Buchbesprechungen

Friedrich Engels 1891-1895 in der MEGA

von Rainer Holze zu MEGA I/32
September 2010

Karl Marx/Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA), Erste Abteilung, Werke ∙ Artikel ∙ Entwürfe, Band 32, hrsg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung Amsterdam. Karl Marx/Friedrich Engels, Werke - Artikel - Entwürfe, März 1891 bis August 1895, bearb. von Peer Kösling, mit einer Einleitung von Till Schelz-Brandenburg, Akademie Verlag, Berlin 2010, Text 528 S., Apparat 1040 S., 198,- Euro

„Wenn man das Glück hatte, vierzig Jahre lang mit einem Mann wie Marx zusammen zu arbeiten, so wird bei dessen Lebzeiten gewöhnlich nicht so anerkannt, wie man es zu verdienen glaubt; stirbt der Größere, so wird der Geringere leicht überschätzt – & das scheint mir grade jetzt mein Fall zu sein“, schrieb Friedrich Engels in einem Brief am 14. Juni 1893 an Franz Mehring zur Einschätzung von dessen „Lessing-Legende“. Engels meint speziell Mehrings Ausführungen über den historischen Materialismus, in denen er ihm mehr Verdienst zugeschrieben habe als ihm zukomme. Diese Haltung war einer der typischen Wesenszüge von Friedrich Engels, der am 5. August vor 115 Jahren verstarb. Über dessen über 100 Arbeiten aus seinem letzten Lebensjahrfünft ist unlängst der jüngste MEGA-Band erschienen, in den auch weitere Texte aufgenommen wurden, an denen Engels in irgendeiner Weise mitgewirkt hat.

Der vorliegende Band hat eine längere Vorgeschichte. Er war zunächst von 1986 bis 1993 von einer Editorengruppe der Friedrich-Schiller-Universität vorbereitet worden. Nach mehrjähriger Unterbrechung wurde er an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften auf den Weg gebracht. Peer Kösling überarbeitete grundlegend die vorgefundenen Vorarbeiten entsprechend den revidierten Editionsrichtlinien, ergänzte sie wesentlich, bereicherte sie durch die Berücksichtigung der neuesten Forschungsergebnisse und legte das Gesamtkonvolut vor. Manfred Neuhaus (Leiter der Arbeitsgruppe MEGA bei der obigen Akademie), Claudia Reichel und Hanno Strauß begutachteten und überarbeiteten es, um dann die aufwendige Endredaktion und die umfangreichen Korrekturdurchsichten vorzunehmen. Sie wurden dabei von Gerald Hubmann, Uwe de la Motte, Richard Sperl (alle Berlin), Till Schelz-Brandenburg (Bremen) – seine Bandeinführung ist exzellent – und Christine Weckwerth unterstützt (Anfertigung von speziellen Expertisen, Prüfung einzelner Kommentarteile).

Im Einzelnen beinhaltet der Band 16 Einleitungen sowie Vor- und Nachworte zu Schriften von Karl Marx und von ihm selbst, 29 Abhandlungen zu Themen der Zeitgeschichte (darunter drei Interviews), vier mitverfasste bzw. mit unterzeichnete Erklärungen sowie ein Dubiosum, sieben biografische Dokumente, 32 Schreiben an Organisationen und Gruppierungen der Arbeiterbewegung (in erster Linie Grußbotschaften zu Jahres- und Parteitagen), zwei Aufzeichnungen von Gesprächen und zehn von Engels redigierte Übersetzungen eigener und Marxscher Arbeiten. Darüber hinaus wurden auch die beiden Engelsschen Artikel zur Ur- und Frühgeschichte „Ein neu entdeckter Fall von Gruppenehe“ sowie „Zur Geschichte des Urchristentums“ aufgenommen. Von den erwähnten Arbeiten sind drei Erstveröffentlichungen, kurze Manuskripte in französischer Sprache. Drei weitere Dokumente werden zum ersten Male in der Sprache des Originals veröffentlicht, einige Texte des Anhangs werden seit ihrer Erstveröffentlichung noch zu Lebzeiten Engels´ jetzt wieder allen zugänglich gemacht. Bei etwa 25 Prozent der Dokumente konnten die Daten gegenüber früheren Ausgaben genauer bestimmt werden. Last, not least werden bei 18 Arbeiten – im Unterschied zu anderen Ausgaben – authentische Textgrundlagen (in der Regel Originalhandschriften) für den Abdruck ausgewählt. Texte, die der Form nach von Engels als Briefe verfasst wurden, sind unter der Voraussetzung aufgenommen, dass sie entweder für eine Veröffentlichung vorgesehen waren oder durch Adressaten und Inhalt den Charakter eines offiziellen Schreibens trugen. Das Kriterium für die Aufnahme von Gesprächsaufzeichnungen (in Auszügen) waren deren zeitnahe (1895) Veröffentlichung und dass der Textzeuge in einem bestimmten Umfang direkte Äußerungen von Engels wiedergab. Die Aufnahme der Übersetzungen der Arbeiten von Marx und Engels durch dritte Personen in den Anhang erfolgte nur bei Vorlage eines unverkennbaren Nachweises (der Engelsschen Zustimmung zur Veröffentlichung, seiner Einflussnahme auf den Übersetzungstext, was natürlich einen Vergleich der Übersetzung mit dem Originaltext einschloss). In diesem Zusammenhang konnten zum ersten Male auch Sachverhalte ans Tageslicht gefördert werden, die es gestatteten, eine deutsche Übersetzung von „La situation en Italie“ (490-493) aufzunehmen.

Der umfangreiche Apparat zu den einzelnen Dokumenten weist folgende Bestandteile aus: die Entstehung und Überlieferung (einschließlich Zeugenbeschreibung), das Varianten- und Korrekturenverzeichnis, die Erläuterungen und – bei den editierten Übersetzungen – das Verzeichnis von Abweichungen der Übersetzung von der ursprünglichen Fassung. Der Band erschließt sich durch die zahlreichen Register und Verzeichnisse, durch die Namens-, Literatur- und Sachregister sowie das Verzeichnis der im Apparat ausgewerteten Quellen und der benutzten Literatur.

Um die vielfältige Mitarbeit von Engels an verschiedenen Publikationsorganen der internationalen Arbeiterbewegung zusammenhängend sichtbar zu machen, schließt sich nach der Einführung des Bandes die Darstellung „Der Publizist Friedrich Engels und seine Foren“ („Die Neue Zeit“ – sein intellektuelles Forum –, der „Vorwärts. Berliner Volksblatt“ als dem Zentral-Organ der deutschen Sozialdemokratie, die französische „Le Socialiste“, die österreichische „Arbeiter-Zeitung“ sowie die italienische „Critica Socialiste“) an. Insgesamt ist zu berücksichtigen: Die in diesem Band dokumentierten Publikationen stellen größtenteils nur das halbe Werk von Engels im Betrachtungszeitraum dar, war er doch bis zum Oktober 1894 intensiv mit dem dritten Band des „Kapitals“ beschäftigt.

Aus Platzgründen können hier nur einige der wichtigsten Arbeiten Engels Erwähnung finden. So wird der Text des Bandes mit Engels Einleitung zur dritten deutschen Auflage (1891) von Karl Marx’ „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ eingeleitet, in der er die Kernaussage entwickelte, dass die Pariser Commune das Vorbild für das Endziel der Sozialdemokratie sei, nicht unbedingt in allen Maßnahmen, aber in der „endlich gefundenen Form“ der Machtausübung der Arbeiterklasse. Seine Artikelserie „Kann Europa abrüsten?“ von 1893 zeigt, wie sehr ihn Rüstung und Kriegsgefahr auch dann noch bewegten, als Missernte und Hungersnot in Russland und fehlgeschlagene russische Staatsanleihen auf dem französischen Kapitalmarkt die kriegerischen Ambitionen des Zarenreiches gedämpft hatten. In „Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland“ (1894/95), seine letzte eigenständig publizierte Arbeit, wies er nach, dass eine Bestandsgarantie für kleinen Landbesitz (auch für die Handwerksmeister) unvereinbar mit dem Programm und den Grundsätzen der Sozialdemokratie ist. Der Untersuchung der Revolutionsproblematik, dem Nachgehen der Frage, welche neuen Probleme der Emanzipationsbewegung des Proletariats, ihrer „historischen Mission“ im Wege stehen und wie diese dennoch bewerkstelligt werden können, widmete sich Engels in seiner letzten größeren Publikation, der „Einleitung“ (1895) zu Marx’ „Die Klassenkämpfe“ in Frankreich 1848 bis 1850“. Es war nicht zufällig, dass diese bemerkenswerten schriftlichen Zeugnisse von Friedrich Engels zu seinen Lebzeiten zuerst in deutschen Publikationen veröffentlicht wurden. So dachte er bekanntlich bei all seinen taktischen und strategischen Überlegungen in jener Zeit vor allem an die Siegerin über Bismarck, die deutsche Sozialdemokratie, „die er in seinen letzten Lebensjahren zeitweilig kurz vor der Erfüllung ihrer historischen Mission sah, die Gesellschaft umzuwälzen.“ (Einführung, 582) Zu keinem anderen sozialistischen Politiker hatte er ein persönlicheres Verhältnis als zu August Bebel. Es waren zwei intellektuelle Repräsentanten der deutschen Partei, Eduard Bernstein und Karl Kautsky, die für Engels nach eigener Bekundung die einzigen waren, die er für die Fortführung seiner Arbeiten an Marx’ literarischem Nachlass heranziehen konnte.

Insgesamt ist der neue Band eine unerschöpfliche Fundgrube für alle Engels-Interessenten und auch -kenner. Er bestätigt u.a. bisherige Einschätzungen, dass Engels nach der Gründung der II. Internationale die wirkliche Internationale der europäischen Arbeiterbewegung verkörperte. Bereichert werden unsere Erkenntnisse über den Gedankenreichtum von Friedrich Engels, dem – wie auch diese Edition eindrucksvoll belegt – eine realitätsferne und formelhafte Sprache fremd war, der „ein politischer Schriftsteller von weiter Bildung und Kenntnis“ (Einführung, 583), ein hervorragender Stilist war. Durchaus zureffend formulierte der Bremer Steinbergschüler Till-Schelz-Brandenburg am Ende seiner Einführung: „Die dogmatische Kanonisierung zu einem der unantastbaren Marxismuspäpste wurde gerade seiner facettenreichen Persönlichkeit in keiner Weise gerecht.“ Er habe, hebt er hervor, sich „gerade in seinen letzten Lebensjahren insbesondere in den einschlägigen Briefen“ um die Weiterentwicklung des historischen Materialismus bemüht. Doch Oberkommandierender der Theorie zu sein, habe der „General“ nie gewollt. Seine Intention war vielmehr, Anreger zu sein, Empfehlungen zu geben.

Rainer Holze