Gegenmacht entwickeln, Anpassungspolitik stoppen

von Ekkehard Lieberam
Dezember 2014

Anfang der neunziger Jahre nach dem Zusammenbruch des europäischen Realsozialismus sprach Eric Hobsbawn vom „globalen Nebel“, durch den sich „die Bürger des Fin des siècle einen Weg … in das dritte Jahrtausend bahnten“. Mit „Gewissheit“ wüssten sie nur, „daß ein historisches Zeitalter zu Ende gegangen war.“[1] Heute blicken wir als Marxisten zurück auf eine seit dem Ende dieses „Zeitalters der Extreme“ unter uns geführte intensive Diskussion um Erscheinungen und Wesensmerkmale einer damals offenbar werdenden neuen Epoche. Das ist der Ausgangspunkt für eine Diskussion um eine taugliche Handlungsorientierung im Kampf für eine andere Welt und für eine sozialistische Gesellschaft unter neuen historischen Umständen.

Sowohl bei der Lageanalyse als auch hinsichtlich der Handlungsorientierung sind Unsicherheiten und Kontroversen unübersehbar. Im Ringen um das Erkennen der geschichtlichen Vorgänge ist das Streiten um tragfähige Positionen immer hilfreich. Nicht hilfreich ist das Beharren auf Konzepten wie dem des friedlichen Hineinwachsens in den Sozialismus, die sich schon in der Vergangenheit als untauglich erwiesen haben. Wertungen haben in Übergangszeiten unvermeidlich den Charakter von Hypothesen. Vergangene Gewissheiten kann man nicht einfach fortschreiben. Aber es wäre verhängnisvoll, die Erkenntnisse des vorangegangenen Zeitalters zu entsorgen. Bei allem Neuen haben wir es mit einer Epoche zu tun, in deren Mittelpunkt die kapitalistische Produktionsweise steht, deren Entwicklung und der Kampf um ihre Überwindung.

Ihr Niedergang geht einher mit der Entfesselung der Produktivkräfte wie auch mit einer Intensivierung der Destruktivkräfte. Dies geschieht gegenüber dem vergangenen Zeitalter unter veränderten sozialen und politischen Bedingungen. Ein Scheitern im Kampf für eine durchaus erkennbare positive Zukunft ist möglich. Die tiefe Krise des subjektiven Faktors legt nahe, dass dies eine ernste Gefahr ist. Aber „die Alternative zu einer umgewandelten Gesellschaft … ist Finsternis.“[2]

Kapitalismus in einer finalen Krise?

Vieles deutet darauf hin, dass der Beginn einer neuen globalen Epoche schon mit der Weltwirtschaftskrise 1973/1974 angesetzt werden muss. Ein prosperierendes Modell der Kapitalakkumulation, der „Fordismus“, verlor an Schwung und geriet in eine anhaltende Krise. Der Zusammenbruch des europäischen Realsozialismus 1989 bis 1991 sowie Wandlungen der Klassenmachtverhältnisse und der internationalen Beziehungen sind aus dieser Sicht Begleiterscheinungen wichtiger Veränderungen in der kapitalistischen Produktionsweise selbst.

Erstens kam es zu Beginn der siebziger Jahre zu einem deutlichen Rückgang der Durchschnittsprofitrate in der gewerblichen Wirtschaft. Sie lag in Japan, den USA und Deutschland in den fünfziger Jahren zwischen 20 und 35 Prozent; in den achtziger Jahren zwischen zehn und 20 Prozent und in den Neunzigern zwischen 5 und 15 Prozent.[3]

Zweitens müssen wir heute von einer Zeit der „Großen Spekulation“ ohne absehbares Ende sprechen. Die Weltwirtschaftskrisen bis 1929 begannen mit einem Zusammenbruch der Spekulation und einer darauf folgenden Kreditkrise. Nunmehr kam es zu einer anhaltenden Spekulation und deren Ankoppelung von der Realwirtschaft. Die Gewinne aus Finanzgeschäften lagen von 1948 bis 1985 zwischen sieben und 18 Prozent. Im Jahre 2004 waren es 41 Prozent.[4]

Drittens können wir seit der Krise 1973/1974 ein „Durcheinander der Bewegung“ von Konjunktur und Krise[5] beobachten. Die Überproduktionskrisen verloren teilweise ihre Reinigungsfunktion. Die Staatspolitik setzt auf Rettung der großen Banken. Eine Erholung nach Konjunktureinbrüchen findet kaum noch statt. Es kommt zu wirtschaftlichen Talfahrten. Das BIP stieg in der BRD in den siebziger Jahren noch um 2,9 Prozent, im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts um 0,9 Prozent.

Viertens gehört zur Gangart des heutigen Kapitalismus, dass er ohne fortwährende staatliche Schuldenmacherei nicht mehr existieren kann. Ausgeglichene Staatshaushalte gab es im Unterschied zur großen Krise von 1929 vor der Krise 2009 fast nirgendwo. Danach gingen die Staatsschulden steil nach oben, in den USA ab 2008 innerhalb von vier Jahren um 45 Prozent auf 16,4 Billionen Dollar, in der EU um 30 Prozent. Der Gestaltungsraum künftiger Konjunkturprogramme in akuten Krisenzeiten ist geringer geworden.

Es ist die Frage zu beantworten, was das innere Geheimnis dieser und weiterer Erscheinungen in den Bereichen des Sozialen und der Politik (Explosion der sozialen Ungleichheit, neoliberale Offensive des Kapitals) ist.

Vieles spricht dafür, dass mit der mikroelektronischen Revolution der materiellen Produktivkräfte jene „gewisse Stufe ihrer Entwicklung“ erreicht wurde, da die Produktionsverhältnisse aus „Entwicklungsformen … in Fesseln derselben“ umschlagen.[6] Diese Stufe begann in den siebziger Jahren. Auch 40 Jahre danach sind wir offenbar immer noch an ihrem Anfang. Eine geradezu welthistorische Tragödie war, dass kurz nach deren Beginn der 1917 erfolgte große Ausbruch der Sowjetunion und acht weiterer Länder aus dem Kapitalismus sein Ende fand.

Es war der 2012 verstorbene marxistische Philosoph und Krisentheoretiker Robert Kurz, der eine recht überzeugende Periodisierung der Geschichte des Kapitalismus vorlegte und dabei eine plausible Antwort auf die Frage nach der verborgenen Grundlage seiner heutigen Krisensituation gab. Danach ist nach der ersten und zweiten industriellen Revolution (Ersetzung des Handwerkszeugs durch Maschinenaggregate, rationelle Gestaltung des Raums zwischen Maschinenaggregat und Produzententätigkeit) und zwei Transformationsphasen (nach den Großen Depressionen von 1873 und 1929) nunmehr der Kapitalismus in eine „Degenerationskrise“ eingetreten. Die dritte industrielle Revolution sei dadurch gekennzeichnet, „menschliche Arbeitskraft im industriellen Produktionsprozess überhaupt überflüssig zu machen“.[7] Infolge dessen habe „das auf der Vernutzung lebendiger Arbeit gründende Werteverwertungssystem seine Fähigkeit zu einer selbsttragenden Ausdehnung eingebüßt.“[8] Eine Aufschwungphase nach einer neuen „Transformation“ werde es nicht geben.

Epoche der Unsicherheiten und der Vorherrschaft des Kapitals

Die vermutlich das gesamte 21. Jahrhundert prägende Verfallskrise der kapitalistischen Produktionsweise ist schon jetzt durch Unsicherheit, Zivilisationsverfall und Bedrohungen unterschiedlicher Art gekennzeichnet. Sie geht einher mit der Zuspitzung der Klassengegensätze, mit erhöhter Kriegsgefahr und neuen Angriffen auf die Ökosphäre, überhaupt mit der Verschärfung des Widerspruchs zwischen den Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung und den Interessen der Konzerne und Banken. Sie hat das Potential für jähe Wendungen der globalen Situation, der Lage in den Nationalstaaten und Regionen. Szenarien eines „krachenden Kapitalismus“ deuten sich an. Nicht in Sicht ist ein Ende der in den letzten Jahrzehnten erfolgten Kontrolle der „Finanzindustrie“ über weite Teile der Wirtschaft. Unübersehbar ist die anhaltende Tendenz eines ungleichmäßigen Verlaufs der Krise in den verschiedenen Staaten und Staatengruppen.

In der bipolaren Welt des Kalten Krieges war der USA-Imperialismus einer der zwei Hauptakteure der Systemauseinandersetzung. Heute ist er das Zentrum der globalen Kapitalherrschaft in einer unipolaren Welt. Es deutet sich bereits jetzt an, dass diese Welt im 21. Jahrhundert wieder bipolare Züge annehmen wird, denn gegen die Sonderrolle der USA entwickelt sich erkennbar Widerstand. Die USA verfügen über fast 40 Prozent des Waffenarsenals der Welt. Sie beherrschen die NATO und haben die EU weitgehend unter ihrer Kontrolle. Die Politik der USA zielt erkennbar darauf ab, die Russische Föderation und die Volksrepublik China ihrer Hegemonie zu unterwerfen. Die Gegenwehr dieser und weiterer Staaten (wie Brasilien, Indien und Südafrika) ist unübersehbar und organisiert sich mittlerweile in unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Bündnissen wie der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Die weitere Entwicklung der internationalen Beziehungen wird maßgeblich von der politischen Stabilität und dem wirtschaftlichen Aufstieg der Volksrepublik China abhängen, deren weitere gesellschaftliche Entwicklung offen ist.

Das politisch markanteste Merkmal der Verfallskrise des Kapitalismus ist auch nach vierzig Jahren die anhaltende politische Schwäche der arbeitenden Klasse, sowohl international wie in fast allen kapitalistischen Ländern. Regional ist lediglich in Teilen Südamerikas ein Kampf um eine Veränderung der Machtverhältnisse und um eine sozialistische Gesellschaft in Gang gekommen. Stabile Herrschafts- und Hegemonialverhältnisse zu Gunsten des Kapitals[9] bestehen in den Bereichen der alten und neuen Medien, der Ideologie und der Politik. Sie werden gestützt durch eine verstärkte Segmentierung der arbeitenden Klasse, durch Individualisierung und politische Apathie und durch Strukturen des sozialstaatlichen Klassenkompromisses, wie er im 20. Jahrhunderts erkämpft wurde. Im Alltagsbewusstsein gelten die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit oft als Sozialpartnerschaft und der Parlamentarismus als Zentralachse der Politik.

Strategische Hauptaufgabe: Schaffung von Gegenmacht

Ausgangspunkt einer tragfähigen sozialistischen Handlungsorientierung ist eine illusionslose Sicht auf diesen Zustand der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse. Daraus folgt als wichtigste strategische Aufgabe, die bestehenden Klassenmachtverhältnisse zu verändern und geistig-kulturelle, gewerkschaftliche und politische Gegenmacht zu schaffen. Unvereinbar damit sind Transformationskonzepte eines evolutionären Übergangs ohne revolutionäre Klassenkämpfe und Umbrüche.

Was sind wichtige Eckpunkte einer solchen Strategie?

Strategisch geht es darum, dass die arbeitende Klasse sich im Kampf gegen die neoliberale Kapitaloffensive und gegen die hegemonialen Herrschaftsverhältnisse aus dem Schlepptau der Bourgeoisie befreit. Sie muss lernen, den „täglichen Kleinkrieg“ gegen das Kapital mit einer erneuerten Kapitalismuskritik zu verbinden.[10] Ihre Organisationen und Parteien müssen die Verteilungsfrage, die Demokratiefrage, die Friedensfrage und die ökologische Frage, aber auch zeitgemäß die Eigentumsfrage und die Machtfrage stellen. Notwendig ist ein tragfähiges Klassenprojekt des Kampfes für soziale und politische Verbesserungen und grundlegende gesellschaftliche Veränderungen.

Unser Problem in Deutschland ist keineswegs, dass ein solches Projekt fehlt. Es ist unter anderem im Erfurter Programm der LINKEN vom 11. November 2011 entwickelt worden. Das Problem liegt darin, dass es keine Massenmobilisierung für dieses Projekt gibt und dass die Haupttendenz in der praktisch-politischen Arbeit der Partei dieses Programms dahin geht, auf Anpassung, auf Einordnung in den herrschenden Politikbetrieb zu setzen.

Damit steht mit neuer Deutlichkeit die Organisationsfrage. Eine den Aufgaben gemäße gewerkschaftliche und politische Organisiertheit der arbeitenden Klasse kann sich nur in den politischen Kämpfen herausbilden, sicherlich als Allianz unterschiedlicher Kräfte. Es geht dabei immer auch um das Sammeln und Vernetzen der Kräfte mit einer klaren Klassenorientierung, unabhängig in welchen Organisationen sie tätig sind. Ohne eine marxistische Partei mit Masseneinfluss wird der politische Kampf gegen die neoliberale Kapitaloffensive, gegen den intensiven Klassenkampf von oben auf Dauer nicht erfolgreich sein können.

Unumgänglich ist die Präzisierung von zwei Eckpunkten der strategischen Debatte. Zum einen geht es darum, die Überlegungen zu Übergangsprogrammen und Übergangsstrategien (so auf dem 3. und 4. Kongress der KI) zu aktualisieren. Zum anderen wird sich mit dem Fortschreiten der Verfallskrise der kapitalistischen Produktionsweise unweigerlich die Frage eines zukunftstauglichen, modernden Sozialismusmodells stellen: mit überzeugenden Konzepten für eine sozialistischen Demokratie und ein funktionsfähiges ökonomisches System.

[1] Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München/Wien 1997, S. 688.

[2] Ebenda, S. 720.

[3] Vgl. Schaubild von Thomas Konicz, Das Ende des „Goldenen Zeitalters“ des Kapitalismus, in: Ekkehard Lieberam, Kapitaloffensive in der Krise, Bergkamen 2010, S. 51.

[4] Vgl. Tabelle 16655 nach Simon Johnson, www.jahnke.net.

[5] Vgl. Jürgen Kuczynski, Was wird aus unserer Welt? Berlin 1997, S. 40.

[6] Karl Marx, Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: MEW Band 13, Berlin 1972, S. 9.

[7] Robert Kurz, Schwarzbuch des Kapitalismus, Frankfurt am Main 1999, S. 617.

[8] Ernst Lohoff, Replik auf Lucas Zeise, Marxistisches Forum, Heft 66, April 2013, S. 31f.

[9] Vgl. Frank Deppe, Widerstand, soziale Bewegungen und Gewerkschaften im Kapitalismus der Gegenwart, in: Z 61 (März 2005), S. 7-21.

[10] Vgl. Hans-Jürgen Urban, nach: D. Behruzi, Keine Windstille, in: junge Welt v. 6. 10. 2014, S. 3.