Buchbesprechungen

Freiheit und Jobgesellschaft

von Andreas Fisahn zu Lars Niggemeyer
Juni 2010

Lars Niggemeyer, Gesellschaft und Freiheit bei Hannah Arendt, PapyRossa Verlag, Köln 2008, 111 S., 12 Euro

Eine der schillerndsten politischen Autorinnen der Nachkriegszeit ist sicherlich Hannah Arendt. Ihre Überlegungen über „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ wurden von der politischen Rechten in Anspruch genommen und zu einer intellektuell eher schlichten Gleichsetzung von links und rechts, von „sozialistischen“ und faschistischen Herrschaftstypen verhackstückt. Arendts Analyse ist hier erheblich differenzierter. Sie unterscheidet die totalitäre Herrschaft Stalins und Hitlers, die mit Blick auf die Methoden der Aus- und Gleichschaltung des Individuums verglichen werden können, ebenso von poststalinistischen Herrschaftsformen wie von anderen reaktionären Diktaturen. Die Perspektive ist für Arendt das Individuum oder besser die Ausschaltung des Individuums in der Masse.

Umgekehrt hat die gesellschaftliche Linke Arendts Analysen zu Demokratie und Revolution in „über die Revolution“, wo sie den Standpunkt einer permanenten Revolution einnimmt und für eine rätedemokratische Organisation des politischen Systems plädiert, mehr oder weniger unbeachtet gelassen in der Sorge, aus dem Mainstream der parlamentarischen Demokratie in der BRD herauszufallen und das Zeichen des Verfassungsfeindes tätowiert zu bekommen. Dieses Tattoo wurde und wird von den Staatsschutzapparaten der BRD sehr freimütig vergeben, wenn sich emanzipiert Widerständiges rührt.

Für die aufmüpfig gewordenen Söhne und Töchter des deutschen Bürgertums, die verstanden hatten, dass die Zeiten des preußischen Kadavergehorsams endgültig vorbei waren und als Grüne nun mit der reformierten Repräsentanz deutscher Bourgeoisie ihre spezifische Wiedervereinigung begehen – für diese war Arendt oftmals der Einstieg in den Ausstieg – den Ausstieg aus Marx. Die sozialen Konflikte, Klassenauseinandersetzungen und die Interessen sozialer Gruppen treten bei Arendt so schön in den Hintergrund zugunsten einer Kritik der Massengesellschaft, der Arbeitsgesellschaft und der Ent-individualisierung.

Arendt schreibt: „Theoretisch ist innerhalb der Neuzeit zu unterscheiden zwischen einem Frühstadium, in welchem das ‚egoistische’ Einzelleben, bzw. das Primat egoistischer Interessen und den Triebfedern des Handelns, im Mittelpunkt des modernen Weltbildes stand, und der späteren, von Marx entworfenen Gesellschaftstheorie, in welcher diese noch personal gebundenen Triebfedern zu Gesellschaftskräften werden, die als Klassenkampf nun wirklich das Gattungsleben des Menschengeschlechts bestimmen und in seine historische Entwicklung treiben. Der ‚gesellschaftliche Mensch’ in einer ‚vergesellschafteten Menschheit’ deutet auf ein Endstadium der Gesellschaft, in denen es auch Klasseninteressen nicht mehr gibt, sondern nur das eine, alles beherrschende und dirigierende Interesse, dessen Subjekt erst die Klasse und dann die klassenlose Menschengesellschaft ist, aber niemals mehr der Mensch oder die Menschen. Damit verschwindet die letzte Spur von Handeln aus dem Tun der Menschen, nämlich die Triebfeder, die immerhin noch in den egoistischen Interessen am Werke ist.“ (Arendt, Vita activa, S. 409)

Lars Niggemeyer gestaltet das Bändchen „Gesellschaft und Freiheit bei Hannah Arendt“ als „Dialog zwischen Arendt und Marx“, da Arendts Begriffe der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Entwicklung nicht ohne Rückgriff auf Marx zu verstehen sei. Niggemeyer versucht gleichsam eine Versöhnung von Arendt und Marx, die zu einer Akzentverschiebung der Interpretation beider Philosophien führt: Bei Arendt wird die Kritik der kapitalistischen Expropriation gestärkt, dann das politische, verständigungsorientierte Handeln als ihr zentrales Anliegen hervorgehoben, das auf eine befreite Gesellschaft angewiesen sei, auf gesellschaftliche Strukturen, die keine Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse kennen. An dieser Stelle hilft Marx, indem Niggemeyer seine ökonomischen Analysen aus dem Zentrum nach hinten rückt. Sie werden gleichsam zum Mittel, um die Schranken und Begrenzungen eines öffentlichen, verständigungsorientierten Handelns aufzuzeigen, die ganz dialektisch durch politisches Handeln durchbrochen werden können – oder sollen?

„In den Räten“, resümiert Niggemeyer Arendts Überlegungen, „kann sich das Prinzip der Öffentlichkeit weltlich manifestieren, d.h. es können sowohl die menschlichen Angelegenheiten als auch die Menschen selbst in ihrer Pluralität erscheinen. Erst hier können Menschen aus dem diffusen Zwielicht der massengesellschaftlichen Halböffentlichkeit heraustreten in das helle Licht der weltlichen Öffentlichkeit und somit aus der Sphäre der anonymen Fremdbestimmung in das Reich der gemeinsamen Selbstbestimmung ‚überwechseln’.“ (98) Er erfasst aber die Begrenztheit des Arendtschen Ansatzes, der zwar sehe, „’dass der Sieg über die Armut eine Voraussetzung für die Gründung der Freiheit ist.’ Doch wie kann die Armut überwunden werden? Diese Frage wird von Arendt nicht befriedigend beantwortet“ (103). Niggemeyer fasst zusammen: „Sowohl die eigentliche Intention als auch die Problematik der Arendtschen politischen Theorie treten hier zutage: Arendt interessiert letztlich nur die Gründung der Freiheit, also die Etablierung eines Raumes, wo Menschen in ihrer Pluralität erscheinen können, indem sie mit anderen gemeinsam handeln und sprechen. Dieser Raum soll ein Ort des Austausches von individuellen Meinungen und nicht des Zusammenpralls von kollektiven Interessengegensätzen sein. Hierzu muss zunächst die materielle Reproduktion des Individuums zur Zufriedenheit aller Beteiligten gewährleistet sein, in Arendts Worten die Befreiung von Armut. Wie diese tatsächlich vollzogen werden sollen, erläutert sie aber nicht; dass technischer und wirtschaftlicher Fortschritt allein nicht ausreichen, zeigt ein Blick auf das anhaltende Elend in der Welt.“ (104) Die offenen Stellen in Arendts Konzeption füllen für Niggemeyer Marx‘ Analysen der Bedingungen und Folgen sozialer Ungleichheit, während Arendt Marx um eine Konzeption des politischen Handelns in der Öffentlichkeit erweitert.

Schauen wir etwas genauer. Arendt entwirft in der Vita activa drei Kategorien der menschlichen Tätigkeit: Arbeiten, Herstellen und Handeln. Sie rekonstruierte die Entwicklung der Wertschätzung dieser Tätigkeiten von der Antike bis in die Gegenwart, wobei sie – wie Niggemeyer richtig bemerkt – keineswegs historische Forschung betreiben will, sondern nach „vergangenen Konstellationen“ menschlicher Existenz sucht, um „dauerhafte Grundbedingungen menschlichen Daseins aus einer Vielzahl von Ereignissen herauszuschälen“ (9). Auf der untersten Stufe menschlicher Tätigkeiten stand nach Arendt in der Werteskala der Antike die Arbeit, begriffen als Tätigkeit zum Zwecke der „physischen Selbsterhaltung“. Gemeint ist der „Prozess der Selbsterhaltung des Körpers in kontinuierlichem Austausch mit der Natur“ – das war für die Alten eine Angelegenheit der Sklaven und keine Beschäftigung für einen „freien Mann“. Die Produkte der Arbeit zeichnen sich durch ihre geringe Dauer aus, sie sind für den täglichen und unmittelbaren Verzehr bestimmt. Daraus ergibt sich das wesentliche Abgrenzungsmerkmal zum Herstellen. „Im Unterschied zum animal laborans bringt der herrschende Mensch, der Homo Faber, eine künstliche Welt von Dingen hervor, die sich durch ihre Beständigkeit von Verbrauchsgütern unterscheiden“ (65). Dazu gehören Häuser genauso wie Tische, Stühle oder Gemälde und Statuen. Arendt bemerkt selbst, dass die Differenz zwischen den Produkten größer ist als die zwischen den Tätigkeiten. „Ausschlaggebend für die Differenzierung von Arbeiten und Herstellen ist also die Qualität ihrer Produkte, das ist ihre Welthaftigkeit“ (66). Als unbefangener Leser zuckt man bei dieser Kategorisierung spontan zusammen. Die Arbeit am Fließband in einer Lebensmittelfabrik unterscheidet sich grundsätzlich von derjenigen am Band einer Möbelfabrik, während letztere gleichwertig oder gleichartig zum Herstellen einer Skulptur ist? Das leuchtet aus heutiger Perspektive genauso wenig ein wie für vorindustrielle Produktionsweisen. Allein die Trennung zwischen Sklavenarbeit und der Arbeit der Freien in der Antike rechtfertigt diese Art der Differenzierung.

Die Krone der menschlichen Tätigkeit bildet für Arendt das Handeln, was sie weder als Oberbegriff für alle Tätigkeiten noch als Modus des Warenaustausches, der in ihrer Begriffsbildung gar nicht vorkommt, versteht. „Politische Freiheit ist aber nicht nur Existenzbedingung des Handelns, sondern auch die vorzüglichste Art seiner Verwirklichung: Der politische Raum ist im Allgemeinen ein sichtbarer Ort, ‚an dem Freiheit sich manifestieren, in Worten, Taten und Ereignissen wirklich werden kann, die ihrerseits in das Gedächtnis des Menschen eingehen und geschichtlich werden.’ Im politisch-öffentlichen Bereich kann die Pluralität der Menschen im Handeln und Sprechen erscheinen und sich zugleich realisieren“ (69). Seine Erfüllung, meint Arendt, erreicht der Mensch als Homo politicus, der selbstverständlich freigestellt ist von der Sorge um das tägliche Brot oder um ein stabiles Bett, in das er sein zermartertes Haupt nach heftigen Debatten ruhen kann. Der Homo politicus kann sich frei aller Existenzsorgen um das öffentliche Wohl kümmern und durch große Taten für die Polis ewigen Ruhm und damit ewiges Leben erlangen.

Aus dieser Perspektive der Freiheit kann es nur eine Verfallsgeschichte der Menschheit geben. Darin ähneln sich die Zeitdiagnosen in der postfaschistischen Gesellschaft, da ähneln sich Frankfurter Schule und Hannah Arendts Abstieg des Homo politicus in der Massengesellschaft. Den Anfang des Niedergangs besorgte für Arendt das Christentum, das mit dem Versprechen eines ewigen Lebens im Jenseits den Antrieb nahm, für ewigen Ruhm im Diesseits zu suchen. Die Neuzeit gebar schließlich den Homo Faber, der – Arendt folgt Webers Beschreibung der protestantischen Ethik – über diesseitigen Erfolg und Ansehen seine Prädestination beweisen konnte und musste. Der Homo Faber konnte sich allerdings nicht lange halten. Mit Benthams Maßstab des „größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl“ wurde das Schicksal des Homo Faber besiegelt, dem es auf die Qualität des Produktes ankam. Der Mensch wird in der Tauschwerte produzierenden Gesellschaft hinab gedrückt auf die Stufe des animal laborans. Es entsteht die Hochschätzung oder Überbewertung der Arbeit in der neu entstandenen Arbeitsgesellschaft, für die Arendt etwas um die Ecke gedacht Marx verantwortlich macht, weil dieser nur noch den Tauschwert der Produkte vor Augen habe, die Arbeit „letztendlich doch nur unter den unendlichen Produktionsprozess der Gattung Mensch“ subsumiere (82.)

„In ihrem letzten Stadium“, schreibt Arendt, „verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von Jobholders, und diese verlangt von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren, als sei das Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht, und als bestehe die einzige aktive, individuelle Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam loszulassen, seine Individualität aufzugeben bzw. die Empfindungen zu betäuben, welche noch die Mühe und Not des Lebens registrieren, um dann völlig ‚beruhigt’ desto besser und reibungsloser ‚funktionieren’ zu können“ (Vita activa, S. 411).

Dagegen verteidigt Niggemeyer Marx, indem er dessen Unterscheidung von Tausch- und Gebrauchswert hervorhebt: „Hier findet man Arendts Kritik an Marx konzentriert zusammengefasst: Einerseits lege Marx dem Arbeiten das Moment der finalen, bewussten Vergegenständlichung bei, andererseits subsumiere er diese Tätigkeit letztlich doch nur unter den unendlichen Reproduktionsprozess der Gattung Mensch“ (82f.). Und der Untergang des Homo politicus in der Jobgesellschaft, meint Niggemeyer, sei keineswegs Marx Perspektive der Befreiung von der Mühsal der Arbeit im Reich der Freiheit: „Dieser Untergang des Individuums in der Sterilität der Arbeits- und Konsumgesellschaft ist nicht die Fernperspektive des Marxschen Denkens, wie sie in den ‚Grundrissen’ erscheint. Sie besteht vielmehr in der Aufhebung der bloßen Reproduktionsarbeit durch den technologischen Fortschritt: Mit der voranschreitenden Entwicklung der Produktivkräfte eröffnet sich die Möglichkeit, den Produktionsprozess zu einem Naturprozess zwischen Dingen umzugestalten, so dass sich der Arbeiter ‚als Wächter und Regulator zum Produktionsprozess selbst verhält. ... Er tritt neben den Produktionsprozess, statt sein Hauptagent zu sein.’ Hiermit reduziert sich die notwendige ‚Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alles frei gewordene Zeit und geschaffnen Mitte entspricht.’ Oder, wie Arendt hinzufügen würde, erst der technische Fortschritt kann einem jeden die Voraussetzung öffentlichen Handelns und Sprechens bereitstellen“ (94f.).

Niggemeyer versucht so, Marx und Arendt auszusöhnen beziehungsweise als Ergänzung zu lesen. Hier ist eine Kritik an seiner gründlichen Rekonstruktion und dem interessanten und lesenswerten Versuch, Marx und Arendt zusammenzuspannen, angebracht. Bei Arendt wird man den Verdacht nicht los, dass ihre Kritik der Massengesellschaft und der Entmenschlichung letztlich einem fundamental elitären Standpunkt entspringt. Der Homo politicus bleibt die Elite, die sich um das tägliche Überleben nicht kümmern muss. Die Befreiung der Massen hat Arendt – und das unterscheidet sie offenkundig von Marx – nicht auf dem Schirm. Die Massengesellschaft ist Arendt höchst suspekt: „Die Massengesellschaft zeigt den Sieg der Gesellschaft überhaupt an; sie ist das Stadium, indem es außerhalb der Gesellschaft stehende Gruppen schlechterdings nicht mehr gibt. Das Gleichmachen ist aber der Gesellschaft unter allen Umständen eigentümlich, und der Sieg der Gleichheit in der modernen Welt ist nur die politische und juristische Anerkennung der Tatsache, dass die Gesellschaft den Bereich des Öffentlichen erobert hat, wobei automatisch Auszeichnung und Besonderheit zu Privatangelegenheiten von Einzelindividuen werden“ (Vita activa, S. 52). Arendt bringt die Gesellschaft gegen das Öffentliche in Stellung. Die Öffentlichkeit, in der sich die Elite beweisen und herausheben kann, verfällt ebenso wie die menschlichen Tätigkeiten oder mit diesen. Am Ende bleibt für Arendt nur gesellschaftliche Gleichheit, Kontrolle und menschliches Funktionieren. Die gleichberechtigte Persönlichkeitsentwicklung aller Individuen in der Differenz und in der Gleichartigkeit mit anderen, die freie Entfaltung in der Gemeinschaft bleibt außerhalb der Arendtschen Perspektive oder außerhalb des Horizonts der gesellschaftlichen Situation, in der Arendt schrieb – und sie liegt selbstverständlich außerhalb der Perspektive der kapitalistischen Gesellschaft. Die Versöhnung von Marx und Arendt hat deshalb – so scheint mir – ihre Grenzen. Dennoch bleibt der Ansatz von Niggemeyer interessant und sein Büchlein lesenswert.

Andreas Fisahn