Marx-Engels-Forschung

China als neues Zentrum der internationalen Marxforschung

Dezember 2010

Marcello Musto von der York Universität in Toronto/Kanada hat in China eine zweiwöchige Folge von Kolloquien organisiert, an der Forscher aus Kanada (Marcello Musto und George Comninel), den USA (Norman Levine), England (Terell Carver), Japan (Hiroshi Urchido und Kenji Mori) und Südkorea (Geongjin Jeong) teilgenommen haben. Einlader und Gastgeber waren dankenswerterweise die Fudan Universität in Schanghai, die Chinesische Akademie für Sozialwissenschaften (CASS), das Zentrale Sammel- und Übersetzungsbüro in Peking (CCTB), die Nanjing Universität und die jeweiligen Fakultäten und Verwaltungen dieser Institutionen als Partner des Kolloquiums.

Zwischen dem 16. und 29. Juli fanden vier Symposien statt, wobei jedes einen anderen Gegenstand im Denken von Marx behandelte. An der Fudan Universität wurde am 21.Juli das Thema: „Marx und die zeitgenössische Gesellschaftstheorie“ behandelt; an der CASS ging es am 22. Juli um „Die Wiederaufnahme der Marx-Engels-Gesamtausgabe“; am CCTB behandelten die vorgelegten Papiere am 24. und 25. Juli das Thema „Karl Marx’ Grundrisse 150 Jahre später“; an der Nanjing Universität drehten sich die Vorträge um „Marx’ Grundrisse lesen – heute“. In den vier Veranstaltungen wurden mehr als 50 Papiere vorgestellt. Die Debatten mit unseren chinesischen Partnern eröffneten neue Einsichten in den Prozess der Entwicklung des zeitgenössischen chinesischen Marxismus.

Anlass für diesen internationalen Dialog war die Veröffentlichung der chinesischen Übersetzung des Buches „Karl Marx’ Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie 150 Jahre später“, herausgegeben von Marcello Musto und erstmals erschienen 2008 beim Verlag Routledge Press, New York. Die chinesische Übersetzung wurde von der angesehenen Renmin University Press herausgebracht.

Die Offen-Tür Politik von Deng Xiaoping

Die chinesischen Universitäten haben mit Nordamerika, Europa, Japan und Südkorea eine offene Debatte über die marxistische Theorie begonnen. Die Tatsache, dass unsere Delegation in den oben genannten vier Forschungszentren willkommen war zeigt, dass die chinesischen Universitäten diesen Dialog fortsetzen möchten. Die am internationalen Kolloquium vorgelegten Papiere über Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie im Zeitraum von 1843 bis zu den ‚Grundrissen’ befassten sich mit neuen philologischen Dokumenten der MEGA (2) (Marcello Musto), mit dem ‚Feuerbach’-Kapitel der ‚Deutschen Ideologie’, das von David Ryazanov aus verschiedenen Notizen von Marx zusammengestellt worden war (Terrell Carver), historischem Materialismus und vorkapitalistischen Produktionsweisen in den ‚Grundrissen’ (George Comninel), und dem ‚organischen Bild’ bei Hegel und dessen Einfluss auf Marx’ Darstellungsmethode in den ‚Grundrissen’ (Norman Levine). Diese wurden von den chinesischen Wissenschaftlern bei voller Redefreiheit und in Anerkennung der Fruchtbarkeit von Kontroversen aufgenommen.

Der gegenwärtige Nordamerikanisch-Europäisch-Japanisch-Südkoreanische Dialog wird durch die Tatsache erleichtert, dass die MEGA(2) gerade ins Chinesische übersetzt wird. Außerdem wird die Verbreitung des westlichen Marxismus unter den chinesischen Intellektuellen durch ein Programm der CCTB gefördert. Dies ist eine von der Regierung unterstützte Organisation, die sich mit der Übersetzung von Büchern westlicher und asiatischer Marxisten ins Chinesische beschäftigt.

Derzeit beginnt eine jüngere Generation von Dozenten an den chinesischen Universitäten in den Vordergrund zu treten, die Mao-Tse-Tungs Kulturrevolution nicht mehr erlebt haben. Indem diese jüngeren Doktoranden die wirtschaftliche und intellektuelle Globalisierung des Internets nutzen, schließen sie ihre PHDs im Westen mit Unterstützung von Stipendien der chinesischen Regierung ab. Die Doktoranden beschäftigen sich mit Themen wie „Jürgen Habermas und die Frankfurter Schule“, „Antonio Gramsci und das Konzept der Hegemonie“, „Ryazanov und die MEGA(1)“, „Jean Baudrillard und die Post-Moderne“ sowie „Hegels Einfluss auf das Marxsche Denken“. Mao Tse Tungs Politik der geschlossenen Tür liegt im Mülleimer der Geschichte.

Die begrenzte Aneignung des westlichen Marxismus

Die zeitgenössische Sinifizierung des Marxismus hat eine neue Epoche in der Geschichte der Marx-Wissenschaft eröffnet. Nach den Originalschriften von Marx begann die erste Epoche der Marx-Interpretation mit der Zweiten Internationale; ihre zweite Epoche bildete sich mit der Dritten Internationale und der Sowjetunion unter Stalin heraus. In der dritten Epoche, d.h. der zeitgenössischen Sinifizierung, strebt China – größtenteils – deren Befreiung von Stalin’schen Dogmen an. China sieht sich dabei einer Opposition von zwei Seiten gegenüber: Während die Marxologie des Sowjet-Stalinismus praktisch verschwunden ist, beansprucht der Kanon des Dialektischen Materialismus noch immer seinen Stellenwert.

Da es im Rahmen dieses Berichts unmöglich ist, jedes der 50 Papiere vorzustellen, werden hier fünf chinesische Texte ausgewählt, die dem Leser einen Eindruck von den zeitgenössischen chinesischen Forschungsrichtungen geben können.

Ein Vortrag in Peking, gehalten von Prof. Dong Wang, Vorsitzender der Abteilung Philosophie der Universität Peking, behandelte den Einfluss Hegels auf Marx. Dang Wang zufolge schuldet Marx Hegel Anregungen in dreierlei Hinsicht: 1) die Betrachtung der Universalgeschichte der Welt; 2) Freiheit als letztes Ziel der Weltgeschichte; 3) Identifizierung der Dialektik von Produktionsmitteln und Produktionsweise als Triebkraft der Weltgeschichte. Ein weiteres Papier, das an der Nanjing Universität präsentiert wurde, trug den Titel: „Eine Interpretation der ‚Konsum Gesellschaft’: Karl Marx’ Entwicklungsperspektive und seine aktuelle Bedeutung“. Darin zeigte sich Zhengdong Tang, Professor an der Abteilung für Philosophie, als ausgewiesener Kenner des Post-Modernismus von Jean Baudillard. Prof. Xingfu Wang, stellvertretender Direktor am Zentrum für zeitgenössischen Marxismus im Ausland, sprach über „Marx’ Einfluss auf die Gesellschaftstheorie und dessen Bedeutung“, wobei er zeigte, wie Marx’ Klassenanalyse die Soziologie von Max Weber verdrängte. Der Präsident der Wuhan Universität, Hailiang Gu, stellte am CCTB ein Papier vor mit dem Titel: „Drei Formen menschlicher Entwicklung und die volle Entfaltung von Individuen: Eine Untersuchung zu Marx’ wertvollsten Gedanken in den ‚Grundrissen’“. Demnach sei die volle Emanzipation des Menschen erst im Sozialismus möglich. Prof. Kejian Lu vom CCTB in Peking stellte in seinem Papier die Frage „Gibt es einen Widerspruch bezüglich der materialistischen Geschichtskonzeption zwischen den ‚Grundrissen’ und dem ‚Vorwort’ zu ‚Ein Beitrag zur Kritik der Politischen Ökonomie?“. Er machte auf aufschlussreiche Weise darauf aufmerksam, dass Marx in den ‚Grundrissen’ die sozialen Beziehungen in den Mittelpunkt stellte, während er im ‚Vorwort’ von 1859 den Schwerpunkt stärker auf den Widerspruch von Produktionsmitteln und Produktionsweise legte. Prof. Lu zufolge wurde diese Unstimmigkeit im Dialektischen Materialismus des ‚Kapital’ überwunden.

Angeregt und ermutigt durch diesen Nordamerikanisch-Europäisch-Japanisch-Südkoreanischen Diskurs über Marxismus planen Musto und Comninel nun weitere Veranstaltungen. Um den trikontinentalen Meinungsaustausch zu fördern wird Nordamerika sich revanchieren und eine chinesische Delegation einladen. Außerdem soll 2012 eine Anthologie mit Aufsätzen nordamerikanisch-europäisch-japanisch-südkoreanischer Forscher erscheinen, um die Ergebnisse des trikontinentalen Seminars zu verbreiten. Der Titel der Anthology wird „China und der Westen: Dialoge über Marx“ lauten und international vertrieben werden.

(Übersetzung: Jörg Goldberg)