrstuhls für Sozialismus an der Breslauer Universität gefordert und entsprechende Gesuche im August 1848 an das preußische Kultusministerium eingereicht wurden, dürfte weitgehend unbekannt sein. Dafür waren u. a. Arnold Ruge, Ludwig Feuerbach und Isidor Pinoff im Gespräch. Der Arzt und Redakteur Isidor Pinoff, der schon aus der Vormärzzeit als Sozialist bekannt war, hielt sogar auf Wunsch der Studenten eine Vorlesung über den „Sozialismus in seiner wissenschaftlichen Berechtigung“. Beim Kultusministerium stießen solche Vorstöße erwartungsgemäß auf wenig Gegenliebe. Waren doch schon die Vorlesungen des Botanikers Nees von Esenbeck über spekulative Philosophie mit Argwohn beobachtet worden.

Die auf eine Auswertung der Berichte der demokratischen Presse gestützte Rekonstruktion der Debatten um die soziale Frage gibt einen recht detaillierten Einblick in Basisdiskussionen, die in anderen Darstellungen zur Rezeptionsgeschichte sozialistischer Ideen keine oder nur andeutungsweise eine Rolle spielen. Während der allgemeine Arbeiterverein nach der Novemberkrise an Einfluss verlor, fanden die sozialistischen Bestrebungen im neugebildeten Sozialdemokratischen Arbeiterverein eine Organisationsbasis und mischten sich in die Wahlkämpfe des Frühjahr 1849 ein. Zu den wenigen Organisationen, die nach der Niederlage der Revolution 1850 für mehrere Monate den Faden demokratischer und sozialistischer Organisationsbestrebungen wieder aufnehmen konnten, gehört die Breslauer Arbeiterverbrüderung, deren Vertreter auch an der Leipziger Generalversammlung gestaltend beteiligt war. Bald wuchs die Breslauer Arbeiterverbrüderung auf 700 Mitglieder an. Ihr Verbot unterbrach diese Entwicklung. Erst in den späten 1860er Jahren konnten sich wieder selbständige Arbeiterorganisationen in Schlesien etablieren.

Erstmals wird der Entwicklung demokratischer Vereine und Initiativen und ihrer Rolle in den verschiedenen Etappen der Revolution in der gesamten Provinz nachgegangen. Es ist kaum möglich, das thematische Spektrum der quellengestützten Untersuchung in einer Besprechung angemessen wiederzugeben. Dem Leser wird ein bemerkenswerter Reichtum an Quellen und Belegen präsentiert, deren Erschließung allein größten Respekt abfordert. Die chronologisch-systematische Gliederung hilft, Entwicklungsphasen in ihren jeweiligen konkreten Zeitzusammenhängen zu erfassen. Dadurch werden auch die Diskussionen und Kontroversen genauer verortet. Die Differenzierung der schlesischen Demokratiebewegung und ihrer Akteure bleibt dennoch ein komplizierter, weil zugleich widersprüchlicher Prozess, zu dem die Untersuchung viel neues und belastbares Material vorlegt.

Hinter dem Zweiten Halbband verbergen sich ein biografisches Lexikon wichtiger Protagonisten der schlesischen Demokratiebewegung von 1848/49 sowie ein kommentiertes Verzeichnis von 26 demokratischen Zeitungen dieser Provinz. Es sind immerhin über 120 Personen, deren Lebenswege skizziert werden. Darunter etliche, deren biografische Daten aus Akten und anderen zeitgenössischen Quellen erstmals erschlossen werden. Außerdem erhält der Leser über ein Personen- und Ortsregister schnellen Zugriff auf ihn interessierende Passagen des Gesamtwerkes. Wer sich ein Bild von der Vielfalt der Demokratiebewegung in der Provinz Schlesien in der Revolution von 1848/49 machen möchte, sollte zu dieser Publikation greifen.

Jürgen Hofmann

1914: Der Weg in den Krieg

Stefan Bollinger, Weltbrand, „Urkatastrophe“ und linke Scheidewege. Fragen an den „Großen Krieg“, verlag am park in der edition ost, Berlin 2014, 220 S., 16,99 Euro

Vor mehr als fünfzig Jahren publizierte der Hamburger Historiker Fritz Fischer seine Studie „Griff nach der Weltmacht“, in der ihm der Nachweis gelang, dass die Hauptverantwortung für die Entfesselung des Ersten Weltkrieges den damals herrschenden Eliten in Berlin zuerkannt werden müsse. Die sich daran anschließende Kontroverse, die auch konservative Politiker wie Franz Josef Strauß zu wutentbrannten Opponenten Fischers werden ließ, zog sich bis weit in die siebziger Jahre hin. Ihr Ergebnis bestand in einer allgemeinen Akzeptanz der Fischerschen Thesen, die sukzessive auch Eingang in die meisten Schulbücher fanden.

Angesichts des 100. Jahrestages des Kriegsausbruchs erleben wir den offenbar erfolgreichen Versuch, die Zeit gleichsam zurückzudrehen. Mit Hilfe einer Flut von Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften sowie durch geschickt vermarktete Bestseller prominenter Autoren (u.a. Christopher Clark, Herfried Münkler), werden die Thesen der konservativen Gegner Fischers revitalisiert, die von einer besonderen Schuld des Deutschen Kaiserreichs an der Entfesselung des „Großen Krieges“ nichts wissen wollten: Man sei eben – nach einem Wort David Lloyd Georges – in den Krieg „hineingeschlittert“.

Umso erfreulicher ist es, dass angesichts dieser massiven Kampagnen, dem deutschen Imperialismus Absolution zu erteilen, aus der Feder von Stefan Bollinger ein Band vorliegt, der nicht nur die Geschehnisse im Juli/August 1914 rekonstruiert, sondern darüber hinaus der Frage nachgeht, wie sich die „Zusammenhänge von politischer wie ökonomischer Macht und Vorherrschaft“ (7) in den Jahren vor dem Beginn des Krieges darstellten.

Der Autor analysiert den Zusammenhang zwischen der neuen Entwicklungsstufe des Kapitalismus, dem sich um die Jahrhundertwende herausbildenden Imperialismus, und dem damit einher gehenden, wachsenden außenpolitischen Abenteurertum der damaligen Weltmächte. Er rekurriert dabei vor allem auf Lenins und Rosa Luxemburgs Imperialismusschriften, weniger auf Rudolf Hilferdings „Finanzkapital“, wobei er mit kritischen Anmerkungen nicht spart (55f.).

Olle Kamellen? Wohl nicht – angesichts mehrerer Generationen von Studierenden, die mit der einschlägigen geschichtswissenschaftlichen Literatur aus der DDR wie auch mit den einschlägigen Publikationen linker westdeutscher Autoren (u.a. Reinhard Opitz) nicht vertraut gemacht wurden.

Neben die Darstellung der ökonomischen Kriegsursachen – „Ohne ökonomische Interessen keine Kriegsursachenanalyse“ lautet eine überaus zutreffende Kapitelüberschrift (53) – tritt die knappe, aber präzise Darstellung der „Julikrise“ (93ff.). Daneben werden die Leserinnen und Leser ausführlich über die Inhalte diverser „Kriegszieldenkschriften“ informiert: Von der September-Denkschrift des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg bis zu den entsprechenden Niederschriften führender Industrieller, wie z.B. August Thyssen oder Walther Rathenau. (107ff., 114ff.). Dabei wird deutlich, dass an die Herstellung einer ökonomischen und politischen Hegemonie des Deutschen Reiches in „Mitteleuropa“, dessen Grenzen weit nach Osten und Südosten gezogen werden sollten, gedacht wurde. Auch die Konzepte des Alldeutschen Verbandes und anderer „nationaler“ Verbände aus der Vorkriegszeit, die Expansion bis an den Persischen Golf, ja bis an die Grenzen Ägyptens und Indiens voranzutreiben, standen zur Diskussion. Worum es ging, war die Frage, ob vornehmlich „indirekte“ Formen der Beherrschung (z.B. Zollunion, Wirtschaftsgemeinschaften) praktiziert werden sollten oder ob es um territoriale Angliederungen an das Deutsche Kaiserreich gehen solle, wobei an Teile von Belgien und Frankreich sowie von Polen gedacht wurde.

In einem zweiten Teil des Buches (131ff.) geht der Autor den Auseinandersetzungen innerhalb der Sozialdemokratie zu den Fragen von Krieg und Frieden seit Beginn des 20. Jahrhunderts nach. Mit zum Teil langen Zitaten kommen die Kontrahenten innerhalb der Partei zur Krieg-Frieden-Problematik und zur „Vaterlandsverteidigung“ zu Wort. Bollinger macht deutlich, dass die Entscheidung des 4. August 1914, als die SPD-Reichstagsfraktion zugunsten der Kriegskredite votierte, nicht vom Himmel fiel. Politiker wie Albert Südekum, Philipp Scheidemann und Friedrich Ebert konnten sich durchsetzen, weil seit fast zwei Jahrzehnten eine wachsende Zahl von Abgeordneten und Redakteuren in Wort und Schrift vorschlugen, der imperialistischen „Weltpolitik“ Konzessionen zu machen. Ihr Einfluss wuchs beständig. Trotz mancher Massenaktionen bei Gelegenheit der Marokko-Krisen und der Balkankriege, ungeachtet mancher Parteitagsdebatten, ist zu fragen: Waren Probleme der Außen- und Militärpolitik innerhalb der Partei zu sehr die Sache von Spezialisten und einer begrenzten Zahl von Funktionären? Rosa Luxemburg und Clara Zetkin hatten wiederholt Klage geführt, dass z.B. die Aktionen der SPD gegen die wilhelminische Flottenpolitik zu wenig Massencharakter getragen hätten.

Wer sich über die Haltung der SPD zur Entfesselung des Ersten Weltkrieges, das Einschwenken einzelner Repräsentanten der „Vaterlandsverteidiger“ auf dezidiert rechte politische Positionen, aber vor allem auch über die Auseinandersetzungen der von den Kriegsbefürwortern dominierten Parteiführung mit den linken Kritikern um Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Clara Zetkin und Franz Mehring eingehend informieren möchte, wird nirgendwo sonst auf relativ knappem Raum eine zuverlässigere Darstellung finden.

Insgesamt hat der Autor mit seinen „Fragen an den Großen Krieg“ einen überaus gelungenen Band publiziert, dessen Lektüre eine Brise frischer Luft gegen den Mief der Clark, Münkler und Co. verbreitet.

Reiner Zilkenat

Welcher Kapitalismus? Was für eine Krise?

Wolfgang Krumbein, Julian Fricke, Fritz Hellmer, Hauke Oelschlägel, Finanzmarktkapitalismus? Zur Kritik einer gängigen Kriseninterpretation und Zeitdiagnose, Metropolis-Verlag, Marburg 2014, 160 Seiten, 18 EUR

Rückblick: Nach der Weltwirtschaftskrise von 1974/1975 entfalteten sich, ausgehend von den entwickelten Ländern, eine Reihe von Merkmalen des Kapitalismus, die in dieser Art und Kombination neu waren. Mit der mikroelektronisch-digitalen Revolution beginnt sich eine neue gesellschaftliche Betriebsweise herauszubilden. Sie krempelt nach dem Abschluss der Rekonstruktionsperiode im Gefolge des Zweiten Weltkrieges den gesamten Reproduktionsprozess und damit die Wirtschafts- und Sozialstrukturstruktur entwickelter Gesellschaften um. Diese Entwicklung ist mit einer Globalisierung verbunden, die sich hinsichtlich ihrer Qualität und Intensität von historisch früheren Globalisierungsschüben unterscheidet. In diesem Strukturumbruch wurde mit der Bedeutungsminderung des national orientierten, alt-industriellen Rückgrades der Gewerkschaften auch das bisherige Konsensmodell zwischen Arbeit und Kapital geschreddert und um 1980 setzten sich konservative Orientierungen staatlichen Handelns durch: Reaganomics, Thatcherismus, Kohls Wendepolitik und schließlich auch sozialdemokratische Varianten dieser neoliberalen Politik. Nach jahrzehntelangen Steigerungen der Lohnquote begann diese zu sinken; die Mehrwertrate erhöhte sich wieder. Die Einkommens- und Vermögensverteilung verschob sich erneut massiv zugunsten des Kapitals und die lange Zeit fallende Profitrate stabilisierte sich ab Mitte der 1980er Jahre. Dies ermöglichte im Verbund mit der Liberalisierung der Währungs- und Kapitalmärkte, die nach dem Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods durchgezogen wurde, jene neuen Formen und Umfänge der Kapitalmobilisierung, die angesichts des Strukturumbruchs im Interesse international agierender Konzerne lagen. Daneben traten in den rasch expandierenden Finanzmärkten neue Finanzintermediäre machtvoll auf den Plan und bewegten und verwerteten gigantisch angewachsene Geldvermögen – die ein Gegenstück in steigenden privaten und öffentlichen Schulden haben – rund um den Erdball. All dies hat einen gesellschaftlichen Preis: Scheinbar längst überwunden geglaubte prekäre Arbeits- und Sozialverhältnisse werden erneut zu Alltagserscheinungen in den entwickelten Ländern. Die Verschiebungen, die sich in der internationalen Arbeitsteilung und den globalen Kräfteverhältnissen vollziehen, führen zu gefährlichen internationalen Ungleichgewichten. Bislang regional begrenzte Umweltprobleme eskalieren in globalen Dimensionen. Die mit der Kapitalakkumulation einhergehende Akkumulation von Widersprüchen im Reproduktionsprozess kulminierte in schweren zyklischen und Finanzkrisen und zuletzt in einer Weltwirtschaftskrise von einer lang nicht mehr erlebten Schwere. Aber trotz der enormen sozialen Kosten des Umbruchs, die vor allem subalterne Klassen und Schichten zu tragen haben, scheint die Hegemonie konservativer Kräfte und Orientierungen zurzeit ungebrochen. Aber auch sie kommen nicht umhin, neue politische Instrumente zu entwickeln, mit denen sie glauben, vor allem das internationale Finanzsystem, aber auch das Wirtschafts- und Gesellschaftssystems insgesamt gegen erneute Kriseneinbrüche immunisieren zu können.

Auch wer davon ausgeht, dass das heute dominierende Gesellschaftssystem nach wie vor ein kapitalistisches System mit seinen alten Konstanten ist, kann nicht davor die Augen verschließen, dass es sich bei den beschrieben Prozessen und Merkmalen um gravierende Veränderungen handelt, die danach schreien, auf den Begriff gebracht zu werden. Lange Zeit stand die regulationstheoretisch inspirierte Bezeichnung des Postfordismus im Mittelpunkt linker Diskurse. Aber dieses Wort ist inhaltsleer. Zwar wird damit konstatiert, dass sich etwas grundlegend verändert hat, aber nichts über den Inhalt des Umbruchs ausgesagt. Da sich diese Veränderungen nur allmählich entfalten und ein historisches Gesamtbild ergeben, ist es nicht verwunderlich, dass sie sich erst retrospektiv in einer Kategorie fassen lassen. Inzwischen werden für konkrete analytische Zwecke bestimmte Einzelmerkmale begrifflich hervorgehoben: Dienstleistungsgesellschaft, High-Tech-Kapitalismus, neoliberaler Kapitalismus, autoritärer Kapitalismus und so weiter. Noch bis weit in die 1990er Jahre wurden im linken Spektrum zwar auch einzelne Aspekte der wachsenden Bedeutung der Finanzmärkte diskutiert, aber erst gegen Ende jenes Jahrzehnts wurde eine „Herrschaft der Finanzmärkte“, besser gesagt, der Finanzkonzerne (Jörg Huffschmid) beziehungsweise ein „Akkumulationsregime des Vermögensbesitzes“ (Michel Aglietta) thematisiert. Der Soziologe Paul Windolf prägte dann 2005 den Begriff des „Finanzmarktkapitalismus“, der vor allem mit der Finanzmarktkrise, die in die Weltwirtschaftskrise eingebettet war, seinen Siegeszug nicht nur im linken Debattenspektrum antrat.

Krumbein, Fricke, Hellmer und Oelschlägel (KFHO), Hochschullehrer und Studenten des Instituts für Regionalforschung an der Universität Göttingen, hinterfragen und kritisieren diese weit verbreitete Apostrophierung des heutigen Kapitalismus, und dies umso mehr, wenn damit eine besondere Formation oder ein Akkumulationsregime des Kapitalismus bezeichnet werden soll. Sie widersprechen auch der Diagnose, dass die Finanzmärkte unmäßig aufgebläht seien, dass sie weitgehend von den „Realmärkten“ abgekoppelt seien, diese dominierten und dass dies ursächlich für die jüngste Weltwirtschaftskrise sei (12f).

Nach einem einführenden Kapitel untersuchen KFHO die Entwicklung der Aktien- und Derivatemärkte sowie der Finanzvermögen, um ihre These zu belegen, dass die Finanzmärkte zwar gewachsen seien, aber weder von einer „unmäßigen Aufblähung“, noch von einer Entkopplung von den „Realmärkten“, noch von ihrer Dominanz gegenüber letzteren gesprochen werden könne. Im Einzelnen wollen sie anhand historischer Charts von Aktienkursen zeigen, dass es schon früher heftige Kursausschläge gegeben habe, dass diese Erscheinung heute nicht für alle Länder gleichermaßen zutreffe und dass die starke Steigerung der Kurse inzwischen eher einer Seitwärtsbewegung gewichen sei. Die Aktienmarktkapitalisierung sei im Vergleich zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in den letzten Jahren wieder zurückgegangen. Obwohl sie nicht umhin kommen, ein „enormes Wachstum“ des Spekulationskapitals und der weltweiten Geldvermögen zu konstatieren (63), stellen sie an anderer Stelle fest, „der Anstieg verläuft kontinuierlich, ohne größere oder gar exponentielle Beschleunigungen“. Deshalb dürfe angezweifelt werden, dass dies ein „besonders starkes Größenwachstum“ sei. (59). Die konkret untersuchte Periode beginnt freilich erst mit den 1990er Jahren oder gar erst um 2000, als die erste große Welle des Wachstums der Finanzvermögen bereits abgeschlossen war, so dass der enorme Aufwuchs seit etwa 1985 im Vergleich zu den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten ausgeblendet bleibt. Die von den Autoren verwendete Definition einer Aufblähung als einer „nicht von gravierenden Kursrückschlägen unterbrochene(n) annähernd exponentiellen Beschleunigung eines Kursanstieges“ (21) erscheint fragwürdig, weil kein ökonomischer, sondern ein mathematischer Bezugspunkt der Aufblähung gewählt wird. Es ist eigentlich nicht zu übersehen, dass Finanzblasen (also Aufblähungen am Finanzmarkt) gehäuft und in großen Umfang entstehen. Auch die jeweils isolierte Analyse der Graphen der Aktienmärkte, der Derivatemärkte und des Geldvermögens führt beim Rezensenten zu dem Eindruck, dass hier vor lauter Bäumen der Wald nicht gesehen wird und – selbst wenn man, wie KFHO, bei einer rein quantitativen Analyse bleibt – gewichtige Merkmale des gestiegenen Gewichts der Finanzvermögen in der Analyse unbeachtet bleiben. Werden allein die letzten zwanzig Jahre verglichen, so hat sich das Bruttovermögen des Finanzsektors in Deutschland um 251% erhöht. Die entsprechenden Zahlen für den nichtfinanziellen Sektor, die privaten Haushalte und die Volkswirtschaft insgesamt lauten 117, 137 und 160 Prozent. Mit einem kaum 4 Prozent hohen Anteil am volkswirtschaftlichen Nettovermögen verfügt der Finanzsektor über inzwischen 66 Prozent aller Bruttovermögen – Macht über fremdes Kapital. Aber ihre Zurückweisung der Dominanzthese machen die Autoren nur daran fest, dass sie keine ununterbrochene, exponentielle Entwicklung des Finanzsektors glauben erkennen zu können. Solche Phänomene wie die Shareholder-Value-Orientierung oder des Too-big-to-fail bestimmter Finanzinstitute werden nicht thematisiert. Eine Untersuchung der Eigentums-, Beteiligungs- und Verfügungsstrukturen des Kapitals legen sie nicht vor.

Kritisch setzen sich KFHO auch mit der These von der Entkopplung der Finanzmärkte vom Realbereich auseinander. Natürlich kann es keine völlig losgelöste Entwicklung der Finanzmärkte und der hier gehandelten Geldvermögen von der Produktion und vom fungierenden Kapital geben. Irgendwann muss jedes Kapital in seinem Kreislauf auch die Geldform annehmen und letztlich müssen Erträge, die auf Finanzmärkten generiert werden, im „Realbereich“, mittels der Verwertung produktiven Kapitals, geschaffen werden. Aber was bedeutet dieses „letztlich“? Geldkapital entsteht auch über den Geldschöpfungsprozess der Finanzintermediäre und einzelne Geldkapitale können sich über lange Zeit auch ohne direkte Verbindung zum produktiven Bereich verwerten. Es läuft auch Geld um, so Marx, „das der Zirkulation längst entzogene Waren repräsentiert“.[1] Beim fiktiven Kapital ist der Zusammenhang zum produktiven Kapital sehr weitgehend gelockert. Anlegern, die im Rahmen eines Ponzi-Spiels ihr Schäfchen rechtzeitig ins Trockene gebracht haben, ist es egal, dass es letztlich, also langfristig und gesamtwirtschaftlich keine Verwertung ohne Produktion geben kann; sie reißen trotzdem Teile des gesellschaftlichen Einkommens und Reichtums an sich. In der Tat – hier haben KFHO natürlich Recht – ist das keineswegs neu und wurde in seiner Essenz schon im 19. Jahrhundert beschrieben. Neu sind jedoch die Formen, das Ausmaß und die Wucht der Wirkungen, in der sich diese zeitweilige und relative Entkopplung in den letzten Jahrzehnten vollzog, als sich im Unterschied zum Nachkriegszeitraum schwere Finanzkrisen häuften. Die Finanzblasen, die sich in Wertpapierkursen, deren komplette Realisierung illusorisch ist, sowie in der hohen privaten und öffentlichen Verschuldung als Gegenstück der gewachsenen Vermögen zeigen, haben historisch vergleichsweise große Dimensionen erlangt, und ihr Platzen zeigt erstens, dass eine Entkopplung vorgelegen hat und zweitens, dass eine solche Entkopplung eben nur zeitweilig und partiell sein kann und sich in Finanzkrisen äußern muss, bevor sich eine Blase erneut aufbauen kann.

KFHO kritisieren freilich einen Begriff der Entkopplung, der offensichtlich anders gemeint ist, nämlich im Sinne von zwei nebeneinander existierenden Bereichen, die nichts miteinander zu tun haben und in sich „selbstreferenziell“ existieren können (12, 65). Die Kritik eines solchen Begriffs der Entkopplung, der an die Dichotomie der neoklassischen Ökonomie erinnert, ist völlig berechtigt.[2] Anhand exemplarischer Merkmale der „Finanzialisierung“ (einen Begriff, den KFHO akzeptieren) wird im Kapitel 6 gezeigt, wie sich die Verflechtung zwischen finanziellen und nicht-finanziellen Bereichen vollzieht.

Im 3. Kapitel fragen sie nach den Ursachen der Krise 2007/2009 und kommen zu dem Ergebnis, dass der Finanzbereich hier zwar eine wichtige Rolle gespielt, aber keineswegs ausschlaggebend gewesen sei. „Die Krise begann im Realsektor, was eine ebenfalls im Zeitverlauf zu konstatierende Verschärfung der Krise durch die Finanzkalamitäten nicht ausschließt“ (73). Aber wie der konkrete Krisenverlauf 2007/09 zeige, sei die Krisenentwicklung keineswegs finanzmarktdominiert gewesen (74). Es habe ein „Krisenwanderung“ (70) gegeben: vom Realbereich zur Finanzsphäre und dann zum Staatssektor. Damit würden sie die These von einer finanzmarktdominierten Akkumulation keineswegs „schlicht umkehren und nun den Realbereich für generell strukturdominant erklären“. Vielmehr sei der Kapitalismus ein Real- und Finanzsystem umfassendes System, dem Hierarchisierungen dieser Sphären theoretisch nicht gerecht würden (74). Hierzu sei freilich angemerkt, dass Krisen sowohl vom Finanzbereich, wie vom sogenannten Realbereich ausgehen können; dazu muss ein Sektor gar nicht über den anderen dominieren. So unterschied schon Marx Geldkrisen als „besondere Phase jeder allgemeinen Produktions- und Handelskrise“ (d.h. einer zyklische Krise, die immer eine Geldkrise einschließt) von jener speziellen Sorte Geldkrise, „die selbständig auftreten kann “ und deren Sphäre „daher Bank, Börse und Finanz“ ist und die „auf Industrie und Handel nur rückschlagend wirkt“.[3] Die besondere Schwere der Krise 2007/2009 erklärt sich wohl daraus, dass beide Momente zeitgleich wirksam wurden und sich wechselseitig verstärkten.

KFHO warnen davor, die Möglichkeiten politischer Steuerungseingriffe, der „Auffangmechanismen“ (77) zur Eindämmung der Krisen zu unterschätzen. Gegenwärtig würden durch den Zentralbankkredit (Rettungsschirme, Neudefinition der Zentralbankpolitiken in Form der Liquiditätssicherung öffentlicher Haushalte und privater Banken) diese Mechanismen erheblich erweitert. Die Relevanz dieser Entwicklung würde von den Linken gar nicht erfasst, zumindest würden ihre Risiken über-, ihre Chancen jedoch unterbewertet (79). Dies leitet zum Kapitel 4 über, in dem die Autoren nach der langfristigen Rolle dieser Krise fragen. Handelt es sich um eine „Große Krise“, die zu „akkumulationsrelevanten Neuordnungen“ in Ökonomie und Politik (88) führt? KFHO sind sich da keineswegs sicher. Sie sehen unterschiedliche Szenarien der weiteren Entwicklung: Revitalisierung, relative Stabilisierung, Krisenperpetuierung und Halbbarbarei (99-102). Vehement treten sie dafür ein, Revitalisierungs- und Stabilisierungsmöglichkeiten nicht zu unterschätzen. „Bei einer derartigen Verengung des analytischen Horizonts drohen linke ökonomische Untersuchungen incl. der daraus abgeleiteten politischen Strategien von „unvorhergesehenen“ Entwicklungen des Kapitalismus überrollt und blamiert zu werden“ (102).

Da die Autoren die These von einer finanzgetriebenen Akkumulation oder einer Dominanz des Finanzsektors ablehnen, Thesen, mit dem der Begriff des Finanzmarktkapitalismus eng verbunden ist, scheint es nur logisch, wenn sie diese Kennzeichnung des heutigen Kapitalismus verwerfen (Kapitel 5). Mehr noch: Wie schon in einer früheren Arbeit Krumbeins[4] halten sie es generell für unmöglich, den Kapitalismus in Perioden einzuteilen. Seine strukturellen und zeitlichen Entwicklungen seien dafür zu vielfältig und ausdifferenziert (109). Das Verdikt trifft alle diesbezüglichen Versuche, von der Theorie des Imperialismus und ihren Erweiterungen über die Regulationstheorie bis zu Wolfgang F. Haugs High-Tech-Kapitalismus und eben die Finanzmarkt-These. In der Tat lohnt es sich, angesichts der verschiedenen Kennzeichnungen über diesen Aspekt der Kapitalismustheorien erneut nachzudenken und die jeweils verwendeten Kriterien der Periodisierung kritisch zu hinterfragen. Die komplette Zurückweisung einer begrifflichen Charakterisierung verschiedener Kapitalismen wird diesem Anliegen jedoch kaum gerecht. Es ist ja wohl unbestreitbar, dass es zum Beispiel einen Manufakturkapitalismus gegeben hat, der vom Industriekapitalismus „abgelöst“ wurde. Dass die verschiedenen Phasen und Varianten gesellschaftlicher Entwicklung sich erst in einem längeren, widerspruchsvollen historischen Prozess – dem berühmten Zick-Zack der Geschichte – allmählich herausbilden und überlappen, sich also zeitlich nicht strikt voneinander trennen lassen, ist eher eine Selbstverständlichkeit als ein theoretisches Manko. Und ihre Existenz zu verwerfen, weil sie keine Entsprechung in der Entwicklung von Wertpapierkursen hätten, scheint doch recht kurzschlüssig. Übrigens schließt die Charakterisierung „Finanzmarktkapitalismus“ andere Charakterisierungen ja keineswegs aus.

Zusammenfassend sei konstatiert, dass es erfreulich ist, wenn – wie in dieser Arbeit – von Zeit zu Zeit innegehalten wird und allzu gängige Theorien kritisch und empirisch hinterfragt sowie Begriffe und Diagnosen auf Realitätsgehalt und Tragfähigkeit abgeklopft werden. Es ist auch zu begrüßen, wenn von linken Wirtschaftswissenschaftlern eine stärkere empirische Fundierung und Differenziertheit ihrer Analysen eingefordert wird und wenn KFHO zeigen, dass nicht alle wirtschaftlichen Erscheinungen, die heutigen, wirtschafts- und theoriehistorisch vielleicht weniger beschlagenen Zeitgenossen neu erscheinen, wirklich neu sind. Und es ist auch positiv zu vermerken, dass KFHO die Linken davor warnen, die Anpassungsfähigkeit des gegenwärtigen Kapitalismus zu unterschätzen. Dieser positiven Einschätzung tut es keinen Abbruch, dass – wie es dem Rezensenten scheint – einige Fakten nicht ausreichend zur Kenntnis genommen werden und bei mancher Kritik das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird.

Jürgen Leibiger

Landnahme-Theorem

Maria Backhouse, Olaf Gerlach, Stefan Kalmring, Andreas Nowak (Hrsg.), Die globale Einhegung – Krise, ursprüngliche Akkumulation und Landnahme im Kapitalismus, Westfälisches Dampfboot, Münster 2013, 340 S., 29,90 Euro

Der dem 2013 verstorbenen Sozialökonomen Thomas Hurtienne gewidmete Sammelband enthält Beiträge von 15 Autoren, die sich um vier Themenblöcke gliedern: Einem ersten Abschnitt, der sich bemüht, die Theorie der Landnahme in den Kontext des Marxschen Werkes (vor allem der „ursprünglichen Akkumulation“) zu bringen, folgt ein zweiter Teil, in dem versucht, wird das Landnahmetheorem für die Krisentheorie fruchtbar zu machen. Positiv ist anzumerken, dass auch die Schwächen dieses Ansatzes diskutiert werden, sich also Argumente sowohl für als auch gegen dessen Tauglichkeit finden. Der dritte Teil befasst sich mit der ökologischen Seite der gegenwärtigen Krise, u.a. mit der Frage, ob eine verstärkte Inwertsetzung der Natur ein (kapitalistischer) Ausweg sein könnte. Der letzte Teil, der explizit Arbeiten von Thomas Hurtienne behandelt, fällt etwas aus dem Rahmen der zentralen Fragestellung, hat aber seinen eigenen Wert.

Es ist im Rahmen einer Rezension nicht möglich, jeden der Beiträge gesondert zu behandeln. Eine kurze Inhaltsangabe findet sich im Vorwort. Daher soll im Folgenden versucht werden, eine – sicher parteiische – Interpretation und Kritik von Kernaussagen zu liefern, die sicherlich nicht allen Autoren gerecht werden kann. Als Ausgangspunkt dient die (wohl von allen akzeptierte) Feststellung, dass es sich bei der 2008 offen ausgebrochenen Krise um eine „Große Krise“ handelt, die sowohl das Moment der Restrukturierung als auch der Transformation der Produktionsweise beinhaltet. Konsens ist dabei weitgehend, dass beide Elemente von sozialen Kämpfen geprägt werden, deren Ausgang immer offen ist – man fragt sich in diesem Kontext, wer den von Kalmring inkriminierten „Traditionsmarxismus“ (78) vertritt, der angeblich etwas anderes behauptet.

Im Nachhinein ist es immer wieder gelungen, den Inhalt der Restrukturierungen nach den Großen Krisen der Vergangenheit (insbesondere 1929/33 und 1973/75) zu bestimmen: Der Fordismus/Keynesianismus einerseits und der Neoliberalismus/Finanzmarktkapitalismus andererseits werden gemeinhin als Hauptzüge der Restrukturierungen der Produktionsweise im 20. Jahrhundert definiert. Merkwürdigerweise finden sich kaum Autoren, die das in den Großen Krisen ja auch immer enthaltene Moment der Transformation der Produktionsweise historisch behandeln: Entstehung und Entwicklung des sozialistischen Lagers waren ebenso wie dessen Zerfall schließlich auch (indirekte) Folgen der Großen Krisen.

Das aber nur nebenbei: Die im Sammelband diskutierte zentrale Frage ist, wie eine Neustrukturierung und/oder Transformation der kapitalistischen Produktionsweise heute aussehen könnte, wie die Prozesse theoretisch zu fassen sind und in welcher Weise ein Rückgriff auf ‚Klassiker’ wie Marx und Luxemburg Beiträge zur Beantwortung dieser Frage leisten kann. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen steht das sich auf Rosa Luxemburg und David Harvey beziehende Landnahmetheorem: Rosa Luxemburg zufolge benötigt der Kapitalismus nicht-kapitalistische ökonomische Sphären, um die Tendenz zu Überproduktion/Überakkumulation in den kapitalistischen Zentren zu überwinden – in dem Sinne wäre also mit der Durchkapitalisierung der Welt das Ende der Fahnenstange erreicht. Harvey, und in seinem Gefolge Klaus Dörre, versuchen nun, diesen bei Luxemburg (und später bei Burkhart Lutz) endlichen Prozess zum ewigen Jungbrunnen des Kapitalismus umzudeklarieren. Dörre unterscheidet zu diesem Zweck „zwischen Landnahmen erster und zweiter Ordnung“: Während die der ersten Ordnung von Marx (ursprüngliche Akkumulation) und Luxemburg beschrieben wurden, ist die Landnahme „zweiter Ordnung“ im Kern eine mit Krisen verbundene Veränderung der sozialen Verhältnisse: Zersetzung von Lohnabhängigenmacht, Sozialabbau usw. werden von Dörre dazu gezählt (131/132). Dagegen wendet z.B. Bernd Röttger mit Recht ein, dass die Landnahmethese in dieser Form nur einen allgemeinen kapitalistischen Mechanismus beschreibt, in dem selbst errichtete Schranken immer wieder überwunden werden, dass aber „historisch-spezifische Formen, in denen kapitalistische Krisenbewältigung möglich wird, in der zur allgemeinen Theorie kapitalistischer Entwicklung erhobenen Landnahme unkenntlich und eher camoufliert werden.“ (147) Ich würde – zugespitzt – hinzufügen, dass das Landnahmetheorem in der allgemeinen Form, in der es von Dörre (und auch von Harvey) formuliert wird, überflüssig ist, weil im Begriff des Kapitals als schrankenloser Bewegung von Werten bereits aufgehoben. Es ist nicht falsch, bringt aber gegenüber der Beschreibung der allgemeinen Tendenzen der kapitalistischen Akkumulation nichts Neues.

Begrifflich spielen bei der Beantwortung der oben skizzierten Ausgangsfrage, nämlich wie die Restrukturierung bzw. Transformation des Kapitalismus nach der Großen Krise von heute denn aussehen könnten, zwei Aspekte eine wichtige Rolle: Die eine ist die Frage nach der Rolle der außerökonomischen Gewalt. Kößler behandelt die Rolle der politischen Gewalt bei Marx. Diese spiele in der Marxschen Analyse wesentlich nur am Anfang (ursprüngliche Akkumulation) und am Ende (Expropriation der Expropriateure) des Kapitalismus eine Rolle, zwischendurch überwiege der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“. (25). Das sei aber „bestenfalls in der Modellannahme“ gültig; tatsächlich sei die politische Gewalt im Kapitalismus omnipräsent. Kößler meint daher, dass die von Marx im Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation geschilderten gewaltförmigen Prozesse im Grunde eine mehr oder weniger akzentuierte Dauererscheinung des Kapitalismus seien. Das ist eine anregende Debatte – wobei ich hier auf einen weiteren Aspekt aufmerksam machen möchte, der im Zuge des ‚Aufstiegs des Südens’, d.h. der Entstehung neuer, kapitalistisch verfasster Wirtschaftsmächte wie China, auftaucht: Gehört nicht die politische Ebene in Wirklichkeit zum Kernbestand der kapitalistischen Produktionsweise, wie sie sich in einigen Schwellenländern herausbildet? Ist die Trennung von Ökonomie und Politik nicht nur ein Merkmal der europäischen Variante – es sei daran erinnert, dass Marx in den Briefentwürfen an Vera Sassulitsch über die russische Bauerngemeinde hervorgehoben hat, dass der von ihm beschriebene Prozess der ursprünglichen Akkumulation als Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln lediglich den europäischen Weg beschreibt. Der zweite Aspekt betrifft die Fähigkeit des Kapitalismus, sich „aus sich selbst heraus“ zu reproduzieren (Dörre, 113), wobei dies in den meisten Beiträgen nicht als allgemeine Frage, sondern bezogen auf die konkret-historische Krise von heute diskutiert wird. Denn wenn man die kapitalistische Produktionsweise als historisch beschränkt ansieht und unterstellt, dass sie an ihr Ende kommen wird, dann taucht das Problem von Restrukturierung und Transformation in immer anderen historischen Formen auf: Angesichts zunehmender ökologisch bedingter Entwicklungsschranken stellt sich heute die Frage, ob – einerseits – der Kapitalismus an diesen Schranken zugrunde gehen muss oder ob – andererseits – die Inwertsetzung der Natur nicht sogar eine Grundlage der Restrukturierung im Sinne eines ‚green new deal’ sein kann. Altvater vertritt die These, dass heute Grenzen der Ressourcennutzung erreicht seien, dass „der Wachstumsprozess also nicht nur zyklisch, sondern auch kumulativ“ verläuft. Dass „auf endlicher Erde irgendwann die Ressourcen geplündert, die Schadstoffsenken überlastet und Umschlagspunkte (…) erreicht sind, an denen es nicht weiter geht“ (229), ist kaum zu bestreiten. Unklar ist allerdings sowohl, ob dieses „irgendwann“ heute absehbar ist bzw. ob es dies als konkreten historischen Zeitpunkt überhaupt gibt. Das räumt Altvater ein: „Findige Menschen können an den Grenzen des Wachstums die Grenzen wachsen lassen.“ (235) Die ökologischen Grenzen können in der Zeit hinausgeschoben werden, und die Konkurrenz kann diesen Prozess zu einem Wettbewerbsvorteil machen – Altvater zufolge der Kern der Hoffnung auf einen „green new deal“. Diese Grenzverschiebungen sind aber mit großen Risiken verbunden, Risiken, die die Menschheit nicht eingehen darf. Er stellt gegen diese durch den Wettbewerb angetriebenen systematischen Grenzverschiebungen die Forderung nach einem moralischen Konsens: „Grenzen können nur einvernehmlich festgelegt werden …, wenn also eine moralische Ökonomie die kapitalistische Ökonomie der grenzenlosen Akkumulation ablöst.“ (240) Dies wirft implizit die Frage nach der Steuerungsfähigkeit der Ökonomie auf, d.h. die Frage, wie die von Altvater abgeleiteten moralischen Postulate einer an Gebrauchswerten orientierten Ökonomie umgesetzt werden können. Hier nimmt der Beitrag von Bischoff/Lieber eine klare Position ein: Nur eine kritische Wiederaufnahme der von Keynes als Antwort auf die große Krise von 1929/33 entwickelten Vorschläge für „einen Übergang in eine postkapitalistische Gesellschaftsformation“ (174) könne weiterführen.

Der Band diskutiert eine Fülle von Antworten auf die Frage der Neustrukturierung/Transformation des Kapitalismus nach der Großen Krise von heute. Er kann als eine Art ‚state of the art’ von am Marxismus orientierten Positionen dazu gelesen werden: Dass diese insgesamt widersprüchlich und unzureichend ausfällt, ist nicht den Autoren anzulasten, sondern Ausdruck der Tatsache, dass die Frage heute offensichtlich noch nicht beantwortet werden kann. Allerdings weist der Sammelband doch eine große Leerstelle auf: Obwohl Thomas Hurtienne sich immer intensiv mit Frage der ‘Dritten Welt’ befasst hatte, wird deren aktuelle wirtschaftliche Entwicklung theoretisch in keinem der Beiträge auch nur thematisiert. Dass die Großen Krisen der Vergangenheit immer auch Große Krisen der Entwicklungsländer gewesen sind, dies aber nicht für die aktuelle Krise gilt, ist keinem der Autoren eine Überlegung wert. Es gibt zwar mehrere Beiträge, die sich – am Beispiel Brasilien – mit einzelnen Problemen von Entwicklungsländern befassen. Als theoretische Fragestellung aber kommt der sich im Süden entwickelnde ‚neue’ Kapitalismus nicht vor. Angesprochen werden die „emerging economies“ eigentlich nur im Beitrag von Wolfgang Hein, der im letzten Teil (etwas außerhalb der Fragestellung des Bandes) auf der Grundlage von Arbeiten Hurtiennes fragt, inwieweit die Dependenztheorie heute noch etwas zu sagen hat. Hein räumt ein, dass die – meist an Länderbeispielen aus Lateinamerika – entwickelten Dependenzansätze, die im Kern eigenständige Entwicklungen im Rahmen der kapitalistischen Weltökonomie für unmöglich hielten, in dieser Form seit den 1980er Jahren nicht mehr haltbar sind. Seiner Ansicht nach aber hat die dependenztheoretische Diskussion drei heute noch gültige Erkenntnisse befördert: Dass „nachholende Industrialisierung (keinen) Nachvollzug früherer historischer Prozesse bedeutet“ (313), dass die Interessenkonstellation herrschender Klassen wichtig ist für die Entwicklungsorientierung von Ländern und dass ungleiche Entwicklung auch den Prozess von sozialer „Inklusion und Exklusion“ innerhalb der „emerging economies“ betrifft (315). Diese wenigen Bemerkungen können allerdings nicht darüber hinwegtrösten, dass der Sammelband sich weitgehend auf den europäisch-nordamerikanischen Kapitalismus beschränkt und dass der Aufstieg ehemaliger Länder der Peripherie offensichtlich kein Thema der Krisen- und Kapitalismusanalyse ist.

Jörg Goldberg

Krisen in der Türkei

Ilker Ataç, Ökonomische und politische Krisen in der Türkei. Die Neoformierung des peripheren Neoliberalismus. Münster, Westfälisches Dampfboot, 2013, 191 S., 24,90 Euro

Ilker Ataç geht aus einer polit-ökonomischen Sicht nicht allein der Frage nach, wie sich das Verhältnis Staat und Ökonomie in der Türkei in der mit dem Putsch von 1980 begonnenen neoliberalen Phase verändert hat, sondern auch inwieweit das Akkumulationsmodell und die Wirtschaftspolitik der AKP-Regierung Recep Tayyip Erdogans in Kontinuität zu den 1990er Jahren steht. Im deutschen Sprachraum gibt es bislang kaum Publikationen zu diesen Fragen. In der Türkei werden sie hingegen recht intensiv diskutiert. Auf die türkischen Debatten bezieht sich Ataç stark. Hierbei identifiziert er zwei Grundpositionen. Institutionalistische PolitikwissenschaftlerInnen wie Ziya Öniş sehen in dem Strukturanpassungsprogramm von 2001, das durch die AKP-Regierung in vieler Hinsicht fortgeführt wurde, „insofern eine radikale Veränderung zur vorherigen Periode, als die regulativen Kapazitäten des Staates gestärkt wurden.“ Dies werde vor allem an der gestiegenen Kapazität zur Durchsetzung einer restriktiven Geld- und Fiskalpolitik festgemacht. Post-keynesianische und (post-) marxistische ÖkonomInnen heben hingegen die Kontinuität mit der Periode seit 1989, die durch eine komplette Liberalisierung des internationalen Kapitalverkehrs der Türkei geprägt ist, und ein Fortdauern struktureller Widersprüche und Krisenverwundbarkeiten hervor. Ataç ist der zweiten Gruppe zuzurechnen.

Die theoretischen Kernbezüge seiner Arbeit sind die Regulationstheorie und die Staatstheorie von Poulantzas. Die Regulationstheorie zieht Ataç speziell zur Analyse der Kapitalakkumulation in der Türkei heran. Hierbei interessieren ihn vor allem die Adaptierungen der Regulationstheorie für die Analyse (semi-)peripherer Ökonomien und von Finanzialisierungsprozessen. Für Ataç ist bei letzterer speziell die Unterscheidung zwischen staatszentrierter Finanzialisierung, bei denen die Budgetfinanzierung über hochverzinsliche Kredite eine zentrale Ausprägung der Finanzialisierung darstellt, und einer auf private KreditnehmerInnen ausgerichtete Finanzialisierung besonders relevant. Ein zentrales Charakteristikum von Finanzialisierungsprozessen in der Semi-Peripherie ist zudem, dass sie stark von Kapitalzuflüssen aus den Zentrumsländern abhängen. Die Form der Einbindung der Türkei in den Weltmarkt ist für Ataç „konstitutives Moment für die Akkumulationsstrategien“. Bei der Analyse der Herstellung der politischen Voraussetzungen für die Akkumulationsstrategien rekurriert er stark auf die Staatstheorie von Poulantzas, speziell die Interiorisierung externer Faktoren und die Rolle der inneren Bourgeoisie.

Ausgangspunkt einer Wende zu einem stärker außenorientierten Entwicklungsmodell und neoliberaler Politik war die Krise der importsubstituierenden Industrialisierung. Anfang 1980 wurde noch unter parlamentarischen Bedingungen ein radikales neoliberales Wirtschaftsprogramm verabschiedet, das den Weg zu einem exportorientierten Modell ebnen sollte. Zum vollen Durchbruch verhalf neoliberaler Staatlichkeit und außenorientierter Akkumulation allerdings erst die im September 1980 etablierte Militärdiktatur. Sie schwächte, wie in der Arbeit von Ataç sehr deutlich wird, linke Kräfte und auch Gewerkschaften dauerhaft. Das institutionelle Erbe der Militärdiktatur wirkt bis heute fort. Als Grundmuster der Staatlichkeit des peripheren Neoliberalismus arbeitet Ataç die Entparlamentarisierung der Wirtschaftspolitik und die systematische Stärkung technokratischer Strukturen (z.B. eine „unabhängige“ Zentralbank und autonome Regulierungsbehörden) heraus. Hierbei setzten die Regierungen seit 1980 bewusst auf eine Schwächung der traditionellen Bürokratie, die relativ eng mit dem eher binnenorientierten Modell verbunden gewesen war. Diese Umformungen des türkischen Staates, die Ataç im Detail nachzeichnet, passten sich in die neoliberalen Programmatiken internationaler Finanzinstitutionen – dem Washington- und Post-Washington-Consensus – ein. Sie wurden speziell vom Internationalen Währungsfonds im Rahmen seiner Strukturanpassungsprogramme in der Türkei mitbetrieben.

Die veränderten gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse schlugen sich in Veränderungen der Staatlichkeit nieder, die ihrerseits wiederum die veränderten Kräfteverhältnisse zumindest zeitweise zementierten. Das Militärregime bereitete einem exportorientierten Akkumulationsmodell den Weg, das bis Ende der 1980er Jahre andauerte. Zentrale wirtschaftspolitische Pfeiler des exportorientierten Modells waren drastische Reallohnsenkungen, die mittels brutaler Repression gegen die Gewerkschaften und einer dauerhaften Einschränkung gewerkschaftlicher Rechte durchgesetzt wurden, und spezifische Maßnahmen der Exportförderung. Wie Ataç aufzeigt, stiegen die Exporte tatsächlich, das Exportwachstums war aber nicht durch eine substanzielle Modernisierung des Produktionsapparates getragen. Arbeitsintensiv produzierte Produkte blieben für den Export grundlegend. 1988/89 nahmen Streiks gegen die Niedriglohnpolitik zu und die Löhne stiegen. Die zentrale Grundlage der Exportpolitik erodierte. Auch die rechtsorientierte Özal-Regierung, die auf das Militärregime folgte und wirtschaftspolitisch in Kontinuität mit der Militärdiktatur stand, erlitt 1989 eine deutliche Schwächung.

1989 markiert den Wendepunkt zu finanzialisierten Akkumulationsmodellen. Zentral für deren Etablierung war die radikale Liberalisierung des internationalen Kapitalverkehrs, die in diesem Jahr erfolgte. Das erste Jahrzehnt der Finanzialisierung war staatszentriert. Hohe Zinsen ermöglichten hohe Kapitalzuflüsse und einen überbewerteten Wechselkurs. Türkische Banken nahmen Kredite zu relativ günstigen Zinsen auf und liehen das Geld zu sehr hohen Zinsen an den türkischen Staat weiter. Die Hochzinspolitik erwies sich als zentraler Motor für steigende Budgetdefizite. Aufgrund der Währungsüberbewertung entstanden auch ein Importsog und substanzielle Leistungsbilanzdefizite. Das Akkumulationsregime erwies sich als extrem instabil. Instabil waren auch die Regierungen aufgrund der starken Fragmentierung der parteipolitischen Szene.

2001 kam es zur bislang schwersten Krise. Die damalige instabile Regierung Ecevit setzte daraufhin ein tiefgreifendes Strukturanpassungsprogramm in Kraft, das sehr stark die Handschrift von TÜSIAD, dem Verband der türkischen Großunternehmen, trug. Mit umfangreichen Kompetenzen wurde Kemal Derviş ausgestattet, ein Technokrat mit engen Bindungen an die internationale Finanzwelt. Derviş stellte auch das Bindeglied zum IWF dar, der die externe Finanzierung gewährleistete. Kernelemente der neuen Strukturanpassungspolitik, die durch den Post-Washington-Consensus geprägt war, waren eine grundlegende Reform des Bankensektors und der Zentralbank sowie die Schaffung unabhängiger Regulierungsbehörden. Die Krise hatte gravierende negative soziale Folgen, das Strukturanpassungsprogramm war unpopulär. Der Diskreditierung der bisherigen Regierung ermöglichte der AKP 2002 den Wahlsieg. Sie setzte die enge Kooperation mit dem IWF und die Umsetzung der Kernpunkte des Programms fort. Die Zeit seit 2002 ist insofern durch eine Veränderung des Finanzialisierungsprozesses gekennzeichnet, als nun die Privatverschuldung in den Vordergrund tritt. Steigende Privatverschuldung und Immobilienboom gehen Hand in Hand. Die budgetäre Situation und die Staatsverschuldung stellen sich im Vergleich zu den 1990er Jahren weniger dramatisch dar. Überbewertete Währung und hohe Leistungsbilanzdefizite sind hingegen, wie Ataç herausarbeitet, weiter zentrale Verwundbarkeiten des Modells. Diese machten sich in der globalen Krise 2008/2009 in der Türkei auch stark bemerkbar. Diese Krise diskutiert Ataç leider nicht mehr in seinem Buch, wenngleich sie seine Kerndiagnose bestätigt.

Ilker Ataç liefert eine konzise, präzis argumentierte Analyse zur Politischen Ökonomie der Türkei seit 1980 wie auch einen Einblick in die entsprechenden türkischen Debatten.

Joachim Becker

Politische Trends in Lateinamerika

Dieter Boris, Bolívars Erben. Linksregierungen in Lateinamerika. PapyRossa Verlag, Köln 2014, 202 Seiten, 14,90 Euro

Das neueste Buch von Dieter Boris kommt insofern „just in time“, als Lateinamerika – oder genauer gesagt Südamerika – durch die Proteste um die Fußballweltmeisterschaft in Brasilien auch hier in den Medien präsent war; allerdings reicht die Betrachtung nur bis etwa 2010/11.

Ziel dieser Veröffentlichung ist ein Gesamtüberblick über die wesentlichen politischen Trends in Lateinamerika seit den 1990er Jahren, den „Linksruck“ – sozusagen aus der Vogelperspektive –, mit Schwerpunkt auf den Ländern Venezuela, Bolivien, Ecuador, Brasilien und Uruguay, ohne spezifische Länderanalysen zu liefern, die anderweitig bereits vorliegen. Mit dem Blick auf den Subkontinent als Ganzes schließt sich eine Lücke in der neueren sozialwissenschaftlichen Literatur über Lateinamerika. Die mögliche strategische Rolle dieser Region in der Auseinandersetzung zwischen dem „globalen Norden“ und dem „globalen Süden“ wird skizziert. Daher ist der Titel mit Bezug auf den Anführer des Unabhängigkeitskampfes Lateinamerikas von der spanischen Kolonialmacht im 19. Jahrhundert sehr treffend gewählt.

Boris wendet sich ausdrücklich gegen die in den Mainstream-Medien vorherrschende skeptische Haltung gegenüber den Regierungen der vorgenannten Länder, die oft pauschal als populistisch und nicht wirklich demokratisch abqualifiziert werden und deren Bemühungen um Armutsbekämpfung, soziale Gerechtigkeit und (wirtschafts-) politische Unabhängigkeit wenig wahrgenommen und wertgeschätzt werden. Er analysiert die genannten Linksregierungen in ihrer Differenziertheit zwischen – dem Anspruch nach – „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ (z.B. Venezuela) und einem „mehr oder minder sozialstaatlich gezügelten Kapitalismus“ (z.B. Brasilien). Betrachtet werden die historischen Rahmenbedingungen ihres Sieges, Programme und Politik sowie wesentliche sozio-ökonomische Errungenschaften, belegt mit reichem Faktenmaterial. Dabei verliert der Autor trotz seiner unverhohlenen Sympathien für den anti-neoliberalen Kurswechsel in weiten Teilen des Subkontinents nicht die kritische Distanz und betont immer wieder die inneren Widersprüche, die Prozesshaftigkeit und Fragilität dieser Linkswende.

Boris nähert sich der Behandlung spezifischer Themen, vor allem Wirtschaftspolitik, Sozialstruktur, Medien und Staatlichkeit in diesen sog. peripheren Ländern, auf der Grundlage eines Gesamtüberblicks mit einer vergleichenden Analyse der Links- und Mitte-Links-Regierungen. Dabei geht er auch auf die kontroverse Diskussion dieser Entwicklungen in der sozialwissenschaftlichen Literatur ein. Bei aller Unterschiedlichkeit der jeweiligen nationalen Konstellationen destilliert er sechs Charakteristika heraus, die den Linksregierungen – in unterschiedlicher Gewichtung – gemeinsam sind:

- Distanz gegenüber einem ungebremsten Neoliberalismus;

- Wiederaufwertung der Rolle des Staates, staatliche Wachstumsförderung;

- Stärkung der Binnennachfrage, Armutsbekämpfung, aktive Sozialpolitik;

- Förderung partizipativer Demokratie, Verbindung zu sozialen Bewegungen;

- Stärkung der nationalen Souveränität, insbesondere im Wirtschaftsbereich;

- Förderung regionaler lateinamerikanischer Bündnisse und Integrationsprojekte.

Diese Themenbereiche werden in den Folgekapiteln an vielfältigen Beispielen mit instruktivem Zahlenmaterial ausgeführt. Besonders hervorzuheben sind folgende Aspekte:

Demokratisierungsprozesse „von unten“ durch dezentrale Partizipationsformen, die schließlich in Massenbewegungen mit deutlich anti-neoliberaler Ausrichtung münden; bemerkenswert ist, dass Linksregierungen oft mit sehr großer Mehrheit und bei Wiederwahl sogar noch weiter gestiegener Wahlbeteiligung und Mehrheit gewählt wurden.

Damit eng verknüpft, neue institutionelle Formen direkter Bürgerbeteiligung in Ergänzung zur repräsentativen Demokratie, auf kommunaler Ebene durch Dialogforen, Räte, usw. – oft noch in experimenteller Form – und auf nationaler Ebene durch plebiszitäre Regelungen, die es den Bürgern ermöglichen, ihre politischen Forderungen auch zwischen regulären Wahlterminen zu artikulieren bis hin zur Abwahl der Regierung in einigen Ländern.

Hilfreich bei der Einschätzung der Potenziale für die Weiterentwicklung der sozialen Transformationsprozesse in Lateinamerika ist der Hinweis auf die diversen Paradoxien in den komplexen Wechselwirkungen zwischen sozialen Bewegungen und Linksregierungen, um voreilige Schlussfolgerungen zu vermeiden.

Gerade weil in den letzten Jahrzehnten vor dem Umschwung nach links Bürgerrechte auch auf bislang marginalisierte Bevölkerungsteile ausgeweitet wurden, kam es zum sog. Paradox der Repräsentation: die Enttäuschung der Neuwähler über den Misserfolg der formalen Demokratisierungsprozesse führte zu den wachsenden anti-neoliberalen Protesten, zumal die versprochenen positiven Auswirkungen der neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ausblieben.

Hinzu kam – auch eine unbeabsichtigte Auswirkung neoliberaler Politik –, dass die allenthalben vorangetriebene administrative Dezentralisierung linke Wahlsiege auf kommunaler Ebene in Verbindung mit wachsenden sozialen Bewegungen erleichterte und dem politischen Umschwung Schubkraft „von unten“ verlieh.

Schließlich führte auch die Öffnung der traditionellen Linksparteien für politische Pakte im Zuge der Demokratisierungsprozesse zur Verbesserung ihrer Wählbarkeit auch für neue Wählerschichten, obwohl Rücksichten auf Bündnispartner die politischen Handlungsspielräume einschränken. Genau das trägt allerdings auch zur konflikthaften Dynamik des Verhältnisses zwischen Linksregierungen und Basisbewegungen bei.

Besonders instruktiv ist die Analyse der Krisenbewältigungsstrategien der Linksregierungen, einschließlich der jüngsten Finanz- und Bankenkrise, die sich wie ein sozialer Gegenentwurf zum kahlschlagartigen Sozialabbau in der EU darstellen. Boris zeigt mit umfangreichem Zahlenmaterial die positiven Auswirkungen auf die Sozialstruktur, leugnet dabei aber keineswegs deren in vieler Hinsicht labile Basis.

Interessant ist auch die Darstellung der vielfältigen und hierzulande relativ unbeachteten Initiativen und Strukturen zur regionalen süd- bzw. lateinamerikanischen Integration, deren Ziel wirtschaftliche und politische Souveränität der Region als ganzer gegenüber den USA und der EU ist. Hinzu kommt die Süd-Süd Kooperation, einerseits durch die Rolle Brasiliens in der Runde der BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) Schwellenländer, andererseits die rasante Zunahme der Wirtschaftsbeziehungen zu China, denen Boris einen gesonderten Exkurs widmet und darin auch die Risiken beleuchtet.

Das Kapitel über den Kampf um die Hegemonie der Linksregierungen in den Medien widmet sich einem wichtigen, aber oft hinter wirtschaftlichen Themen zurücktretenden Aspekt sozialer Transformationsprozesse. Überraschend ist dabei allerdings die Erkenntnis, dass in der neueren Geschichte Lateinamerikas Linksregierungen auch gegen die Opposition wichtiger Massenmedien große Mehrheiten erzielen konnten und dass das Wahlverhalten nicht unbedingt vom traditionellen Medienkonsumverhalten abhängt (telenovelas!).

Die Darstellung und Kommentierung der aktuellen sozialwissenschaftlichen Debatte über Staatlichkeit und Transformationsprozesse in Lateinamerika schließt das Buch ab, wobei man sich gewünscht hätte, dass nicht nur die staatstheoretische Reflexion, so wichtig sie ist, sondern auch die realen Veränderungsprozesse der Staatlichkeit in den hier betrachteten Ländern diskutiert worden wären.

Fazit: ein sehr lesenswertes Buch für Lateinamerika-Interessierte; es setzt eine Leserschaft mit Vorkenntnissen der jüngeren Geschichte Lateinamerikas sowie einer gewissen Vertrautheit mit sozialwissenschaftlicher Analyse voraus.

Es ist nicht zu übersehen, dass das Buch nicht aus „einem Guss“ ist, sondern auf früheren, dann überarbeiteten Aufsätzen beruht, wie man an den verschiedenen Analyseebenen sowie an unterschiedlichen Betrachtungszeiträumen ablesen kann. Eine Fortsetzung bzw. Ausweitung der Analyse auf die jüngsten politischen Entwicklungen in Südamerika wäre außerordentlich wünschenswert, auch wenn sie wahrscheinlich weniger positiv ausfallen würde. Ob sich Boris’ insgesamt optimistische Einschätzung der Chancen zur weiteren Zurückdrängung der alten Eliten bewahrheitet, wird u.a. davon abhängen, ob Linksregierungen und die jeweiligen sozialen Bewegungen in der Lage sind, ihre Widersprüche als produktiven Lernprozess zu gestalten. Dazu Boris: „Sowohl der beständige Schub und die Kontrolle ‚von unten‘ wie auch die Koordination und Lenkung ‚von oben‘ sind – soll eine vorwärtsgerichtete Transformation gelingen – beides notwendige Prozesse, die nicht einfach wechselseitig substituiert werden können, sondern in einem konfliktiven Ergänzungsverhältnis zueinander stehen müssen.“ (180)

Regine Meyer

Autoritärer Kapitalismus

Frank Deppe, Autoritärer Kapitalismus – Demokratie auf dem Prüfstand, VSA-Verlag, Hamburg 2013, 299 S., 24,80 Euro

Spätestens seit Colin Crouchs Essay „Postdemokratie“ steht die Frage nach dem Zustand demokratischer Systeme im Zentrum politikwissenschaftlicher Zeitdiagnosen. In der deutschen Debatte wurde insbesondere von Wolfgang Streeck („Gekaufte Zeit“) die These vom Ende des „demokratischen Kapitalismus“ vertreten: Angesichts des neoliberalen Angriffs auf den Sozialstaat, die Etablierung der Finanzmärkte als fünfter Gewalt (Breuer) und die Erosion der im Fordismus einst etablierten Mitbestimmungsmöglichkeiten trete scharf heraus, dass kapitalistische Produktionsweise und politische Demokratie weit eher in einem gegensätzlichen als in einem Bedingungsverhältnis zueinander stünden. Da zugleich der zentraler Akteur vergangener Demokratisierungsschübe, die organisierte Arbeiterklasse, erodiert sei, sehe die Zukunft der Demokratie (auch und gerade) in den Gesellschaften des Westens düster aus. Wachsende soziale Ungleichheit wirke sich zunehmend auch auf die politische Gleichheit aus (etwa bezogen auf die Beteiligung an Wahlen). „Postdemokratie“ bezeichnet in diesem Kontext eine substantiell ausgehöhlte „Fassadendemokratie“ (Habermas), in der wirtschaftliche Eliten zunehmend stärker und direkt Einfluss auf politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse nehmen könnten. Diese Analysen stehen in schroffem Gegensatz zur These einer ungebremsten Erfolgsgeschichte liberaler Demokratie, die sich in großen Demokratisierungsschüben fortschreibe. In dieser (ausschließlich institutionalistischen) Perspektive erscheint der Zusammenhang zwischen Kapitalismus und (bürgerlicher) Demokratie evident: Wo freie Märkte seien, müssten über kurz oder lang auch parlamentarische politische Systeme und eine rechtsstaatliche Jurisdiktion entstehen. Trotz etwaiger Rückschläge wird in diesem Kontext betont, weltweit seien heute mehr Staaten „demokratisch“ verfasst als in der Periode nach dem 2. Weltkrieg.

Frank Deppes neues Buch interveniert in diese Debatte. Sein Untertitel ist in einem doppelten Sinn programmatisch: Zum einen prüft Deppe den zeitgenössischen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Demokratie(verfall). Zum anderen vertritt er die These, politische Demokratie stehe im Zeitalter der großen Krise seit 2008 abermals vor einer „Bewährungsprobe“ (Boltanski/Ciapello). Wie die Anhänger der Postdemokratietheorie hält auch er eine zunehmende Entwicklung hin zum „autoritären Kapitalismus“, mithin zu einem Kapitalismus, der den Zusammenhang von kapitalistischer Produktionsweise und liberaler Demokratie auflöst, für durchaus wahrscheinlich.

Im Vergleich mit anderen Büchern zum Thema beeindruckt dieser Beitrag zur Debatte dadurch, dass er drei unterschiedliche, sonst eher getrennt verlaufende Stränge der Diskussion zusammenführt. Erstens behandelt Frank Deppe gründlich die Zeitdiagnose eines Verfalls demokratischer Substanz vor dem Hintergrund historischer Alternativen, Demokratie zu denken. Minutiös zeichnet er die Ausdifferenzierung sozialer und liberaler, bzw. bloß politisch-formaler Demokratiekonzeptionen in der Ideen- und „Realgeschichte“ der bürgerlichen Gesellschaft nach, wobei er insbesondere den Weg von Rousseau zu Marx materialreich rekonstruiert. Zweitens leistet sein Buch jedoch auch einen bedeutenden Beitrag zur Diskussion um den Charakter der noch immer andauernden „großen Krise“ des Finanzmarktkapitalismus, die derzeit mit einer Verschärfung von Austeritätspolitik bekämpft wird („Fiskaldiktatur“). Drittens analysiert Deppe diese Prozesse vor dem Hintergrund der Umbrüche in der politischen und ökonomischen Weltordnung, namentlich des Niedergangs der USA als Hegemonialmacht und des Aufstiegs Ostasiens. Erst durch die Analyse dieses Geflecht, so betont Frank Deppe zurecht, lässt sich die Infragestellung demokratischer Selbstverständlichkeiten – neben der Zurückdrängung von Sozialstaatlichkeit, auch die Aufweichung etwa des Folterverbots oder der schwindelerregende Ausbau von Formen der Überwachung – in ihrem Zusammenhang begreifen. Theoretisch lässt sich dieser Prozess als (neuerlicher) Frontalangriff auf das Prinzip der Volkssouveränität interpretieren. Praktisch-Politisch besteht er im zunehmend offenen Versuch, Gesellschaften finanzmarktkonform „durchzuregieren“. Trotz der Vielgesichtigkeit autoritärer Kapitalismusmodelle, die Deppe anhand exemplarischer Länderstudien zu den USA, Russland, China und Indien aufzeigt, entsteht somit in Übereinstimmung mit der Postdemokratiediagnose das Bild eines Trends zum zunehmenden Antagonismus von Kapitalismus und politischer Demokratie.

Indem Frank Deppe einen besonderen Fokus auf die historischen Transformationen von Demokratie und Entdemokratisierung legt, zeichnet er zugleich nach, wie sehr Fortschritte und Rückschritte hier seit je von jeweiligen sozialen Kräfteverhältnissen abhängig waren. Ein Novum der derzeitigen autoritären Wende macht er insbesondere darin aus, dass die Tendenz zum Abbau demokratischer Rechte diesmal nicht – wie historisch etwa im klassischen Bonapartismus oder im Faschismus – aus einer Position der Schwäche von Kapitaleliten und aus der Angst vor einer starken Arbeiterbewegung heraus begründet werden kann, sondern vielmehr als das Produkt einer Position der Stärke nach dem Zusammenbruch der Systemalternativen des zwanzigsten Jahrhunderts erscheint. Im Anschluss hieran lässt sich möglicherweise eine zugespitzte These plausibilisieren: Während offen terroristische Diktatur das Mittel des Kapitals sein mag, eine demokratische Bewegung, die es in Frage stellt, zu unterdrücken, so ist das Fehlen einer solchen Bewegung noch lange kein Garant für die Stabilität einer auch nur bürgerlichen Demokratie. Anders formuliert: Gerade dann, wenn die Arbeiterbewegung zu schwach ist, tendiert der Kapitalismus in Krisenzeiten zu einer Form der autoritären Wende, die sich nicht putschistisch durch die Zerschlagung demokratischer Formen, sondern durch ihre sukzessive Aushöhlung vollzieht. Wie Frank Deppe eindrucksvoll zeigt, ist es derzeit nicht zuletzt die – trotz zunehmender sozialer Proteste – weitgehende Abwesenheit einer offensiv vorgetragenen Alternative, die eine wirkliche Bewältigung der Krise blockiert.

David Salomon

Georg Klaus - der wirksamste Philosoph der DDR

Die Semiotik von Georg Klaus (1912-1974). Hg. von Michael Eckardt. (Zeitschrift für Semiotik, Band 33, Heft 3-4, 2011), Stauffenburg Verlag, Tübingen 2012, 441 S., 50,- Euro

Georg Klaus, geboren am 28. Dezember 1912 in Nürnberg, gestorben am 29. Juli 1974 in Berlin, war einer der produktivsten und vielseitigsten Philosophen in der DDR. In knapp 15 Jahren publizierte er elf Monographien. Seine Schriften erlebten in der DDR mehrfache Auflagen und wurden als Lizenzausgaben auch in der BRD vertrieben. Viele seiner Bücher sind in andere Sprachen übersetzt worden. Ohne Frage war Klaus bis zu seinem Tode der erfolgreichste und bekannteste Philosoph der DDR.

Seinem 100. Geburtstag hat die Zeitschrift für Semiotik ein von Michael Eckardt besorgtes thematisches Doppelheft gewidmet, das als Gedenkschrift fungiert. In zwölf Beiträgen analysieren elf Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen – von der Philosophie über die Semiotik, Sprachwissenschaft, Psychologie, Kybernetik bis zur Theaterwissenschaft und Architekturtheorie – Dimensionen, Ergebnisse und Probleme des wissenschaftlichen Werkes von Georg Klaus. Das Buch schließt mit einem kommentierten Verzeichnis der Schriften von und über Georg Klaus, das der Herausgeber zusammengestellt hat.1 Eckardt hatte bereits 2002 zum 90. Geburtstag einen Band mit ausgewählten Schriften von Klaus herausgegeben.2

Georg Klaus hatte in Erlangen drei Semester Mathematik, Physik und Philosophie studiert. 1933 verhaftete die Gestapo den aktiven Kommunisten. Er wurde wegen Hochverrats zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt und nach deren Verbüßung als „Schutzhäftling“ bis 1938 im Konzentrationslager Dachau gefangengesetzt. Ungeachtet seiner „Wehrunwürdigkeit“ wurde er 1942 von der Wehrmacht eingezogen. 1943 ist er bei Kursk schwer verwundet worden. Die Haft in Dachau und die Kriegsverwundung haben Klaus für sein ganzes Leben gesundheitlich schwer geschädigt.

Nach der Befreiung und kurzer Kriegsgefangenschaft konnte er 1947 in Jena sein Studium wiederaufnehmen und 1948 mit einer Promotion bei Max Bense mit der Arbeit „Die erkenntnistheoretische Isomorphierelation“ abschließen. Auf der Jenenser Logik-Konferenz 1951 warb Klaus für die Förderung der mathematischen Logik. Sein späterer Vorschlag, Logik in der DDR als Schulfach einzusetzen, ist nicht realisiert worden.

In Berlin habilitierte sich Klaus 1950 mit einer Arbeit über Immanuel Kants Frühschriften. 1953 wurde er Professor für Logik und Erkenntnistheorie am Philosophischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. 1957 wechselte er an die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, wo er das Philosophische Institut aufbaute. Hier initiierte er als Herausgeber (mit Manfred Buhr) das „Philosophische Wörterbuch“, das seit 1964 zahlreiche Auflagen erlebte und zur wohl wichtigsten und wirkungsvollsten philosophischen Publikation der DDR wurde. Sein schlechter Gesundheitszustand führte schließlich dazu, dass er mehr Zeit im Krankenhaus als im Institut verbrachte. Er hat faktisch alle seine Bücher nach 1961 vom Krankenbett aus diktiert und seiner unheilbaren Krankheit abgetrotzt.

In der Philosophie, seiner beruflichen Disziplin, hat sich Klaus von Anfang an auf Logik und Erkenntnistheorie spezialisiert. Er verhalf der modernen mathematischen Logik in der DDR zum Durchbruch.3 Seine Beschäftigung mit Mathematik und mathematischer Logik bildete für Klaus eine geeignete Basis für die Aneignung und Entwicklung von Disziplinen, die als Einzelwissenschaften am Rande oder außerhalb der Philosophie lagen, von der Kybernetik über die Semiotik bis zur Spieltheorie.4 Nach dem 1938 in die USA emigrierten Leipziger Philosophen Gotthard Günther (19575) war Klaus der erste deutsche Philosoph, „der die Kybernetik als Herausforderung für die Philosophie aufgefaßt und sich unvoreingenommen mit ihr auseinandergesetzt hat“.6 Hinsichtlich der Semiotik gab es mit Joseph M. Bochenski (1954), Karl Steinbuch (1961) oder Max Bense (1965) mehrere deutsche philosophische Autoren, die sie wie Georg Klaus in der Nachfolge des US-amerikanischen Pragmatisten Charles Peirce den deutschsprachigen Lesern nahebrachten und selber weiterentwickelten.7 Doch während sich andere Autoren gewöhnlich auf Semiotik oder Kybernetik spezialisierten, schrieb Georg Klaus einflussreiche Arbeiten über die eine wie über die andere Disziplin und widmete sich als großer Schachspieler mit Hingabe der Spieltheorie.

Philosophisch repräsentierte Klaus eine an den Entwicklungen der Naturwissenschaft, der Informationstechnologie und der Kybernetik orientierte Richtung. Seinen „Kosmos der Philosophie“, der umfassend, aber einseitig profiliert war, artikulierte er selbstbewusst: „Die marxistischen Klassiker sind keine Kirchenväter, deren Thesen für alle Zeiten als unabänderliche Wahrheiten genommen werden müssen. Auf viele Fragen, die heute von uns eine Lösung verlangen, haben sie keine Antwort gegeben und konnten sie auch keine geben, da ihnen nicht einmal die Fragestellungen geläufig waren. Zur Semiotik, zur mathematischen Logik, zur Quantenphysik, zur Kybernetik usw. haben die Klassiker des Marxismus-Leninismus nun einmal nichts gesagt. Es ist deshalb die Aufgabe der Vertreter der marxistischen Philosophie, hier völlig neue Entwicklungen in Gang zu bringen und – mit Hegel zu sprechen – die Anstrengung des Begriffs und nicht etwa die Anstrengung der Aufsuchung von Zitaten auf sich zu nehmen.“8

Klaus bewegte sich nach eigener Aussage im „gemeinsamen Bereich von Kybernetik, Informationstheorie, Semiotik und Erkenntnistheorie“9. Er rechnete – ohne beide zu identifizieren – die philosophische Semiotik zur Erkenntnistheorie, weil sie so viele erkenntnistheoretische Fragen tangiere. Diese Position hat jedoch nur einen der Autoren der Gedächtnisschrift, Hans Christoph Rauh, dazu veranlasst, die Spezialisierung von Klaus auf Erkenntnistheorie explizit und kritisch zu untersuchen. Er wendet sich dagegen, Klaus wegen seiner tendenziell einzelwissenschaftlich akzentuierten „logisch-erkenntnistheoretischen“ Spezialisierung gleich eine positivistische Reduzierung der Philosophie zuzuschreiben. Hatte Klaus doch in seinem ersten Buch „Jesuiten, Gott, Materie“ von 1957 in der Auseinandersetzung mit der ontologisch-neothomistischen Argumentation des Jesuitenpaters Gustav Wetter sogar explizit eine marxistische Ontologie mit ihrem ganzen Kategoriengefüge gefordert, war aber nie wieder darauf zurückgekommen. Das spätere „Philosophische Wörterbuch“ jedenfalls, so Rauh, basierte nicht auf einer ontologischen Kategorienlehre, sondern war nur eine alphabetische Reihung. Die erkenntnistheoretische Grundlegung und Ausrichtung von Klaus aber betreffe alle seine Arbeiten, nicht nur die explizit erkenntnistheoretischen, semiotischen und wissenschaftstheoretischen Werke.

Nach einer Periode, in der Arbeiten zur Kybernetik im Vordergrund standen, begann Klaus nach dem Ende seiner universitären Lehrverpflichtungen mit der Ausarbeitung seiner erkenntnistheoretisch-semiotischen Schriften, sie erschienen zwischen 1963 und 1974. Inzwischen hatte sich das Philosophische Institut der Universität Leipzig auf Erkenntnistheorie spezialisiert. Doch die dort tätigen beiden wichtigsten Schüler und Anhänger von Klaus, Alfred Kosing und Dieter Wittich, folgten gerade nicht seinen erkenntnistheoretischen Vorarbeiten. Sie polemisierten gegen eine tendenzielle Verselbständigung in Richtung einer Einzelwissenschaft und insistierten auf eine Integration der Erkenntnistheorie als Teildisziplin in die Philosophie. Dieter Wittich warf Klaus vor, er betreibe die „Erkenntnistheorie mehr als eine Sonderdisziplin der Logik und einer entsprechend orientierten allgemeinen Methodologie, als eine Einzelwissenschaft also ... “10. In einem Grundsatzartikel kritisierten Kosing und Wittich auch Klaus’ Auffassung der materialistischen Abbildrelation.11 Auf den jährlichen Arbeitstagungen des Leipziger Lehrstuhls für Erkenntnistheorie von 1967 bis 1989 wurden Arbeiten von Klaus nicht einmal erwähnt. Nach dem frühen Tod von Georg Klaus 1974 hat kein philosophischer Autor der DDR unmittelbar an sie angeknüpft.

Mehrere Beiträge des Bandes befassen sich im einzelnen mit philosophischen Auffassungen und Standpunkten von Klaus. Gleich zu Beginn widmet sich Matthias Wille von der Universität Duisburg-Essen dem Gegenstand der Dissertation, der Isomorphierelation. Klaus wollte zeigen, dass sich die marxistische Abbildtheorie auf dem Stand der aktuellen wissenschaftstheoretischen und mathematisch-logischen Forschung befindet und mit den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaften vereinbar ist. Klaus bestimmte diese Relation als Strukturgleichheit und nicht im Sinne eines Spiegelbildes. Sein Kritiker charakterisiert nun diese Position von Klaus als „Naturalismus..., der in einer szientistisch-affirmativen Haltung dem großen Vorbild der Kybernetik nacheifert“. (191) Er beschränkt sich jedoch aufs Aufzeigen handwerklicher Mängel und methodischer Defizite.

Der Berliner Ästhetiker Michael Franz spürt den Antike-Bezügen bei Georg Klaus nach. Seine Bücher seien gespickt mit Verweisen und Exkursen zu konzeptionellen Ansätzen und Modellen der antiken Philosophie, deren „heuristisches Potential Klaus als keineswegs ausgeschöpft und abgegolten empfand“. Doch einzig sein Lukrez-Essay bezeuge eine explizite Beschäftigung, zu Lukrez De rerum natura schrieb er eine Einleitung. Bei seinen Bezügen auf Demokrit, Platon, Aristoteles und Lukrez habe sich Klaus über deren Schuldifferenzen hinweggesetzt und sein Augenmerk auf vier Problemkreise gerichtet: den Umgang mit Leiden und Tod im Hedonismus der Epikureer, die Prägung der Abbild-Vorstellungen durch das demokritisch-epikuräische Eidola-Modell; auf die Fragen nach der methodischen Begründung des antiken Atomismus und auf das Kybernetes-Modell der Steuerung und Regelung im Hinblick auf die Regierungskunst der Antike sowie auf das Leib-Seele-Problem. Von diesen hauptsächlichen Antikebezügen analysiert Michael Franz allerdings nur den ersten.12

Hans-Joachim Dahms vom Institut Wiener Kreis an der Universität Wien unternimmt eine Parallelisierung des Schaffens von Wolfgang Stegmüller in Österreich und der BRD und von Georg Klaus in der DDR im Hinblick auf Gemeinsamkeiten in der Nachkriegsentwicklung der Logik, Wissenschaftstheorie, Semiotik und Kybernetik in den deutschen Staaten. Er hebt besonders hervor, dass es Klaus’ Verdienst war, „die mathematische Logik auch in der Philosophie durchzusetzen, wo sie von vornherein wegen weltanschaulicher Vorbehalte viel umstrittener war“ als etwa in der Mathematik. Die Kybernetik als Disziplin im Hochschulwesen der DDR zu verankern, gelang Klaus und seinen Mitstreitern gegen viele Widerstände deshalb, schreibt Dahms, „weil man in ganz Osteuropa mit der Kybernetik enorme Heilserwartungen verband“ (318). Mit der 3. Hochschulreform wurde sie ein „ausgesprochenes Modefach“. Diese „religiöse Gläubigkeit“ habe es später erleichtert, sie wie eine heiße Kartoffel wieder fallenzulassen.

Im ersten Jahrgang der Zeitschrift für Semiotik 1978 wurde Klaus neben Charle Peirce, Ferdinand de Saussure und Jacob von Uexküll als „semiotischer Klassiker des 20. Jahrhunderts“ genannt. Er kam allerdings, wie Michael Eckardt hervorhebt, nicht wie üblich über eine sprachwissenschaftliche Disziplin zur Semiotik, sondern von der Logik. Der Gedächtnisband von Eckardt enthält gleich mehrere Beiträge zur Semiotik von Klaus. Dieser hatte zu Syntax, Semantik und Pragmatik als vierte Dimension eine Sigmatik eingeführt, die die Beziehung des Zeichens zum Bezeichneten betraf. Diese Erneuerung wird von Johannes Heinrichs kritisch gewürdigt. Er akzeptiert eine vierte Dimension, allerdings müsse sie reflexionslogisch korrigiert und von einer objekttheoretischen zu einer vollzugstheoretischen Motivation hin präzisiert werden.

Klaus’ philosophische Bücher waren auf unmittelbar praktisch wirkungsfähige Erörterungen angelegt, ob er ein Netz von Schienen und Weichen im Umkreis eines Stellwerks der Eisenbahn mit logischen Verknüpfungen verglich oder die Kybernetik zur Verbesserung der Leitung der sozialistischen Gesellschaft einzusetzen vorschlug. Klaus war nicht nur theoretisch Marxist. Sein wissenschaftlicher Einsatz wollte parteilich sein. So sind zwei seiner semiotischen Schriften nicht zuletzt zu dem Zweck verfasst, Vorschläge zur Verbesserung der Wirkungsfähigkeit der politischen Agitation seiner Partei vorzulegen. Der Psychologe Helmut Metzler aus Jena hat die Genese der Bücher „Sprache der Politik“ und „Die Macht des Wortes“ analysiert und als Beitrag zu einer angewandten Semiotik untersucht. Klaus verbindet Erkenntnisse aus der Semiotik mit solchen aus der Philosophie und der Logik, aus Kybernetik, Informationstheorie, Informationspsychologie, Sozialpsychologie, Soziologie, Spieltheorie, Kommunikationsforschung für den Zweck, eine Wissenschaft von der politischen Redeweise zu entwerfen. Diese Amalgamierung getrennt betriebener Wissenschaften bezeichnet Metzler als Variante einer angewandten Semiotik, die Klaus in den öffentlichen Diskurs der DDR-Philosophie zu implementieren bemüht war.

Der von Klaus intendierte praktische Zweck seiner angewandten Semiotik, insbesondere aber seine offene politische Parteilichkeit stören den Sprachwissenschaftler Manfred Bierwisch an dem Buch von Klaus „Sprache der Politik“. Wünschbar wäre schon gewesen, dass ein Sprachwissenschaftler seinen disziplinspezifischen Zugang zur Semiotik zum philosophischen Ansatz von Klaus ins Verhältnis setzt. Doch nichts davon. Bierwisch praktiziert einen fundamentalen Antikommunismus: Dass der Sozialismus von Klaus als normatives Soll-Konzept, das als theoretische Orientierung gilt, gehandhabt wird, ist dem Kritiker peinlich, ja unerträglich. Er kann das Verfahren von Klaus nur kriminalpsychologisch als Zwang deuten, seine Parteitreue zu bekunden. Bierwisch unterstellt Klaus „marxistisch-leninistische Rechtgläubigkeit“, und das ist ihm ein Horror. Nichts aber trifft weniger auf Klaus zu.

Als Philosoph kam Klaus von der Mathematik her, die mathematische Denkweise war seine zweite Natur, die Naturwissenschaften waren ihm vertraut, und er verfolgte ihre Forschungen. Vor notwendigen und hilfreichen Formalisierungen hatte er nicht die geringste Scheu. Interpreten wie Franz meinen, er tendiere zum logischen Empirismus des Wiener Kreises. Sicher stand er diesen Philosophen aufgeschlossen gegenüber, doch Klaus umstandslos dem Positivismus bzw. der analytischen Philosophie zuzuschlagen, zeugt von gewollter Blindheit oder Voreingenommenheit.

Das nachhaltige Interesse für die Wissenschaften und ihre Wirkungsmöglichkeiten in der Gesellschaft ließen Klaus zu einem frühen Vertreter der Wissenschaftstheorie in der DDR werden. Doch für ihn war die Wissenschaftstheorie kein Weg aus der Philosophie heraus, keine positivistische Auflösung ihres Gegenstandes in theoretische Fragen der Einzelwissenschaften wie etwa bei der Wissenschaftsphilosophie unter Leitung von Herbert Hörz an der Akademie der Wissenschaft der DDR. Vielmehr umgekehrt, für seinen Kosmos der philosophischen Wissenschaften fragte Klaus nach den Kategorien ihrer Ontologie.

Georg Klaus starb 1974 mit 61 Jahren. Nach seinem Tod gab Manfred Buhr, sein Nachfolger als Direktor des Akademieinstituts, 1977 einen Band mit philosophiehistorischen Abhandlungen von Klaus heraus, 1978 folgte ein Band mit Beiträgen zu philosophischen Problemen der Einzelwissenschaften, den Heinz Liebscher edierte, der auch 1982 zum 70. Geburtstag von Klaus aus dem Nachlaß einen weiteren Band zu philosophischen Problemen von Mathematik und Kybernetik herausgab.

Doch insgesamt wurde der zuvor bekannteste Philosoph der DDR ab 1975 von der Öffentlichkeit so gut wie vergessen und von seinen Fachkollegen weitgehend ignoriert. Von den Autoren des Bandes fragt einzig H. C. Rauh nach der Behandlung der Ideen und der Bücher von Klaus in den späteren Arbeiten seiner Fachkollegen. Sein Resümee, hier gezogen am Beispiel der jährlichen Leipziger Erkenntnistheorietagungen von 1972-1989 lautet, „daß die entsprechenden Schriften von Georg Klaus praktisch wie theoretisch keine Rolle mehr spielten“ (299). Dieser Abwendung, die sich partiell auch als Frontstellung gegen Klaus artikulierte, lagen eine strengere Einbindung dieser philosophischen Teildisziplin in das Gesamtsystem marxistischer Philosophie und eine Verlagerung des Schwerpunktes auf die Gesichtspunkte Widerspiegelung und Praxis zugrunde.

Die entscheidenden Gründe für das „Vergessen“ des weltbekannten Philosophen in der DDR aber waren politischer Natur. Begünstigt durch seine krankheitsbedingte Isolierung in den letzten Lebensjahren waren die mit der Übernahme der Funktion des Generalsekretärs der SED durch Erich Honecker 1971 verbundene Verdammung der Kybernetik und wissenschaftsfeindliche Tendenzen der Politik dieser Parteiführung, eine Blockade für sein Weiterwirken. Klaus’ Arbeiten gerieten ins politische Abseits, ohne je öffentlich bekämpft worden zu sein. Seine Fragestellungen wurden nicht weitergeführt und seine Erkenntnisse verschwiegen. Einzelne Tagungen bzw. Bände zu runden Jahrestagen konnten und können diese Situation abmildern, sie aber nicht grundlegend ändern, zumal der seit 1989/91 dominierende Zeitgeist mit der Verdammung aller marxistischen Theorie auch einer erneuten Rezeption der Klausschen Ideen entgegensteht. Darum ist dieser Band von Michael Eckardt überaus verdienstvoll. Er bietet gleich mehrere Ansatzpunkte zum Weiterdenken der Ideen des schöpferischen und vielseitigen marxistischen Philosophen Georg Klaus.

Werner Röhr

Materialistische Kunsttheorie

Thomas Metscher, Ästhetik, Kunst und Kunstprozess. Theoretische Studien, Aurora Verlag, Berlin 2013, 377 S., 19,99 Euro

Der vorliegende Band Thomas Metschers, der kürzlich seinen 80. Geburtstag beging, ist zwar eine Sammlung von Texten, die zum Teil bereits vor längerer Zeit publiziert wurden bzw. auf bereits veröffentlichte Vorarbeiten zurückgehen, dennoch ist er erkennbar von der Absicht getragen, materialistische Ästhetik in systematischer Weise zu fundieren und darzustellen.

Neben drei theoretischen Studien, die als inhaltlicher Kernbestand anzusehen sind, finden sich vier ergänzende Texte, die erläuternden Charakter haben. Argumentatives Zentrum sind „Kunst als ästhetischer Gegenstand“ (31ff.), „Welt im Spiegel“ (107ff.) sowie „Mimesis und Episteme“ (153ff.). Die Beiträge zu den ästhetiktheoretischen Entwürfen von Hegel, Lukács und Holz können als Ergänzungen zum präsentierten Entwurf aufgefasst werden und zeigen zugleich, auf welche Theorietraditionen wichtige Kategorien Metschers zurückgehen. Der Beitrag Ästhetik und Landschaft“ (239ff.) entwirft eine Naturästhetik „unter dem besonderen Gesichtspunkt der Landschaft“ (29).

Metscher formuliert den Anspruch an Systematizität seiner Ästhetik nicht explizit, sondern spricht von einem „systematischen Entwurf, doch ohne entwickeltes System“ (30). In den theoretischen Hauptteilen wird in einiger methodischer Strenge ein Kategoriensystem entfaltet, das ontologische, anthropologische, erkenntnistheoretische, historisch-gesellschaftliche und ästhetiktheoretische Fundierungen vornimmt, die durchaus systemischen Charakters sind.

Die Basiskategorien marxistischer Ästhetik sind gegenständliche Tätigkeit, Mimesis und Poiesis, Produktion und Rezeption, Form und Inhalt, Widerspiegelung, Historizität und Praxis. Diese Kategorien werden in großer Klarheit entfaltet und zwar so, dass auch Leser die nicht im philosophischen oder akademischen Ästhetik-Diskurs bewandert sind, eine Übersicht über die Problemstellung gewinnen und im Verlauf der Lektüre Kriterien ästhetischer Wertung kennen lernen. (Leider wurde darauf verzichtet, die lateinischen Ausdrücke zu übersetzen, was sicher manchen bei der Lektüre stört.) Da Metscher seine kunsttheoretischen Positionen meist aus der Beschäftigung mit konkreten Werken der Musik, der bilden Künste, dem Theater und der Literatur gewonnen hat, nennt er immer wieder Beispiele zur Verdeutlichung. Insbesondere Shakespeare, Goethe, Brecht und Peter Weiss, werden häufig erwähnt, aber auch Schostakowitsch, Eisler, Nono.

Metscher versucht, den gesamten Kunstprozess begrifflich zu bestimmen: Künstler, Material, Produktion, Werk, Vermittlung, Rezeption gehen in den Begriff der „Kunstverhältnisse“ ein. „Er bezeichnet den sozialen Raum, in dem der ästhetische Gegenstand situiert ist und der Kunstprozess stattfindet und damit auch die konkreten Bedingungen künstlerischer Produktion und Rezeption.“ (73) „Kunstprozess bezeichnet die Produktion und Rezeption von Kunst samt der Verhältnisse, in denen die Produktion und Rezeption von Kunst stattfindet, die die Produktion und Rezeption von Kunst bedingen.“ (87) In der Trias ‚Künstler – Werk – Rezipient’ sind alle Glieder gesellschaftlich determiniert und vermittelt, was nicht im Widerspruch zur „Autonomie der Künste“ steht (80).

Inhalt der Kunst, ihr Gegenstand, ist „allein die durch menschliche Erfahrung gegangene Wirklichkeit“ (171). Dieser Inhalt erscheint in künstlerischer Form, wobei der Inhalt nur genetisch Priorität hat. „So ist Form Funktion des Inhalts innerhalb der Fiktion, dass der Inhalt Funktion der Form sei.“ (167) In Kunstwerke geht menschliche Wirklichkeitserfahrung ein, die durch die künstlerische Form eine Bedeutungsveränderung erfährt („semantische Transformation“, 172). Daraus ergibt sich ein Bedeutungspotenzial, „eine eigenständige ästhetische Welt“ (ebd.,), welche in der Rezeption (die ein kommunikativer Akt zwischen Werk und Rezipient ist und nicht unabhängig von den individuellen Wirklichkeitserfahrungen des Rezipienten gedacht werden kann) erschlossen wird (oder eben auch nicht). Bei großen Kunstwerken ist dieser Prozess prinzipiell unabschließbar – eine abschließende Interpretation gibt es nicht.

In diesen Zusammenhang gehört auch die Kategorie der ästhetischen Wahrheit. Diese wird von wissenschaftlicher Wahrheit unterschieden und als „subjektiv“ bestimmt (235). „Ästhetische Wahrheit betrifft die Subjekte im Verhältnis zu Objekten: der gesellschaftlich-gegenständlichen Welt, in der sie leiden, sich freuen, tätig sind“ (ebd.). Subjektiv darf hier keinesfalls als beliebig aufgefasst werden. Metscher nennt zahlreiche Voraussetzungen, an welche ästhetische Wahrheit gebunden ist. Genannt seien hier nur Ethos und Weltanschauung, Authentizität, Katharsis, Möglichkeit (233ff.).

Wie auch in den zahlreichen vorangegangenen Veröffentlichungen zum Thema Kunst und Ästhetik (besonders Logos und Wirklichkeit 2010 [siehe Rezension in Z 89, März 2012] und Kunst. Ein geschichtlicher Entwurf 2012 [siehe Rezension in Z 96, Dez. 2013] will der Autor keine normativen Ansprüche an die Kunstproduktion stellen. Der Anspruch allerdings, dass Kunstwerke relativ einfach verständlich sein müssen, „ohne ‚Erklärung’“ (102), ist kritisch zu sehen. Kunst wird in einer ständig komplexer werden Realität gemacht, bildet diese auf ihre Weise ab. Gleichzeitig entwickeln sich Formen, Material, Bearbeitungsweisen usw. weiter. Sodann entstehen Werke nie ohne Beziehung auf vorangegangene. Das Postulat der Einfachheit (das schon bei Brecht auftaucht) wäre zu erläutern.

Die Stärke des Buches liegt klar auf der Seite der Produktion von Kunst und ihren Bedingungen. Hier erreicht die Analyse höchstes Niveau. Der Autor verliert dabei nie die Bindung an die Werke, argumentiert nur dort abstrakt, wo es geboten ist, bleibt bei der Definition der wichtigsten Begriff klar und prägnant. Die in den theoretischen Hauptteilen entfaltete Anschauung ist stringent argumentiert; zusammen mit den erläuternden Texten zu Hegel, Lukács und Holz ergibt sich ein umfassender Einblick in das gesamte Problemfeld. Dass die modernen Kunstformen (also die technischen und besonders die digitalen) keine Beachtung finden ist nur in Hinblick auf die „Singularität“ (208) bedeutsam, man denke besonders an die moderne Musik.

Mit den Kriterien ästhetischer Wertung verhält es sich anders. Die hier zum Teil verwendeten Begriffe sind nicht immer deutlich. „Ideologie“ oder auch „’objektive Geschmacksgesetze’“ (96) sind vor allem zu nennen. Wenn Weltanschauung, sei es die des Künstlers oder die des Rezipienten, Gradmesser für das Kunstwerk oder den Erfolg der Aneignung ist, wird das gesamte Wertungsproblem lediglich verlagert: Die „Konsumtion ist produktiv, sofern der Rezipient im Akt der Rezeption eine Welterkenntnis am Werk gewinnt, sie ist ideologisch, sofern in diesem Akt allein die Affirmation bestehender Herrschaftsverhältnisse erfolgt“ (88).

Die Stellung des Rezipienten im Kunstprozess ist eine aktive. Er weist dem Werk Bedeutungen zu, was ein subjektiver, nicht aber ein beliebiger Akt ist, der als Kommunikation mit dem Werk verstanden werden kann. Tritt der Rezipient welthaltiger Kunst gegenüber, kann es zu Fehlinterpretationen oder -rezeptionen kommen. Ästhetische Weltbilder mögen in die Werke eingeschrieben sein als Bedeutungspotenzial. Was aber sind die Anforderungen an die Rezeption, um dem Werk angemessen zu begegnen, diese Bedeutungen auch – zumindest teilweise – erschließen zu können ? Metscher anerkennt das subjektive Moment, „es gehört mit Notwendigkeit zum ästhetischen Urteil dazu“ (101). Gleichzeitig spricht er von „verstehender Aneignung“ (196) und von „produktiver, emanzipatorischer Rezeption“. Diese hat zur Voraussetzung den „Weltgehalt der Werke selbst, die Qualität der in ihnen gestalteten Weltsicht“ (94). Welche Voraussetzungen die Konsumenten von Kunst mitbringen müssen, wird nicht erörtert. Zumindest einige der vom Autor immer wieder gerne beispielhaft genannte „Meisterwerke“ (105) sind nicht ohne Erläuterung und Interpretationshilfe anzueignen (z.B. die Ästhetik des Widerstands oder der Doktor Faustus).

Die gesellschaftlichen Rezeptionsbedingungen sind dem Begriff der Kunstverhältnisse implizit. Die individuellen Voraussetzungen gelungener Rezeption (Kontemplation, Bildung und Wissen, Sinnlichkeit, Bereitschaft zur Kunsterfahrung usw.) sind nicht Gegenstand der Analyse. Gerade für den marxistischen Anspruch, der Kunst auch als Mittel zur Weltveränderung begreift, ist das ein Defizit, denn „man muss auch sehen wollen“ (Paul Klee).

Edgar Radewald

Neoliberaler Antifaschismus

Michael Sommer/Susann Witt-Stahl (Hrsg.), »Antifa heißt Luftangriff!« Regression einer revolutionären Bewegung, Laika Verlag, Hamburg 2014, 216 S., 21 Euro.

Für Antifaschisten gäbe es dieser Tage viel zu tun. Angesichts des europaweiten Erstarkens rechtspopulistischer und rechtsradikaler Parteien, der Kooperation deutscher Politiker mit Ultranationalisten in der Ukraine oder der Zunahme „roher Bürgerlichkeit“ (Heitmeyer) im Zuge des nachfordistischen Abbaus sozialer Sicherungen muss die Passivität vieler bundesdeutscher Antifaschisten jedoch verwundern – über kurzfristige Tagespolitik hinaus besteht offenbar ein Mangel an politischen Analysen und strategischen Konzepten. Schlimmer noch: Dass sich mittlerweile auch jede Menge Antifa-Gruppen und selbsternannte Ideologiekritiker mit linken und marxistischen Argumenten an der Mobilisierung für militärische Interventionen beteiligen und antikapitalistische Proteste wie z.B. Blockupy mit dem Verweis auf deren „verkürzte“, „personalisierte“ oder gar „strukturell antisemitische“ Kapitalismuskritik demontieren helfen, ist fatal.

„Offenbar tendiert eine radikal linke Bewegung zum Rückzug in die machtgestützte Innerlichkeit des Bürgertums“ (12), lautet der entsprechende Befund im Vorwort der Herausgeber, deren Band einige lesenswerte Streitschriften versammelt, um „grundlegende Kritik an der hegemonialen Theorie und Praxis des Antifaschismus in Deutschland zu formulieren und eine überfällige Debatte anzustoßen“ (13). Die zentrale These: Die Antifa-Bewegung entkoppelt Antifaschismus und Antikapitalismus und daraus resultiert bestenfalls strategische und politische Orientierungslosigkeit; zusehends übernimmt ihr Antifaschismus jedoch Elemente neoliberaler Ideologie und versteht Faschismus nicht mehr als Form bürgerlicher Herrschaft, sondern allein als irrationales Aufbegehren der Marginalisierten – gegen die sich der Aktivismus denn auch vorrangig richten muss.

Herausgeberin Susann Witt-Stahl macht in ihrem einleitenden Beitrag deutlich, auf was für Pfaden ein solcher Antifaschismus wandelt. Schon die Gründerväter des Neoliberalismus wie Hayek oder Lippmann hätten Faschismus wie auch Kommunismus als kollektivistischen Aufstand der Unterdrückten verstanden, dem man den freien Markt und bürgerliche Individualität entgegen setzen müsse. Anders als zu Zeiten rechter ‚Schlussstrich‘-Postulate würden sich deutsche Neoliberale eines solchen Antifaschismus heute für die „vergangenheitspolitische Umschuldung von oben nach unten“ (28) bedienen, die das deutsche Kapital von der Mitschuld am NS-Massenmord entlaste – Witt-Stahl erinnert darum an das sozialdarwinistische Weltbild, das Faschismus und Neoliberalismus gemein ist. Bundesdeutsche Antifaschisten hätten die bereits von Reinhard Opitz analysierte Strategie der „antikollektivistischen“ Gleichsetzung von Sozialismus und Faschismus jedoch verschlafen, falsch analysiert, oder sich sogar auf ihre Argumente eingelassen: Anhand diverser Beispiele übt Witt-Stahl scharfe Kritik an antifaschistischen Gruppen, die Faschismus auf falsches Bewusstsein reduzieren und sich zugunsten eines bürgerlichen Individualismus von antikapitalistischer Bewegungspolitik verabschieden.

Ein Großteil jener Antifaschisten, die Faschismus als projektive Revolte gegen die „abstrakte Herrschaft des Kapitals“ verstehen, beruft sich auf die faschismustheoretischen Thesen Moishe Postones. Diese Thesen unterzieht Mitherausgeber Michael Sommer einer detaillierten Kritik. Postone verwechsele Gegenstand und Methode in Marx' Analyse der Wertform und halte die Umschreibungen, die die methodisch gebotenen Abstraktionen in Marx’ Untersuchung begleiten („gespenstige Gegenständlichkeit“ usw.) für real existierende Attribute der Erscheinungsformen des Werts. Seine Rede von einer „Realität der Abstraktheit“ sei bar jeder Grundlage und seine Erklärung antisemitischer Ideologie beruhe auf bloßen Analogieschlüssen. Damit liefere seine Fehlinterpretation Teilen der linken und Antifa-Szene die Grundlage dafür, jede Unmutsäußerung gegen ‚konkrete‘ Übel bürgerlicher Herrschaft als ressentimentgeladen und potentiell antisemitisch zu denunzieren. Sommer fügt seinem Text einen Anhang bei, der die schrillsten Auswüchse dieser Art unterhaltsam dokumentiert.

Wird Faschismus zur antikapitalistischen Massenbewegung umgedeutet, folgt Matthias Rude zufolge nicht „nie wieder Faschismus“, sondern auch „immer wieder Krieg“ (101). Sein Beitrag zeichnet nach, wie Antifaschismus unter Beihilfe linker Stichwortgeber zur Legitimationsfigur militärischer Interventionen werden konnte. Von Enzensberger, der einst Saddam Hussein zum Wiedergänger Hitlers erklärte, über den rot-grünen Bellizismus zu Zeiten der Kosovo-Krise bis zur Pro-Kriegs-Position vermeintlich linker und antifaschistischer Gruppen nach 9/11 führe der Weg geradewegs in einen Antifaschismus, der für den kriegerischen Expansionsdrang des Kapitals längst keine Gefahr mehr darstelle.

Jürgen Lloyd führt anschließend aus, warum Faschismus als Form bürgerlicher Klassenherrschaft zu begreifen ist und wo die Fallstricke eines Antifaschismus liegen, der Bündnispolitik nur auf Grundlage von „Meinungen, moralischen Urteilen, abstrakt-menschlichen Werten und subjektiven Vorlieben“ (132) betreibt. Da das Monopolkapital nicht per se auf parlamentarisch-demokratische Verkehrsformen angewiesen sei, sei unter Umständen eben auch die faschistische Durchsetzung seiner Interessen eine Option. Dem sollten Antifaschisten mit antimonopolistischen Bündnissen begegnen; wer Faschismus auf ideologisches Bewusstsein reduziere, verschleiere den eigentlichen Zusammenhang.

Eine reale Tendenz zur Faschisierung geht für den Rechtsanwalt Eberhard Schultz weniger von organisierten Neofaschisten, sondern vom „umfassenden Aufbau eines autoritären Sicherheitsstaates“ (139) aus, dessen Entwicklung seit den 70er Jahren sein Beitrag nachzeichnet. Anders als das klassisch offen ‚antiterroristische‘ sei dessen Instrumentarium jedoch nicht offen repressiv und werde von den Betroffenen nicht nur akzeptiert, sondern mitunter sogar selbst gefordert. Solchen Formen „postmoderner Barbarei“ (150) müsse die Kritik antifaschistischer und linker Bewegungen gelten. In einem Sicherheitsstaat, dessen Antifaschisten sich bspw. auf ein NPD-Verbot beschränkten, würde sich Antifaschismus zum nützlichen Idioten repressiver Toleranz machen.

Maciej Zurowskis kritisiert die „Volksfront-Logik wider Willen“ (162), mit der deutsche und britische Antifaschisten Symptome zum eigentlichen Problem erheben und so die tatsächlichen Ursachen gesellschaftlicher Autoritarisierung unbeachtet lassen würden. Antifaschistische Linke sollten sich nicht an einzelnen „guten Zwecken“ abarbeiten, sondern „die diversen Fäulniserscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft im Rahmen einer umfassenden Strategie [...] behandeln, die letztlich auf eine komplette gesellschaftliche Umwälzung hinausläuft“ (ebd.). Der Text schließt mit Überlegungen zur Politik der KPD in der Weimarer Republik, die – im Kampf um die Mittelschichten – mitunter die argumentative Konfrontation mit den Hitlerfaschisten explizit gesucht hat.

Der Publizist Wolf Wetzel fragt anschließend nach der Sprach- und Hilflosigkeit der bundesdeutschen Antifa-Szene angesichts der Morde des Nationalsozialistischen Untergrundes. „Man müsste meinen, die Selbstbekanntmachung des NSU würde eine Hochphase antifaschistischer Bewegungen und Gruppen einläuten“ (173), doch das Gegenteil sei eingetreten. Wetzel kritisiert das linksradikale „...ums Ganze!“-Bündnis, die Antifa-Szene und das Berliner apabiz dafür, die wesentlichen Fragen nach dem Verhältnis von neofaschistischer Ideologie, Klassenherrschaft und Staatsinteressen nicht zu stellen; der Partei Die Linke bescheinigt er „freiwillige(s) Versagen“ (175) in ihrer oppositionellen Rolle.

Den Abschluss macht ein Gespräch zwischen Herausgeberin Witt-Stahl und dem israelischen Soziologen Moshe Zuckermann über den außenpolitischen „Antifaschismus“ der Bundesregierung, den Nahen Osten als deutsche Projektionsfläche und die affirmative Wendung der Kritischen Theorie, an der auch deutsche Antifaschisten rege beteiligt sind.

Der Sammelband zeigt „was Antifaschismus nicht sein darf“ (13) und übt wichtige Kritik an der bundesdeutschen Antifa-Bewegung. Wer sich dieser Tage einmal auf Expedition in die „autonomen Zentren“ oder „Antifa-Cafés“ der Republik begeben hat, weiß: Die von den Herausgebern eingeforderte Debatte hat die Linke bitter nötig.

John Lütten

Historisierung der Energiefrage

Bent Sørensen, A history of energy. Northern Europe from the stone age to the present day, Abingdon, New York 2012, 536 S., br., 46,- Euro

Sørensen hängt trotz einer naturwissenschaftlich-technischen Grundsicht keinem Ideal wertfreier Wissenschaft an, setzt dagegen subjektive Interpretationen gegen objektive Analyse von Ereignissen sowie Artefakten ab (525). Energiefragen sieht er als eingelassen in ihren allgemein-gesellschaftlichen Kontext. Wie in seinen energiepolitischen Interventionen seit den siebziger Jahren, z.B. gegen den Bau von Atomkraftwerken und in seinen klassischen Studien zu erneuerbaren Energien, schreckt er daher auch in diesem Buch nicht davor zurück, politisch Stellung zu nehmen und Vorschläge für eine bessere Verwaltung gemeinsamer Aufgaben zu machen.

Der vorliegende Band will analog zu dem vor wenigen Jahren etablierten Fach Umweltgeschichte zur Grundlegung eines Faches Energiegeschichte anregen. Dies geschieht am Beispiel der geschichtlich verschiedenen Art und Weise, wie die auf dem Territorium des heutigen Dänemarks ansässigen oder von ihm ausgewanderten Menschen ihre Naturressourcen gesellschaftlich genutzt haben. Gegenüber einem disparaten, oft bruchstückhaften und im Dunkel der Vorgeschichte umstrittenen Wissen versucht Sørensen Konsistenz durch mathematische Modellierung einerseits von Bevölkerungsbewegungen, andererseits von Energiebedarfen und Energieverausgabungen in einem schrittweise entfalteten, aktivitätsbezogenen Energiemodell zu erreichen.

Historischer Ausgangspunkt ist die umstrittene Frage eines Aufenthalts von Neandertalern zur Eem-Zwischeneiszeit (mit milderen Wintern) vor ca. 120.000 Jahren in Skandinavien (wenige Fundorte in Dänemark und Finnland). Bei einem dem heutigen Temperaturniveau ähnlichen Klima waren extrem kalte Winter zu überstehen, wozu der Verfasser Berechnungen über Techniken von Bekleidung und Behausung als Klimaschirm, die Logistik der Großwildjagd und -bergung sowie die Wirksamkeit von Holzfeuerung u.a. in Höhlen vorlegt. Besonderes Gewicht hat hier die Erörterung von Komponenten der Bevölkerungsentwicklung, da das Aussterben der Neandertaler unter klimatisch für sie nicht außergewöhnlichen Bedingungen vor ca. 35.000 Jahren bei ihrer relativ geringen Anzahl weder einem Mangel an Nahrungsquellen noch einer Konkurrenz mit modernen Menschen um diese geschuldet sei. Vielmehr empfiehlt Sørensen DNA-Analysen, um die Frage epidemischer Erkrankungen durch übertragene Keime zu klären, wie sie aus der Geschichte der europäischen Kolonisierung Amerikas bekannt sind (66f).

Von der Eem-Zeit bis 2009 entfaltet Sørensen für 17 Zeitpunkte eine doppelte Energie-Matrix, die einerseits Bruttobeträge (angelieferte Energie) und nach Abzug von Energieverlusten Nettobeträge ausweist (Nutzenergie). Hierbei wird durchgehend zwischen menschlicher Energie in Form von Nahrungsmitteln und Energie aus Brennstoffen sowie äußeren Energieflüssen unterschieden. Letztere werden in drei Temperaturstufen dargestellt und seit der späten Steinzeit auch als mobile oder stationäre, mechanische Energie ausgewiesen. Der ursprüngliche Katalog von Aktivitätsbereichen (unmittelbarer Lebenserhalt, Nahrungs- und Wasserbeschaffung, gesundheitsbezogene Einsätze, kollektive Arbeitsleistungen und Rohstoffbeschaffung) erweitert sich bei den modernen Menschen vor 40.000 Jahren um Sozialbeziehungen und Muße; und seit 8.000 Jahren, d.h. noch vor dem Seßhaftwerden mit landwirtschaftlichem Eigentum und sozialer Differenzierung, um nach außen gewendete Gewaltpotentiale. Diese Bereiche werden dann weiter ausdifferenziert und entwickelt, so dass im einzelnen erkenntlich wird, warum die gering schwankenden Energiebeträge des körperlichen Stoffwechsels etwa am Ende der Eisenzeit (um 600) von den extrasomatischen Netto-Energieumsätzen um das Dreifache, im 21. Jahrhundert aber um das 50fache übertroffen wurden. Bei den Brutto-Umsätzen ändert sich die Relation aufgrund energetischer Verluste von 1:4 auf 1:82.

Als Basis der Entstehung von Ungleichheit in der dänischen Agrargesellschaft vor etwa 6.000 Jahren sieht Sørensen den zur Akkumulation von Reichtum führenden Gegensatz von Landeigentümern und Bauern, der autoritative Regelsysteme und Ordnungsmächte, aber auch Religion als Rechfertigungsapparat mit sich führte (132). Hiermit verbunden zeigten sich Zeichen von Gewaltanwendung sowohl kurz vor als auch nach der verzögerten, dann aber bewussten Einführung landwirtschaftlicher Methoden aus dem Südosten Europas und Westasien. Um ihr bequemes Leben zu sichern, habe schon im Bronze-Zeitalter (vor 4000 bis 2500 Jahren) den Herrschenden eine Umverteilung ermöglichende Wachstums-Strategie als Alternative zu ideologischer oder gewaltmäßiger Abpressung von Arbeit anderer zur Verfügung gestanden (159).

Die Mittel für eine agrarbasierte Wachstumsstrategie waren aber noch längst nicht in Sicht. Die Bevölkerungsmenge erreichte zwar nach der Wikinger-Periode, zu der fast die Hälfte der Bevölkerung nach England, Frankreich usw. abflossen, um 1250 nahezu eine Million Einwohner. Nach geringen Rückgängen wurde diese Marke aber z.T. aufgrund langfristig rückläufiger Arealproduktivität (266) erst im 19. Jahrhundert wieder erreicht. Dazwischen gab es nicht nur Bevölkerungsverluste durch die Pest des 14. Jahrhunderts, sondern auch teilweise Verwüstungen ökologischer Potentiale z.B. durch Sandstürme an der Küste, welche die auf Marginalböden freigelegte Vegetation angriffen und denen erst im 18. Jahrhundert durch geeignete Anpflanzungen begegnet wurde (311ff). Einer Holzkrise wurde zu dieser Zeit durch Importe zu erschwinglichen Preisen vorgebeugt, wie auch die Holzverkohlung eine gelungene Vorbereitung auf die Kohlentechnologie darstellte (317).

Erst in der Zeit von 1800 bis 1950 unterhielt die Landwirtschaft eine Bevölkerung, die auf das Vierfache wuchs und exportierte im 20. Jahrhundert wesentliche Überschüsse (341). Sie war Ende des 19. Jahrhunderts auf animalische Produkte umgestellt worden, wobei Dampfmaschinen in die Infrastruktur genossenschaftlicher Einrichtungen eingingen. In den Städten wurden diese Technologien dagegen von Beginn an für kapitalistische Industrialisierung verwendet. Sørensen hebt als kennzeichnend eine „gestiegene Anwendung von Maschinerie” hervor, „welche die mit dem Prozess befassten Menschen dazu zwingt, in einem von der Technologie bestimmten Takt zu arbeiten statt einer Organisation, die menschlichen Bedürfnissen nach Pausen und einer Kontrolle der Arbeitsabläufe entspräche” (338). Ein intensiver 12-Stunden-Tag herrschte vor. Der Bevölkerungskonzentration in großen Städten folgte erst nachträglich die kommunale Hygiene (361). Bei einem um 25 Prozent gegenüber 1800 erhöhten Energieumsatz ist die Anwendung menschlicher Arbeit, gerechnet in Brutto-Energie per capita, um 1900 sieben Prozent geringer (377f). Die fast 10.000 ländlichen Windmühlen, die es seit 1700 gab und zu denen seit 1900 ca. 100 elektrizitätsproduzierende Mühlen kamen, wichen ab 1950 zusammen mit letzteren kohlebasierter städtischer Produktion. Erst nach der Ölpreiskrise von 1973 erreichten elektrizitätsproduzierende High-Tech-Windmühlen bis Ende des 20. Jahrhunderts wieder die frühere Anzahl (390). Die Strom- und Wärmeversorgung des Landes wurde dabei von einem monopolistischen Dutzend größerer Kraftwerke um 1970 unter Zukoppelung dieser Windmühlen und Tausender dezentraler Heizkraftwerke bis 2009 auf ein flexibles Netz umgestellt (417).

Der Zubau von Atomkraftwerken wurde nach gründlichen Informationskampagnen, denen Sørensen als Nuklearphysiker seit 1972 zugearbeitet hatte, 1985 von einer grünen Mehrheit im dänischen Parlament verworfen. Stattdessen kam trotz liberalistischer Widerstände nach der Öl- auch die Erdgasförderung zum Zuge, wobei letztere hohe Investitionen der öffentlichen Hand erforderte. Heute fragt Sørensen, wie es möglich war, dass die dänischen Regierungen gegen Ende des Ölbooms den Überschuss aus der Ausbeutung heimischer Ressourcen verschwendet haben, statt den Übergang zur begrenzten Nutzung erneuerbarer Energien umfassend vorangetrieben zu haben (511). Da er die Verschleuderung der Mittel für gestiegenen alltäglichen Verbrauch als Wahlkampfmotiv durchaus sieht, zielt seine Frage mehr auf systemische Antworten wie Änderungen im post-fordistischen gewerblichen Sektor und die Unterordnung des intellektuellen Lebens unter dessen Imperative. Politisch-strukturelle Veränderungen veranlassen ihn, Vorschläge für einen erweiterten Katalog von individuellen Menschenrechten und -pflichten vorzulegen (519f), hierunter umfassende Bildung für gemeinsame Handlungsfähigkeit. Eine zukünftige Gesellschaft könnte mit einem Arbeitstag von 1-2 Stunden auskommen (522). Was aber gründliches Umdenken und -lernen statt solcher Primitivismen wie der Rückkehr zu offener Verfeuerung von Holz und Biomasse voraussetze. Hoffnungen setzt Sørensen auf einen fortgesetzten Dialog zwischen Vorkämpfern des Prinzips Vorsicht und wagemutigen sowie risikowilligen Akteuren (525). Wer aus den dänischen Erfahrungen zu Fragen der Energiewende lernen will, erhält hier einen geographisch-historischen Reiseführer, der zur Historisierung der Energiefrage auffordert.

Rolf Czeskleba-Dupont

Gute Arbeit als demokratische Arbeit

Klaus Pickshaus, Rücksichtslos gegen Gesundheit und Leben. Gute Arbeit und Kapitalismuskritik – ein politisches Projekt auf dem Prüfstand, VSA-Verlag, Hamburg 2014, 173 S., 14,80 Euro

Der Begriff der „Guten Arbeit“ hat in den vergangenen 15 Jahren eine erstaunliche Karriere gemacht. Den Gewerkschaften ist es gelungen, mit der Zielsetzung „Gute Arbeit“ der herrschenden Doktrin „sozial ist, was Arbeit schafft“ eine arbeitspolitische Initiative entgegen zu stellen, die die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten, also qualitative Aspekte von Arbeit, in den Mittelpunkt rückt. Dass „Gute Arbeit“ im Mainstream des politischen Diskurses angekommen ist, lässt sich als erfolgreiches Agenda Setting begreifen, birgt aber auch das Risiko, dass der Begriff an Kontur verliert und der Beliebigkeit anheimfällt: Irgendwie sind jetzt alle für Gute Arbeit (wie auch für gutes Wetter), fraglich ist allerdings, was darunter verstanden wird, welche Voraussetzungen dafür notwendig sind, und welche Faktoren eigentlich dazu führen, dass viele Beschäftigte unter schlechten Bedingungen arbeiten müssen.

Pickshaus hat die Debatten um Gute Arbeit in den vergangenen Jahren maßgeblich mitgeprägt. Beim Vorstand der IG Metall leitete er in den Jahren 2003 bis 2007 das Projekt Gute Arbeit und stand bis 2014 dem Bereich Arbeitsgestaltung und Qualifizierungspolitik vor. Er war zudem gewerkschaftlicher Vertreter in verschiedenen arbeitspolitisch relevanten staatlichen Gremien. Mit seinem Buch legt Pickshaus zum einen eine Zwischenbilanz der gewerkschaftlichen Kampagnen – insbesondere der IG Metall – für eine humane Gestaltung der Arbeitswelt seit den 2000er Jahren vor. Er beschränkt sich jedoch nicht auf eine Rückschau, sondern entwickelt zum anderen Überlegungen für eine strategische Neuausrichtung der Gewerkschaftspolitik, in der die demokratische Gestaltung der Arbeit einen zentralen Stellenwert einnimmt. Gerade diese Ausrichtung macht das Buch zu einem wichtigen Bezugspunkt für aktuelle und künftige gewerkschaftspolitische Strategiedebatten.

Pickshaus stützt seine Ausführungen auf aktuelle Erkenntnisse der arbeits- und gesundheitswissenschaftlichen sowie industriesoziologischen Forschung zum Zusammenhang von Arbeitsbedingungen und ihren entwicklungs- und gesundheitsrelevanten Konsequenzen. Der Ausgangspunkt und rote Faden der Darstellung ist in dem Marx-Zitat enthalten, das bereits im Titel des Buches Verwendung findet, nach dem das Kapital „…rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters [ist], wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird“. Pickshaus argumentiert, dass die Aussage nicht nur für die Phase der Industrialisierung Gültigkeit besaß, wo mit der Fabrikgesetzgebung in England dem Kapital erstmals politische Regulierungen der Arbeitsbedingungen aufgezwungen wurden. Auch aktuell zeigen sich bekannte und neuartige „zerstörerische Wirkungen“ der Arbeitswelt, die nur durch den Widerstand der Betroffenen und den entsprechenden politischen Druck einzudämmen sind. Dabei sind verschiedene Ebenen der politischen Regulierung mit je unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen und Wirkungspotentialen zu beachten. Die Realisierung von Guter Arbeit bedarf sowohl der Steuerung im Betrieb, als auch auf der tariflichen und gesetzlichen Ebene – nicht zuletzt auch im Kontext der Europäischen Union, die im Bereich des Arbeitsschutzes weitreichende Kompetenzen besitzt.

Der Bedarf an der Regulierung von Arbeitsbedingungen ist in den vergangenen Jahren angestiegen. Die Durchsetzung finanzmarktgetriebener Steuerungsmodelle und Managementkonzepte in den Unternehmen sowie die Deregulierungs- und Kommodifizierungsprogramme in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik haben den Druck auf die Beschäftigten und ihre Arbeitsbedingungen erhöht. Auch wenn dies in Abhängigkeit von Branche, Unternehmensgröße und –strategie zu unterschiedlichen Auswirkungen führen kann, lassen sich einige zentrale Entwicklungstrends benennen: Ein starker Anstieg psychosozialer Belastungen (arbeitsbedingter Stress) durch Arbeitsintensivierung und Zeitdruck, während gleichzeitig die klassischen körperlichen Belastungen bestehen bleiben; die Zunahme qualifizierter Tätigkeiten mit relativ großer Autonomie in der Arbeitsausführung bei gleichzeitig hohem Druck hinsichtlich der zu erzielenden Ergebnisse; in anderen Bereichen eine Retaylorisierung von Arbeitsbedingungen (kurze Zeittakte, repetitive Abläufe), verbunden mit den entsprechenden Gesundheitsrisiken; die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen mit einem hohen Maß an Unsicherheit und Belastungen für die Betroffenen (30).

Unter dem Druck, kurzfristige Renditesteigerungen zu erwirtschaften, die Produktivität zu erhöhen und die Arbeitskosten zu senken, sind Beschäftigte, Interessenvertretungen und Gewerkschaften arbeitspolitisch in die Defensive geraten. Pickshaus entwirft hier das Szenario eines „gegentendenziellen Projekts“, „das vor allem die gesundheitlichen, sozialen und arbeitsinhaltlichen Interessen der Beschäftigten zu Geltung bringt“ (51). Entgegen mancher Stellungnahme z.B. aus den Krankenkassen oder den Gesundheitswissenschaften verweist Pickshaus jedoch darauf, dass es sich hierbei nicht automatisch um eine „Win-Win-Situation“ handelt, in der gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen gleichzeitig die Produktivität und Effizienz des Unternehmens erhöhen. Solche Interessenüberschneidungen und -kompromisse sind zwar denkbar, häufig ist jedoch gerade die Begrenzung des Wettbewerbsdrucks, z.B. durch branchen- und strukturpolitische Regulierungen, die Voraussetzung für die Schaffung arbeitspolitischer Gestaltungsspielräume. Dann sind nicht die „gemeinsamen wettbewerbspolitischen Interessen“ von Kapital und Arbeit, sondern „konfliktorische Aushandlungsprozesse“ die Voraussetzung für eine Regulierung im Sinne Guter Arbeit.

Um hier strategiefähig zu sein, schlägt Pickshaus einen Ansatz vor, der die „Arbeitskraft- und Subjektinteressen der Beschäftigten und die Stärkung von Humanisierungsstandards“ ins Zentrum rückt. (74). Dabei wird die Wettbewerbsfähigkeit des Betriebes als „Überlebensbedingung auf profitgesteuerten Märkten“ anerkannt, „jedoch nicht zum zentralen Strategieziel erhoben“. Die Durchsetzung arbeitspolitischer Standards geschieht in dieser Vorstellung auf der Basis gewerkschaftlicher Strategie- und Durchsetzungsfähigkeit und muss zugleich „durch das Nadelöhr von Interessenkompromissen zwischen Kapital und Arbeit zuwege gebracht werden“.

Als Herausforderungen und Beispiele für diesen anspruchsvollen arbeitspolitischen Strategieansatz der Gewerkschaften führt Pickshaus verschiedene Gestaltungsfelder und Kampagnen der IG Metall an: Die Stärkung wirtschaftsdemokratischer Einflussmöglichkeiten durch einen öffentlichen Beteiligungsfonds, mit dem Investitionsentscheidungen, aber auch arbeitspolitische Entwicklungen beeinflusst werden können; die Begrenzung des Ökonomisierungs- und Leistungsdrucks auf die Beschäftigten, u.a. durch die Einführung einer Anti-Stress-Verordnung; den beteiligungsorientierten Ausbau des Arbeitsschutzes und der Betrieblichen Gesundheitsförderung; die Intervention betrieblicher Interessenvertretungen in Restrukturierungsprozesse; eine Arbeitszeitpolitik, die der Entgrenzung Grenzen setzt und die Zeitsouveränität der Beschäftigten stärkt; eine Anti-Prekarisierungspolitik, die die unterschiedlichen Prekaritätsrisiken im Verlaufe einer Erwerbsbiographie berücksichtigt und problemadäquate Lösungsansätze verfolgt. Für all diese Handlungsfelder benennt Pickshaus Regulierungsansätze auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene und Kampagnenbeispiele wie etwa die IG Metall-Initiative „Gute Arbeit – gut in Rente“, in deren Rahmen sowohl die alter(n)sgerechte Gestaltung von Arbeit als auch flexible Übergänge in der gesetzlichen Rentenversicherung und die nachhaltige Finanzierung lebensstandardsichernder Altersbezüge eingefordert werden.

Fast wie ein Querschnittsthema zieht sich die Frage der Beteiligungsorientierung durch den Band. Angemessene Antworten auf die formulierten Herausforderungen können nur unter Einbeziehung der Beschäftigten und ihrer (disparaten) Interessenlagen formuliert werden. Pickshaus betont daher die Notwendigkeit einer „Arbeitspolitik von unten“, bei der die Beschäftigten als Experten ihrer eigenen Arbeitssituation zu Akteuren werden. Dies macht die Aufgabe für betriebliche Interessenvertretungen und Gewerkschaften nicht leichter. Der Abschied von einer reinen Stellvertreterpolitik ist jedoch sowohl im Interesse einer arbeitskraftzentrierten strategischen Ausrichtung notwendig als auch für die Mobilisierungs- und Durchsetzungsfähigkeit arbeitspolitischer Initiativen. Moderne Konzepte der Leistungssteuerung in den Unternehmen, die auf die Entfesselung der subjektiven und kreativen Potentiale der Beschäftigten setzen, bieten dabei möglicherweise Ansatzpunkte. Wo einerseits die Aktivierung und das umfassende Engagement der Beschäftigten eingefordert wird, ihre Entwicklungs- und Gestaltungsmöglichkeiten jedoch immer wieder an die Grenzen des ökonomischen Verwertungskalküls stoßen, entstehen Widersprüche und Konfliktlagen, die im Sinne einer demokratischen Gestaltung der Arbeit aufgegriffen werden können.

Klaus Pickshaus hat einen kenntnisreichen und instruktiven Text vorgelegt, der a) den aktuellen Stand der arbeits- und gesundheitswissenschaftlichen Forschung referiert, b) diesen in die Analyse der Entwicklungstendenzen des modernen Kapitalismus einbettet, c) die strategischen Herausforderungen für eine gewerkschaftliche Arbeitspolitik beschreibt und d) mit dem arbeitskraftzentrierten Ansatz eine Strategie formuliert, die den Anspruch verfolgt, den Gestaltungsanspruch der Gewerkschaften nicht auf den engen Spielraum zu beschränken, der ihnen durch die (vorgeblichen) Zwänge des Marktes zugewiesen wird. Dabei handelt es sich um ein sehr ambitioniertes Projekt, das sicherlich der weiteren Zuspitzung bedarf.

Rolf Schmucker

Ökonomie, Staat, Demokratie

Demokratisierung von Wirtschaft und Staat. Studien zum Verhältnis von Ökonomie, Staat und Demokratie vom 19. Jahrhundert bis heute. Herausgegeben von Axel Weipert, NORA Verlagsgemeinschaft, Berlin 2014, 230 S., 19,-- Euro

Der Band beinhaltet Beiträge einer Konferenz vom 23. Februar 2013 zum Thema: „Demokratie – Wirtschaft – Staat: Demokratische Transformation als Strategie der Linken“. Veranstalter war der „Förderverein für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin, mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Anlass für die Konferenz war der 80. Geburtstag der Historikerin Ulla Plener, die sich, wie die in den Anhang aufgenommene Publikationsliste belegt, intensiv mit der Thematik „Demokratisierung der Wirtschaft“ auseinandergesetzt hat.

Die Jubilarin stellte 14 Thesen zur Diskussion, die eine solide Basis für die folgenden Beiträge der Konferenzteilnehmer schufen. Plener ging davon aus, dass die Forderung nach Wirtschaftsdemokratie von der sozialistisch orientierten Arbeiterbewegung seit Anfang des 20. Jahrhunderts erhoben wurde. Sie wurde vom Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) von 1919 bis 1933 als Konzept formuliert und verfochten. Die Forderung nach Wirtschaftsdemokratie bedeutete keinen Verzicht auf sozialistische Ziele und keinen Verzicht auf Sozialismus. Eine vollendete Wirtschaftsdemokratie ohne sozialistisches System könne es nicht geben. Plener geht auch darauf ein, dass die KPD das Konzept für die Wirtschaftsdemokratie als „reformistisch“ ablehnte. Im Widerspruch zu dem Beitrag von Sebastian Zehetmaier im vorliegenden Band, geht Plener davon aus, dass das Konzept nicht scheiterte, es sei vielmehr infolge des Machtantritts der Nazis nicht verwirklicht worden. Der Wirtschaftskrise der Jahre 1929 bis 1933 folgte der gewaltsame Abbruch jeglicher Bemühungen um die Demokratisierung der Arbeitsverhältnisse. Der DGB habe nach 1945 die Forderung nach Wirtschaftsdemokratie wieder aufgegriffen und in seine Programme von 1949, 1963 und 1981 aufgenommen, aber seit den 60er Jahren kaum offensiv vertreten. Immerhin wurde in der Bundesrepublik das in der Weimarer Zeit entwickelte sozialstaatliche Instrumentarium in allen wesentlichen Punkten verwirklicht. Unter Bezugnahme auf Hans Mommsen werden genannt: Das Arbeits- und Tarifrecht, das System der Arbeitslosenversicherung, die Arbeitsschutz- und Arbeitszeitregelung und der Komplex der Betriebsverfassung. Nach dem Scheitern des Realsozialismus erlahmte die Debatte um die Wirtschaftsdemokratie. Seit Beginn der Wirtschaftskrise kam in jüngster Zeit die Diskussion in den Gewerkschaften des DGB und unter den Linken erneut in Gang. In der Gegenwart gebe es kein geschlossenes Konzept der Wirtschaftsdemokratie. Allerdings zeigten solche Beispiele wie das Strike Bike System eines Fahrradherstellers in Nordhausen (Thüringen) Neuansätze einer Selbstverwaltung durch die Beschäftigten. Außerdem sei eine Vielzahl von „Einstiegsprojekten“ entstanden, so z.B. um die Energieversorgung den Konzernen zu entziehen und sie in öffentlicher, vor allem kommunaler Regie zu erhalten und auszubauen. Plener hält ein übergreifendes Bündnis für die Demokratisierung von Wirtschaft und Staat für erforderlich. Alex Demirović knüpft mit seinem Beitrag „Wirtschaft und Demokratie“ direkt an diesen Gedanken an. Der Staat mit seinem Gewalt- und Entscheidungsmonopol könne demokratische Prozesse untergraben. Er müsse in die Demokratisierung einbezogen werden; denn Wirtschaftsdemokratie ziele auf eine Einschränkung der wirtschaftlichen und politischen Macht der Kapitaleigentümer.

Volkmar Schöneburg geht in seinem Beitrag „Der demokratische und soziale Rechtsstaat – Anspruch und Wirklichkeit“ bis zur französischen Revolution zurück, die den Begriff „demokratischer und sozialer Rechtsstaat“ erstmals prägte. In der Weimarer Zeit habe die durch das Kaiserreich geprägte Justiz die sozialstaatlichen Ansprüche aus dem Verfassungstext in Formeln ohne Inhalt umgedeutet. Nach dem 2. Weltkrieg hätten sich in Volksentscheiden in Sachsen und Hessen über 70 Prozent der Bevölkerung für die Enteignung und Sozialisierung ausgesprochen. Selbst die CDU habe im „Ahlener Programm“ von 1947 sich für einen „Sozialismus aus christlicher Verantwortung“ ausgesprochen. Die Autoren des Grundgesetzes seien sich darin einig gewesen, dass die Formel vom „demokratischen und sozialen Rechtsstaat“ kein bloßes Aushängeschild ohne Inhalt ist. Michael R. Krätke sprach zum Thema „Eine andere Demokratie für eine andere Wirtschaft“. Seine Analyse mündete in dem Satz: „Der Schritt zur Wirtschaftsdemokratie bedeutet unweigerlich eine Revolution.“ (62)

Ralf Hoffrogge bietet einen kurzen Abriss der Ideen zur Wirtschaftsdemokratie in der deutschen Arbeiterbewegung. Das Augenmerk lenkte er auf die ganz neue Synthese von Planungs- und Demokratiegedanken 1918: die Vision der Räterepublik und die Entwicklung des Konzeptes der Wirtschaftsdemokratie in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Eine Erweiterung des Gedankens der Wirtschaftsdemokratie sieht Hoffrogge mit dem Regierungsantritt von Willy Brandt. Jedoch wurde in der Regierungszeit von Brandt keine grundsätzliche Erweiterung der Mitbestimmung erreicht.

Gisela Notz befasst sich mit der Genossenschaftsbewegung, wobei sie fünf Genossenschaftssektoren ausmacht: Konsumgenossenschaften, Wohnungsbaugenossenschaften, gewerbliche Genossenschaften, Genossenschaftsbanken und ländliche Genossenschaften. In der DDR sei die Genossenschaftspolitik am erfolgreichsten auf dem Landwirtschaftssektor gewesen (LPG). Bei der Herstellung der deutschen Einheit sei deren Umwandlung in Vermögensgesellschaften befördert worden; der eigentliche Genossenschaftsgedanke sei dabei in den Hintergrund getreten. Hingegen gestaltete sich die Gründung von Energiegenossenschaften als Teil der Energiewende besonders dynamisch, Ausdruck von Bürgerengagement und Partizipation der Verbraucher.

Der Herausgeber Axel Weipert erinnert an die Berliner Betriebsrätezentrale 1919/1920, die darauf abzielte, Betriebsräte perspektivisch zur Leitung von Unternehmen zu befähigen. Sebastian Zehetmaier äußert sich zu den theoretischen Voraussetzungen der wirtschaftsdemokratischen Strategie in der Weimarer Republik. Er zieht das Fazit, dass die Theoretiker des „organisierten Kapitalismus“ die andauernde Instabilität der Weltwirtschaft ebenso unterschätzt, wie sie die Stabilität der politischen Demokratie und den Einfluss der Sozialdemokratie auf den bestehenden Staat überschätzt hätten. Kamil Majchrzak und Sarah Graber Majchrzak behandeln die begrenze Arbeiterselbstverwaltung und Betriebsdemokratie in der Volkrepublik Polen. Dietmar Lange beleuchtet die Konzepte der Gewerkschaftslinken in den 1960er und 1970er Jahren in Italien und in der Bundesrepublik. Michael Hewener wirft die Frage nach der Möglichkeit von Wirtschaftsdemokratie im Staat des Kapitals auf. Die Falschannahme beginne dort, wo so getan werde, als ob Wirtschaftsdemokratie etwas sei, dass mit der gegenwärtigen Gesellschaft zu tun hätte. Er warnt in Anknüpfung an Johannes Agnoli vor Sozialstaatsillusionen. Abschließend lenkt Jörg Roesler den Blick auf das Entstehen von Selbstverwaltungsbetrieben in Argentinien unter dem Druck des Internationalen Währungsfonds am Beginn des 21. Jahrhunderts, die allerdings trotz ihrer vergleichsweise großen Verbreitung nur ein Nischendasein in der argentinischen Wirtschafts- und Arbeitswelt führen.

Die Tagung wies auf wichtige Ansatzpunkte hin und zeigte, wie groß die Forschungslücken sind. Sie bestärkte allerdings zu der Annahme, dass vom Kapital dominierte Gesellschaften wandelbar sind. Veränderungen werden bewirkt durch die Entwicklung der Produktivkräfte und unter dem Druck demokratisch-sozialer Bewegungen. Auch eine Transformation in nicht-kapitalistische Verhältnisse ist nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil, auf sie muss hingewirkt werden.

Siegfried Prokop

1 Einzelheiten zu den wissenschaftlichen Arbeiten und zur Biografie des Autors sind im 2. Halbband der Arbeit wiedergegeben.

[1] MEW 23, S. 153.

[2] Wieso sie aber dafür z.B. Elmar Altvater kritisieren, der den Begriff „selbstreferenziell“ zwar gebraucht, aber noch im selben Satz darauf hinweist, dass auch „abgekoppelte Finanzinstitute … von den produzierten Überschüssen der produzierenden Ökonomie“ abhängig sind, bleibt unklar. „Selbstreferenziell“ wird hier im oben erläuterten Sinne eines Ponzi-Spiels gebraucht. Vgl. Elmar Altvater, Über vielfältige Ursachen der kapitalistischen Krisen und einfältige Politik. In: Krisen-Analysen, Hamburg 2009, S. 14.

[3] Vgl. MEW 23, S. 152, Fn. 99.

[4] Wolfgang Krumbein, Vom Scheitern der großen Kapitalismustheorien im Angesicht von Jahrhundertereignissen, in: Analysen. Online-Publikation des Arbeitskreis Kritische Regionalwissenschaft, Nr. 4 (2009).

1 Die Leibniz-Sozietät veranstaltete am 7. und 8. Dezember 2012 zur Ehrung von Klaus eine wissenschaftliche Konferenz, deren Protokollband lag bis Redaktionsschluss noch nicht vor. Vgl. den Bericht in Z 93, März 2013, S. 183 ff.

2 Michael Eckardt (Hg.): Georg Klaus: Mensch-Maschine-Symbiose. Ausgewählte Schriften von Georg Klaus zur Konstruktionswissenschaft und Medientheorie (mit einem einleitenden Text des Herausgebers: Georg Klaus, Versuch einer Einführung in Leben und Werk aus medientheoretischer Perspektive, S. 9-27) Weimar 2002.

3 Vgl. Georg Klaus: Einführung in die formale Logik, 1958; Moderne Logik. Abriß der formalen Logik, 1964; Spezielle Erkenntnistheorie. Prinzipien der wissenschaftlichen Theoriebildung, 1965.

4 Vgl. Georg Klaus: Philosophie und Einzelwissenschaften, 1958; Spieltheorie in philosophischer Sicht, 1968.

5 Gotthard Günther: Das Bewußtsein der Maschinen. Eine Metaphysik der Kybernetik, 1957.

6 Michael Franz: „Die marxistischen Klassiker sind keine Kirchenväter“. Die Zeichenspiele des Philosophen Georg Klaus. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften, 59. Jg. (2013), H. 2, S. 204-223, hier S. 205. Vgl. Georg Klaus: Kybernetik in philosophischer Sicht, 1961; Kybernetik und Gesellschaft, 1964; Kybernetik und Erkenntnistheorie, 1966; Hg.: Wörterbuch der Kybernetik, 1967; Kybernetik – eine neue Universalphilosophie der Gesellschaft?, 1973.

7 Vgl. Georg Klaus: Semiotik und Erkenntnistheorie, 1963; Die Macht des Wortes, 1964; Sprache der Politik, 1971; Rationalität – Integration – Information, 1974.

8 Georg Klaus: Ist Philosophie, sind Philosophen erforderlich? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 12. Jg. 1964, H. 3, S, 327f.

9 Georg Klaus: Kybernetik und Erkenntnistheorie, S. 282.

10 Dieter Wittich: Was ich noch gesagt haben wollte. Zum Erinnerungs-Kolloquium an die Leipziger Erkenntnistheorie, Leipzig 30. April 2005. In: Monika Runge (Hg.): Erkenntnistheorie in Leipzig. Ein Beitrag zur Universitäts- und Philosophiegeschichte. Dieter Wittich zum 75. Geburtstag, Leipzig 2006, S. 7-21, hier S. 10.

11 Dieter Wittich / Alfred Kosing: Über den Gegenstand der marxistischen Erkenntnistheorie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 15 (1967), H. 12, S. 1397-1417.

12 In einem ausführlichen biographischen Artikel prüfte Franz die Anwendbarkeit von Erkenntnissen der Zeichentheorie von Klaus auf die Ästhetik: „Die marxistischen Klassiker sind keine Kirchenväter“. Die Zeichenspiele des Philosophen Georg Klaus. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften, 59. Jg. (2013), H. 2, S. 204-223.