Anregungen einer nichtmarxistischen materialistischen Philosophie: Mario Bunge (Teil I)

September 2011

1. Warum Bunge?

Soweit wir die Geschichte der Philosophie zurückverfolgen können, gab es bekanntlich den Streit der beiden großen philosophischen Weltauffassungen, des Idealismus und des Materialismus, wobei letzterer in der Philosophiegeschichte immer eine Minderheitenposition innehatte. Und obwohl heute die meisten ‚Realwissenschaften’, zumindest die Naturwissenschaften, ihrer tagtäglichen Forschungsarbeit faktisch eine materialistische Sichtweise zugrunde legen, gibt es selbst bei Physikern immer noch viele Vorbehalte, sich explizit zu einer materialistischen Weltauffassung zu bekennen. ‚Materialismus’ hat immer noch einen haut goût und wird nach wie vor mit der Vorstellung von einer grobschlächtig undifferenzierten, naiven, kurz obsoleten Herangehensweise an die Welt verbunden. Zudem mag er für manche zusätzlich ‚kontaminiert’ sein durch die negativen Erfahrungen mit einem erstarrten ‚Diamat und Histomat’ als der offiziellen Philosophie des untergegangenen Staatssozialismus. Ein explizit positiver Bezug auf den Materialismus versteht sich also nicht von selbst, erscheint vielmehr begründungsbedürftig.

Zu denen, die sich diesem philosophischen mainstream entgegen stellen, gehört der hierzulande – jedenfalls unter Sozial- und GeisteswissenschaftlerInnen – wenig bekannte argentinisch-kanadische Physiker und Wissenschaftsphilosoph Mario Bunge. Geboren 1919 in einem sozialistischen Elternhaus hatte er sich gleichfalls von Anbeginn auf Seiten der Linken engagiert und Repressalien des argentinischen Militärs am eigenen Leib erfahren, denen er sich kurz vor dem Militärputsch von 1966 durch Auswanderung nach Kanada entzog, wo er seitdem an der McGill Universität in Montreal lehren konnte (vgl. dazu u.a. Bunge 2009, ix f). Noch bis in die 1960er Jahre hinein orientierte er sich am Marxismus, wie er mir in unserer Korrespondenz mitteilte und wie das einige auch in der DDR erschienene Artikel[1][1] von ihm sowie auch die positiven Rezensionen seiner Bücher von DDR-Philosophen wie Georg Klaus belegen. Auch nachdem er sich von marxistischen Positionen entfernt hatte, verortet dann in der analytischen Philosophie, wenn auch diese in vielen ihrer Zweige kritisierend, blieb der Materialismus für ihn die philosophische Grundlage. Dies zeigt sein gesamtes, umfangreiches Oeuvre, zuletzt sein Buch Matter and Mind von 2010 (vgl. Sorg 2011).[2][2] Sein zentrales philosophisches Projekt ist es, einen zeitgenössischen, d.h. mit dem aktuellen Stand der Wissenschaften kompatiblen Begriff von Materialismus und von Materie zu entwickeln.

Da für Marxisten eine materialistische Sichtweise auf die Welt zur theoretischen Selbstvergewisserung gehört, dürfte es von Interesse sein, eine solche materialistische Philosophie genauer zu betrachten, auch wenn sie sich explizit als nichtmarxistisch versteht. Bei der Kontroverse zu dem Dialektik-Buch von Hans Heinz Holz in „Z“[3][3] wurde eine Reihe philosophischer Grundfragen angeschnitten, die auch im Folgenden eine Rolle spielen werden.

Meine notgedrungen kurze Darstellung einiger Züge der Philosophie von Mario Bunge ist geleitet von der Frage, inwiefern von ihm Anregungen für eine aktuelle materialistische Weltsicht gewonnen werden können, auch wenn man seine Kritik mancher marxistischer Positionen und insbesondere der Dialektik nicht teilt, was Gegenstand eines weiteren Artikels sein könnte.

2. Bunges Plädoyer für eine gleichermaßen wissenschafts-
zentrierte wie materialistische Philosophie

Man erinnert sich an die noch immer unabgeschlossenen innermarxistischen Debatten, inwiefern angesichts des Endes der traditionellen ‚metaphysischen’ Systeme und deren zumindest teilweiser Ersetzung durch die Einzelwissenschaften eine separate Philosophie zusätzlich zu den Wissenschaften noch nötig sei, wenn Bunge feststellt (Bunge 2009, 5), dass die Philosophie insgesamt heute eine schlechte Reputation unter Wissenschaftlern besitzt, die sie entweder als irrelevant für ihr wissenschaftliches Arbeiten oder sogar als ihm entgegengesetzt betrachten. Seine positive Antwort auf die Frage, ob die Philosophie auch heute noch ein Existenzrecht zusätzlich zu den Einzelwissenschaften habe, begründet er damit, dass niemand der Philosophie die Aufgabe abnehmen könne, grundlegende Begriffe, Prinzipien und Probleme zu klären, die von so allgemeiner Bedeutung sind, dass sie über die Möglichkeiten einer Einzelwissenschaft, die jeweils nur für einen eingegrenzten Gegenstandsbereich kompetent ist, hinausreichen. Philosophie müsse aber – anders als von manchen ihrer Repräsentanten, etwa in der Nachfolge Heideggers, zu hören ist – in engstem Bezug zu den jeweiligen Befunden der Einzelwissenschaften stehen. So werde man z.B. eine Erkenntnistheorie heute nicht ohne die Befunde der kognitiven Neurowissenschaften sinnvoll konzipieren können.

Zu den zu klärenden allgemeinen Begriffen und Problematiken gehören für Bunge auch Axiome, die grundlegende Annahmen oder Hypothesen darstellen, von denen viele zwar plausibel, aber nicht im strengen Sinne beweisbar sind. Das gilt etwa für die Annahme, dass es eine von uns unabhängige ‚Außenwelt’ gibt, oder für die Annahme, dass wir diese von uns unabhängig existierende Welt erkennen können, wenngleich nur unzureichend und bruchstückhaft, dass unsere Erkenntnisse also fallibel und verbesserungsfähig sind, Erkenntnismöglichkeiten, die z.B. radikale Konstruktivisten bestreiten.

Unbeschadet seiner klaren Wissenschaftsorientierung scheut sich Bunge nicht, an die philosophische Tradition anzuknüpfen, auch an einige der heute vielfach verpönten Begriffe wie „Metaphysik“ oder „Ontologie“ (für ihn synonyme Begriffe), die er freilich in einer mit dem heutigen Stand der Wissenschaften verträglichen Weise neu definiert. Während von manchen postmodernen Philosophen mit dem von ihnen verkündeten Ende der ‚großen Erzählungen’ zugleich auch jeder Versuch, ein systematisches philosophisches Gesamtkonzept zu entwickeln, zurückgewiesen und gar als totalitarismusverdächtig gebrandmarkt wird, bedürfen für Bunge alle ‚großen Fragen’ zu ihrer Bearbeitung eines umfassenden philosophischen Zugangs, einer, wie er etwas augenzwinkernd formuliert, „theory of everything“. Solch eine ‚integrierende’ Konzeption von Philosophie „dürfte dabei helfen, jedes philosophische Problem in ein Netzwerk von Wissensbestandteilen zu stellen, statt es als ein isoliertes Puzzle anzugehen“ (Bunge 2010, 3. – Hier wie auch sonst habe ich Zitate aus seinen englischsprachigen Werken ins Deutsche übersetzt. R.S.).

Philosophie umfasst nach seinem Verständnis eine Reihe theoretischer und praktischer Disziplinen. Zu den theoretischen Disziplinen zählt er: Logik – wichtig für Präzision und Ableitbarkeit; Semantik, bei der es um die Bedeutung von Begriffen und die Wahrheit von Aussagen geht; Ontologie – Sein und Werden; Epistemologie – Erkenntnis und Wissen; Philosophie der Wissenschaft und Technologie; zu den praktischen Disziplinen gehören: Methodologie, bezogen auf das methodologische Vorgehen bei wissenschaftlicher Forschung, die auf die Evidenz von Befunden (basierend auf Belegen und Beweisen) ausgerichtet ist; Axiologie – Theorie der Werte; Ethik – Fragen von Rechten und Pflichten; Praxeologie – allgemeine Theorie des Handelns; Sozialphilosophie und Politische Philosophie, bei der es um die Reflexion von Politiken geht. (Bunge 2009, 7)

Zu all diesen Bereichen hat Bunge seit einem halben Jahrhundert umfassende Publikationen vorgelegt: Neben seinem 8-bändigen Grundlagenwerk, dem Treatise on Basic Philosophy (erschienen 1974-1989), sind das zahlreiche Einzelarbeiten zu den philosophischen Grundlagen z.B. der Physik, der Biologie, der Psychologie, der Sozialwissenschaften oder der politischen Philosophie, wozu er vielfach mit einschlägigen einzelwissenschaftlichen Experten kooperierte, z.B. mit dem Biologen Martin Mahner oder dem Psychologen Rubén Ardila.

Wie er diese einzelnen philosophischen Disziplinen inhaltlich genauer fasst, veranschaulicht er in einer „philosophischen Matrix des wissenschaftlichen Fortschritts“ (Bunge 2010, 242), dargestellt als Fünfeck, in dessen Mitte die Wissenschaft steht und an den fünf Seiten die folgenden Konkretisierungen seiner Philosophie: Materialismus und Systemismus (in der Ontologie), Realismus (in der Erkenntnistheorie), Humanismus (in der praktischen Philosophie) und Szientismus (in der Methodologie). Zu dem von ihm vertretenen Materialismus gehört eine monistische statt dualistische Position sowie die Unterscheidung von konkreten (= materiellen) Dingen und abstrakten (= artifiziellen) Entitäten, nämlich Konstrukten, von Menschen erfundenen bzw. hergestellten Objekten wie Begriffe, Theorien, mathematische Objekte, Kunstwerke etc., die keine separate Existenz besitzen unabhängig von den sie entschlüsselnden Menschen.

Bei der Skizzierung seines philosophischen Ansatzes werde ich mich im Wesentlichen auf seine Ontologie konzentrieren und dabei vor allem auf die Frage, wie er den Materialismus an einzelnen Problemen konkretisiert. Die ausführlichste Darstellung seiner Ontologie findet sich in seinem Treatise, dort in Bd. 3 (The Furniture of the World, 1977) und in Bd. 4 (A World of Systems, 1979). Komprimierte Zusammenfassungen, zudem auf Deutsch, bieten die zusammen mit dem Biologen Martin Mahner publizierten Bücher Philosophische Grundlagen der Biologie vom Jahr 2000 (hier 3-48, zusammen mit Kurzdarstellungen der von mir nicht behandelten „Semantik und Logik“, 49-57, sowie der „Erkenntnistheorie“, 59-132) und der Band Über die Natur der Dinge von 2004. (Diese beiden auf Deutsch erschienen Bücher sind wesentlich vom Ko-Autor Martin Mahner formuliert worden.)

So wie die Philosophie „plural“ ist (Bunge 2009, 7), gibt es auch den Materialismus, dessen Ursprünge zurückreichen bis auf die griechischen Atomisten wie Demokrit und die altindische „Carvaka- oder Lokayata-Schule“ etwa 600 v.u.Z. (Bunge/Mahner 2004, 2), in verschiedenen Versionen. Bunge grenzt seine Version des Materialismus ab sowohl vom naiven oder ‚Vulgärmaterialismus’ wie vom ‚Physikalismus’ und dessen Reduktionismus als auch vom ‚dialektischen Materialismus’, mit dem er zwar einiges teilt „wie etwa die Betonung qualitativer Neuheit und damit die Anerkennung verschiedener Organisations-Ebenen wie die physikalische, chemische, biotische, soziale usw.“, wogegen er „keine Verwendung für einige der so genannten Gesetze der Dialektik, wie das Gesetz von der Einheit und dem Kampf der Gegensätze oder das Gesetz der Negation der Negation“ hat (ebd., 3). Er teilt auch nicht solche erkenntnistheoretischen Annahmen „wie die Widerspiegelungstheorie der Erkenntnis“ (ebd., 4). Seine eigene Version nennt er „emergentistischen oder systemischen oder schlicht wissenschaftlichen Materialismus“ (Hervorhebungen, wenn nicht anders vermerkt, im Original. R.S.).

Was die Begriffe Metaphysik und Ontologie betrifft, so würden diese zwar – auf Grund ihrer Geschichte verständlicher Weise – vielfach mit Religion, Spekulation und unverständlichen Diskursen verknüpft, doch „ist Metaphysik zunächst nur die philosophische Disziplin, die sich mit dem Seienden allgemein oder – weniger hochtrabend – mit der Beschaffenheit der Welt beschäftigt“. In diesem Sinn bilde der Materialismus mit seiner Kernthese, „dass nur Physisches real ist, eine Aussage über das Seiende [...], also eine metaphysische Position.“ Infolge der Skepsis gegenüber der traditionellen Metaphysik sei im 17. Jh. der neutralere Name Ontologie für sie vorgeschlagen und durch Christian Wolff die Trennung von der Theologie explizit vollzogen worden (ebd. 5), so dass in der Folge die beiden Wörter häufig gleichbedeutend verwendet wurden, ein Gebrauch, dem sich auch Bunge anschließt.

Eine moderne, wissenschaftsorientierte Ontologie behandelt „diejenigen Probleme, die von den Einzelwissenschaften nicht gelöst werden können bzw. die über sie hinausreichen, und sie analysiert die Begriffe und Prinzipien, welche von den Einzelwissenschaften in ihrer theoretischen Arbeit vorausgesetzt und daher nicht von ihnen selbst behandelt werden können.“ Die Einzelwissenschaften haben zwar die Welt zu erforschen, sagen uns aber nicht, was Realität ist. Die Ontologie versucht also so allgemeine Fragen zu beantworten wie: „Was ist Materie? Was ist ein Ereignis? Was ist Raumzeit? Gibt es emergente Eigenschaften? Sind alle Ereignisse gesetzmäßig? Was macht ein Objekt zu einem realen Gegenstand? Wie und wo existieren abstrakte Objekte? Was ist eine Ursache? Gibt es Finalursachen? Ist Zufall real?“ (ebd. 6) Als allgemeine Wissenschaft beschäftigt sich die Ontologie mit den allgemeinsten Eigenschaften des Seins und Werdens. Demgegenüber können die Einzelwissenschaften, die sich mit realen Dingen beschäftigen, „als spezielle Metaphysiken oder regionale Ontologien betrachtet werden.“ Während die Einzelwissenschaften im Detail nach der Natur der Dinge fragen und empirisch prüfbare Theorien hervorbringen, „ist die Ontologie extrem allgemein und kann nur durch ihre Übereinstimmung mit den Einzelwissenschaften geprüft werden.“ Daher gibt es „keine Trennlinie [...] zwischen Wirklichkeitswissenschaft und Ontologie“, denn einige der interessantesten wissenschaftlichen Fragen sind „zugleich ontologische, wie ‚Was ist Leben?’ oder ‚Was ist Geist?’“ Bunges Hauptthese ist, „dass eine wissenschaftsorientierte und wissenschaftliche Ontologie – d.h. eine, die auf der modernen Wissenschaft gründet und mit ihr vereinbar ist – nur eine materialistische sein kann.“

3. Einige Grundbegriffe der Ontologie von Bunge

Zur Veranschaulichung seien einige Begriffsklärungen von Bunges Ontologie kurz vorgestellt.

3.1 Dinge im Unterschied zu Konstrukten

Grundlegend ist für Bunge der Begriff des materiellen „Dings“, das er prinzipiell unterscheidet von „Konstrukten“ (ebd., 20ff). Ein Objekt ist entweder konkret (materiell), also ein Ding (damit veränderbar), oder abstrakt (immateriell, ideell), also ein Konstrukt (damit – aus sich selbst heraus – unveränderbar). Konstrukte sind Fiktionen, Schöpfungen des menschlichen Gehirns, keine Bestandteile der realen Welt, spielen aber eine Rolle bei unseren Repräsentationen der realen Welt. Alle Dinge besitzen Eigenschaften (ein Sosein), getragen von einer Substanz (einem Etwas). Das substanzielle Etwas (etwa ein elektromagnetisches Feld), d.h. das substanzielle Individuum mit all seinen Eigenschaften wird hier „Ding“ genannt oder „Entität“ (Seiendes), ein konkretes oder materielles oder reales Objekt (ebd., 22). Darum sind Eigenschaften oder Ereignisse keine Entitäten. Dass Eigenschaften nicht real sind (real sind nur Dinge), heißt, dass sie keine eigenständige Existenz führen – losgelöst von den Dingen. Die Gesamtheit der individuellen Eigenschaften eines Dings konstituiert dessen Individualität oder Einmaligkeit.

3.2 Gesetze

Gesetze versteht Bunge als Eigenschaften der Dinge (ebd. 40ff): In einer gesetzlosen Welt wäre Wissenschaft und Erkenntnis unmöglich. Naturgesetze sind nicht wie menschliche Gesetze Vorschriften mit Erlass-Charakter, die die Dinge regieren, sondern Muster bzw. Regelmäßigkeiten im Verhalten der Dinge (Beispiel: Alle Metalle dehnen sich bei Erwärmung aus).

Was macht das Verhalten eines einzelnen Dings gesetzmäßig? Die „Tatsache, dass bestimmte Eigenschaften dieser Dinge konstant bzw. kovariant bzw. invariant verbunden sind. Ändert sich der Wert einer dieser Eigenschaften, ändert sich auch der Wert der anderen“ (z.B. Temperatur und Länge eines Körpers, ebd. 41). Gesetze sind relationale Eigenschaften von (essenziellen) Eigenschaften, also letztlich Eigenschaften von Dingen, wenn auch indirekte. Die Dinge können sich aufgrund ihrer essenziellen Eigenschaften unter gegebenen Bedingungen nur so und nicht anders verhalten. Als Eigenschaften von Dingen existieren Gesetze nur zusammen mit diesen Dingen, nicht vor und nicht nach ihnen. Gesetze können auch raumzeitlich eingeschränkt sein (z.B. biotische Gesetze), nicht alle sind universell. Die biotischen Gesetze sind genau so vielfältig wie die Dinge (Organismen), die sie besitzen. Im Zuge der Entwicklung oder Evolution können Dinge neue Eigenschaften und damit neue Gesetze erwerben. Eine Form der Gesetzmäßigkeit beschreibt auch die Chaostheorie, desgleichen der Zufall, „denn viele zufällige Ereignisse folgen Wahrscheinlichkeitsgesetzen, und Kollektive von wahrscheinlichen Einzelereignissen zeigen statistische Gesetzmäßigkeiten“ (ebd. 44). Auch das scheinbar Irreguläre zeigt häufig Gesetzmäßigkeiten, die mit probabilistischen bzw. statistischen Modellen erfasst werden können.

Da wir Modelle und Theorien als Idealisierungen von deren Bezugsobjekten benutzen, stellt unsere Erkenntnis „keine Eins-zu-eins-Abbildung der realen Welt [dar], sondern lediglich eine symbolische und approximative Repräsentation derselben“ (ebd. 47). Wichtig ist es, die Randbedingungen zu beachten, denn die Dinge verhalten sich je nach den herrschenden Umständen (Temperatur, Druck etc.) anders. Zusammengefaßt: „Gesetze sind also objektive Muster des Seins und Werdens, die durch Gesetzesaussagen repräsentiert werden können.“ (ebd. 50)

3.3 Zustand und Realität

„Die Gesamtheit der Eigenschaften eines Dings zu einer gegebenen Zeit bestimmt den Zustand des Dings zu dieser Zeit.“ (ebd. 51) Die möglichen Zustände eines Dings können durch einen Zustandsraum oder Möglichkeitsraum (physikalisch auch Phasenraum) dargestellt werden. Ein Ereignis ist der Übergang von einem Zustand in einen anderen. Der Übergang kann dargestellt werden in einem Zustandsraummodell als eine Kurve, und zwar ohne Zeitachse. Denn Zeit wird durch die Veränderung der Dinge erst konstituiert, geht ihnen nicht voraus, noch existiert sie unabhängig von ihnen.[4][4] Dinge können sich nur gesetzmäßig verändern, was nicht heißt, dass jede Veränderung streng deterministisch oder kausal ist. Ein Ereignis kann auch zufällig sein (was nicht gesetzlos heißt) und stochastischen (statistischen) oder probabilistischen (Wahrscheinlichkeits-)Gesetzen folgen. Zufälligkeit wie Kausalität sind spezielle Formen von Gesetzmäßigkeit. Veränderungen sind nur selten Einzel- oder Punktereignisse, sondern meist Prozesse, also komplexe Ereignisse. Ein Prozess kann beschrieben werden als eine Kurve oder Trajektorie in einem Zustandsraum. Da Dinge als Grundkategorie verstanden sind, gelten Ereignisse und Prozesse als abgeleitete Kategorien. Alle Zustände sind solche von Dingen, es gibt keine Zustände an sich, keine Prozesse unabhängig von sich verändernden Dingen.

Ein materielles Objekt kann sich in mindestens zwei Zuständen befinden und von einem in den anderen übergehen. „Nur einzelne materielle Objekte existieren real.“ „Alle und nur materielle Objekte sind real“, das ist die zentrale Annahme des Materialismus (ebd., 64). Herkömmlich werde ‚real’ definiert als ‚subjektunabhängig existierend’. Aber auch das erkennende Subjekt sei ja selbst real. Auch geistige Prozesse sind Vorgänge in einem materiellen, realen System, dem Gehirn. Aber ob ein Objekt real ist, wird nicht durch die Definition festgelegt, sondern bedarf eines allgemeinen Kriteriums. Dieses lautet: ein Objekt muss auf andere reale Objekte einwirken können oder von ihnen beeinflusst werden können. Real ist ein Objekt, wenn es veränderbar ist und selbst Veränderungen in anderen Dingen bewirken kann. Es „sind also letztlich nur die sich verändernden Dinge real. Eigenschaften, Zustände, Ereignisse und Prozesse sind genau genommen nur auf abgeleitete Weise real.“ (ebd., 66)

3.4 System

Eine zentrale Rolle spielt für Bunge der Begriff des Systems als eines komplexen Dings. Komplexe Dinge oder Ganzheiten können durch Aggregation oder durch Kombination zustande kommen. Eine Aggregation (Staub, Müllkippen, Wolken oder Wasserlachen) hat keine spezielle Struktur aus stärkeren Verbindungen der Teile untereinander, ist nicht kohäsiv und löst sich leicht wieder auf. Dinge, die stärker untereinander interagieren, bilden ein System, dieses hat eine Struktur, ist stärker kohäsiv (Beispiele: Atomkerne, Atome, Moleküle, Kristalle, Organellen, Zellen, Organismen, Biopopulationen, Ökosysteme, Familien, Unternehmen und menschliche Gesellschaften). Es gibt keine völlig isolierten Dinge: jedes Ding interagiert mit (einigen) anderen. Daher ist jedes Ding ein System oder Bestandteil eines Systems.

Ein System s, das aus mindestens zwei Komponenten besteht, wird charakterisiert durch seine Zusammensetzung Z (seine Teile). Die „Komplementmenge“ von Z ist „die Menge aller Dinge außerhalb des Systems: seine Umgebung“, im Prinzip der Rest der Welt.[5][5] Die Umgebung von s wird definiert „als die Menge aller Dinge außerhalb von s [...], die auf diese Weise mit s in Beziehung stehen können: U (s).“ (ebd., 72f) Um eine selbständig (losgelöst von s) existierende Umgebung von der bloß relational verstandenen zu unterscheiden, spricht Bunge von Umwelt. Erst aufgrund der Verknüpfungen zwischen seinen Teilen wird ein System zu einer integrierten Ganzheit, wobei die Teile nicht räumlich aneinander gelagert sein müssen (z.B. eine Firma mit Filialen wird durch Telekommunikation oder reisende Angestellte zusammengehalten). Die Vereinigungsmenge der bindenden und nichtbindenden Relationen macht die interne Struktur, die Endostruktur von s aus. Die Systeme interagieren auch mit einigen Dingen ihrer Umgebung; deren Relationen mit s bilden die externe Struktur oder Exostruktur. Die Vereinigungsmenge beider Strukturen bilden die Gesamtstruktur von s oder einfach die Struktur. Das Modell eines materiellen Systems benötigt also die Begriffe Z, U und S: ein ZUS-Modell eines Systems. Es ist ein Minimalmodell, weil es nichts über die Geschichte, die Mechanismen und die Gesetze aussagt. Die systemspezifischen Prozesse werden Funktionen oder Mechanismen genannt (z.B. in Schulen wird gelehrt und gelernt). Nimmt man zu dem statischen ZUS-Modell als vierte Koordinate noch die Mechanismen M hinzu, kommt man zu einer dynamischen ZUSM-Analyse. Die ZUS-Analyse ist auch auf abstrakte Systeme (z.B. Theorien oder Klassifikationen) anwendbar. Abstrakte Systeme haben keine Mechanismen, sind also nicht veränderbar, jedenfalls nicht unabhängig von Gehirnen, die sie denken und auch umformulieren oder aufgeben können. Fehlen Koordinaten des ZUS-Modells bei der Analyse, kommt es zu nichtsystemischen, reduktionistischen Ansätzen.

3.5 Emergenz

Systemeigenschaften sind emergente Eigenschaften. So hat flüssiges Wasser Eigenschaften (Systemeigenschaften), die seine Komponenten, die H2O-Moleküle, nicht besitzen. Resultant ist eine Systemeigenschaft, wenn sie schon eine der Komponenten besitzt; emergent, wenn keine der Teile diese Eigenschaft besitzt. Lebendigsein etwa ist sowohl eine Eigenschaft einer einzelnen Zelle, wie auch eines vielzelligen Organismus, also eine resultante Eigenschaft. Emergente oder Systemeigenschaften liegt in zwei Arten vor, 1. dann, wenn die Komponenten diese nicht besitzen (sondern sie durch ihr Interagieren erst hervorbringen, z.B. Flüssigkeit oder Lebendigsein oder ‚ein Bewusstsein haben’, was, im letzteren Fall, nicht einem einzelnen Neuron zukommt, sondern nur durch das Zusammenwirken der Nervenzellen entsteht): intrinsische oder globale (= aufs System als Ganzes bezogene) Emergenz; 2. dann, wenn ein Ding Teil (Komponente) eines (anderen) Systems geworden ist, statt davon unabhängig, isoliert zu sein (z.B. wenn ein Individuum Vereinsmitglied wird): relationale oder strukturelle Emergenz. Emergenz als Systembildung entsteht durch Prozesse der Selbstzusammensetzung und der Selbstorganisation, der inneren Restrukturierung, der Interaktion mit umgebenden Dingen. Emergenz liegt ferner vor, wenn quantitative in qualitative Veränderung umschlägt; der Qualitätsumschlag ist nur eine weitere Form der Emergenz – neben der Emergenz durch Systembildung (ebd., 82).

Bunge folgt nicht der üblichen Definition von emergenten Eigenschaften, wonach diese nicht aus der Kenntnis der Eigenschaften der Teile erklärt werden können. Grund: Emergenz ist ein ontologischer, kein erkenntnistheoretischer Begriff; erklärte Neuheit ist nicht weniger neu als unerklärte Neuheit. Eine ontologische Kategorie mittels einer erkenntnistheoretischen zu definieren, ist, so Bunge, ein Kategorienfehler.

3.6 System-Ebenen

Im Allgemeinen gibt es so viele Ebenen, wie es Arten von Systemen gibt. „Jedes System einer bestimmten Ebene besteht aus Dingen, die zu tieferen bzw. vorausgehenden Ebenen gehören.“ (ebd., 87) So gehört das Nervensystem zur Organebene und besteht aus Elementen wie Neuronen. Jede neue Ebene weist emergente Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten auf, die bei dessen Komponenten alleine nicht auftreten.

Dies ist von Bedeutung für die seit der Darwinschen Evolutionstheorie allgemein geteilte Annahme, dass die Natur und somit auch die Materie insgesamt in Entwicklung begriffen ist. Danach bringt die Evolution verschiedene, auch als Seinsebenen unterscheidbare Materieformen (Systemformen) hervor: von der physikalisch-chemischen über die organischen, die ‚denkenden’ (Gehirne mit mentalen Prozessen), sozialen (Gesellschaften) und die künstlich geschaffenen (Artefakte wie technische oder kulturelle Erzeugnisse). Mit jeder neuen Ebene oder Materieform tauchen qualitativ neue (emergente) Eigenschaften auf, die zwar auf den vorausliegenden Ebenen basieren, aber nicht auf sie reduziert werden können. Daher ist die Reduktion des Materialismus auf einen Physikalismus nicht haltbar. So sind zwar Lebewesen auch physikalische Dinge, aber nicht nur, sondern besitzen auch supraphysikalische Eigenschaften. Darum können die Systeme auf höheren Ebenen nur partiell, aber nicht vollständig auf die niedrigeren Ebenen reduziert werden, ebenso wenig die Realwissenschaften auf die Physik. Der Materialismus muß also ein ‚emergentistischer’ sein, weder physikalistisch noch auch biologistisch, soziologistisch oder technizistisch. Weil die Welt aus vielfältigen Ebenen ‚besteht’, folgt als erkenntnistheoretische Konsequenz, „dass es die absolut richtige Analyseebene unabhängig von unseren Erkenntniszielen nicht gibt.“ (ebd., 89)

3.7 Fakten, Phänomene, Kausalität, Zufall und Wahrscheinlichkeit

Ein Sachverhalt (Faktum) bezieht sich auf bestimmte Zustände oder Veränderungen von Dingen bzw. von deren Eigenschaften; er ist objektiv und wird in Aussagen repräsentiert. Dagegen ist ein Phänomen das, was einem wahrnehmenden Subjekt erscheint. Es gibt zwar unbeobachtbare (transphänomenale) Fakten, aber kein Phänomen ohne ein empfindungsfähiges Subjekt. Erscheinungen in diesem Sinn sind deshalb eine evolutive Neuheit, entstanden mit Organismen, die Sensoren und Nervensysteme besitzen. In materialistischer Sicht sind Phänomene Ereignisse in einem Nervensystem, insofern real. (Genau genommen sind es Subjekt-Objekt-Relationen, semi-subjektive bzw. semi-objektive Fakten.) Da unterschiedliche Lebewesen (incl. Menschen) sich „nie im gleichen Zustand befinden und niemals dieselbe Perspektive einnehmen können, wird ein objektiver Sachverhalt verschiedenen Tieren unter verschiedenen Umständen unterschiedlich (oder auch gar nicht) erscheinen. Es besteht also keine Eins-zu-eins-Korrespondenz zwischen Tatsachen und Erscheinungen.“ (ebd., 93) Bunge unterscheidet: Die Wahrnehmung (auf Phänomene bezogen) ist perspektivisch, nicht aber die Erkenntnis, die Erklärung der Wahrnehmung, die auf einen objektiven Sachverhalt bezogen ist. Perspektivität gehört also zur Erscheinung und Wahrnehmung, nicht zum Faktum. Bunge vertritt also nicht einen erkenntnistheoretischen Perspektivismus, wie er sich in relativistischen (z.B. postmodernen) Konzepten findet. Gegen den Erkenntnisrelativismus, z.B. des Radikalen Konstruktivismus, betont Bunge einen ‚gemäßigten Konstruktivismus’, dass wir unsere Modelle der Welt konstruieren, die nie identisch sind mit der Welt selbst. Erkenntnis besteht „in der (hypothetischen) Modellbildung von realen Eigenschaften, Dingen oder Sachverhalten“. Gegen das Kant’sche Erkenntniskonzept, die Unterscheidung von Erscheinung und ‚Ding an sich’, heißt es bei Bunge: „Wohlbestätigte faktische Modelle und Theorien stellen – mehr oder weniger adäquate – Erkenntnisse einer an sich seienden Welt dar.“ (ebd., 94) Es handelt sich um wirkliche Erkenntnisse, wenn auch lediglich um bruchstückhafte und approximative.

Was die Kausalität betrifft, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann (vgl. ebd. 95ff), fasst Bunge Verursachung als eine Ereignisgenerierung durch Energieübertrag. Sie ist eine Form des Werdens, während die zeitliche Aufeinanderfolge von Zuständen eines Dings noch keine Verursachung darstellt (die Raupe ist nicht die Ursache des Schmetterlings). Da jede Wirkung von einer Ursache hervorgebracht wird, ist Verursachung eine bindende Relation. Die Welt ist zwar deterministisch (gesetzmäßig), aber nicht streng kausal (nicht alle Regelmäßigkeiten sind kausaler Natur).

Kurz zu Bunges Konzept von Zufall und Wahrscheinlichkeit (ebd., 99ff): Der Zufall ist objektiv, eine ontologische Kategorie, nicht nur von unserer Unkenntnis abhängig. In der Quantenphysik gibt es auf der untersten Ebene „irreduzible Zufälligkeit“ (Bunge 2010, 30). Die Welt ist darum (wiewohl gesetzmäßig) nicht deterministisch im engeren Sinne. Zufälligkeit ist eine Form der Ordnung, denn es gibt stochastische oder probabilistische Gesetze. Wahrscheinlichkeit beschreibt „eine Möglichkeit: eine Verwirklichungstendenz, eine Neigung oder Propensität zufälliger Ereignisse, auch wirklich einzutreten“ (Bunge/Mahner 2004, 105). Ohne Zufälligkeit keine Wahrscheinlichkeit. Häufigkeit gilt von Ereignissen, die schon eingetreten sind, „während echte Wahrscheinlichkeit als die Quantifizierung einer noch zu verwirklichenden Zufallsdisposition zu sehen ist.“ Sie hat etwas mit Möglichkeit (objektiver, realer Möglichkeit) zu tun.

3.8 Möglichkeit und Notwendigkeit

Möglichkeit ist die am wenigsten greifbare ontologische Kategorie, ist aber eine reale Eigenschaft: Das Aktuelle ist verwirklichte Möglichkeit. Der Zustandsraum als der abstrakte Raum aller möglichen Zustände eines Dings ist der Möglichkeitsraum. „Jede tatsächliche Zustandsfolge eines Dings ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der Menge all seiner nomologisch möglichen Zustände. Reale Möglichkeit ist damit identisch mit Gesetzmäßigkeit.“ (ebd., 107f) Ein Sachverhalt ist real unmöglich, wenn ihn die gesetzmäßigen Eigenschaften der betreffenden Dinge nicht erlauben.

Reale Sachverhalte und Naturgesetze sind „nicht logisch notwendig [...], sondern kontingent“ (ebd., 108). Ein nichtprobabilistischer „Sachverhalt ist real (oder ontisch) notwendig [...], wenn (a) er gesetzmäßig möglich ist und (b) die relevanten Umstände (d.h. Ausgangs- und Randbedingungen) für sein Eintreten gegeben sind“ (z.B. ein im Gravitationsfeld der Erde herunterfallender Stein, im Unterschied zur Situation in einer Raumstation). Bei probabilistischen Gesetzen in der Quantenphysik gilt jedoch: Auch wenn die richtigen Umstände gegeben sind, muß ein stochastischer Sachverhalt nicht unbedingt eintreten, ereignet sich nur mit bestimmten Häufigkeiten.

3.9 Zur genaueren Unterscheidung von konkreten und abstrakten Objekten

Materielle (konkrete) Gegenstände existieren unabhängig vom erkennenden Subjekt, begriffliche (abstrakte) Objekte nur, wenn sie von einem rationalen Lebewesen gedacht werden können (Denkobjekte). Erstere haben Eigenschaften, die kein begriffliches Objekt besitzt: Veränderungsfähigkeit, Besitz von Energie, die Fähigkeit, sich aus sich selbst heraus mit anderen Dingen zu Systemen mit emergenten Eigenschaften zusammenzufinden. Energie (Veränderbarkeit) ist für Bunge die universale physikalische Eigenschaft sowie der Materie überhaupt, nicht hingegen Masse. So haben z.B. elektromagnetische Felder oder auch bestimmte Elementarteilchen auf der Ebene der Quantenphysik (z.B. Elektronen, Photonen, Quarks oder Gluonen) keine Masse, wohl aber Energie. Daher sein Vorschlag, Materie zu definieren als „energiebesitzend“ oder als „veränderungsfähig“ (Bunge 2010, 66), womit der Materiebegriff über die Annahmen der klassischen Mechanik hinaus dem heutigen Erkenntnisstand der Quantenphysik entsprechend gefaßt wäre. Materielle Gegenstände werden erforscht von Realwissenschaften und der Ontologie, die vor allem die Gesetze der Veränderung der Dinge herauszufinden suchen in Form von Bewegungsgleichungen oder chemischen Reaktionsgleichungen, die uns etwas über die möglichen Zustände der Dinge und deren Änderungen sagen. Begriffe wie ‚Zustand’ oder ‚Zustandsänderung’ kommen in den Formalwissenschaften (Logik, Mathematik, Semantik), die sich mit Konstrukten befassen, nicht vor.

Begriffliche Objekte sind 1) weder materiell noch ideell (im platonischen Sinn), noch sind sie psychische Ereignisse. Sie haben logische und semantische Eigenschaften, die weder materiell noch mental sind. 2) Sie existieren konzeptuell und kontextuell, nur als Bestandteil eines Kontextes (z.B. existieren ganze Zahlen nur in der Zahlentheorie).

Real ist nur der Gehirnprozeß, der im Denken von Konstrukten besteht. Dies ist eine materialistische Auffassung von Konstrukten, weil Gedanken Hirnprozesse sind. Der Gedanke als Inhalt eines Denkvorgangs ist ein abstraktes Objekt. (Als Hirnprozeß dagegen ist er ein konkretes Objekt; als – semantischer – Inhalt kann er sich sowohl auf konkrete wie auf abstrakte Objekte beziehen.) Zum Einwand, dass sich Konstrukte, z.B. Theorien oder künstlerische Werke, doch verändern und entwickeln können: Die Aufführung z.B. eines Musikstücks als ein materieller Vorgang hat ein zeitliches Ende, nicht aber das Konstrukt, das Werk (die Partitur). Jene ist etwas Materielles, dieses ein Konstrukt. Materielle Objekte verändern sich aus sich heraus, Konstrukte nicht. Nur Personen verändern sich, indem sie ein Konstrukt mal so und mal so denken. „Begriffliche Veränderung ist immer eine Veränderung in jemandes Gehirn.“ (Bunge/Mahner 2004, 117)

Was sind die Denkinhalte, und wie ist die Kommunikation, der Informationsaustausch zu denken? Durch die Erfindung des Zeichnens, Schreibens, Bildhauerns etc. konnte Wissen in Form kultureller Artefakte ‚kodiert’, ‚externalisiert’ und sozial ausgetauscht werden. Dies hat die Aufbewahrung wie das Mitteilen und die Erweiterung von ‚Wissen’ befördert. Die Herstellung von Informationsträgern hat den Mythos vom subjektunabhängigen ‚Inhalt’ des Wissens genährt. Ein Buch (ein Stück strukturierter Materie aus Papier und Druckerschwärze) scheint ein unabhängig Existierendes zu sein, „während sein ‚Inhalt’ aber allein darin besteht, von einem Gehirn wahrgenommen und verstanden werden zu können. Dies erzeugt die Illusion, wir hätten es mit drei getrennten Objekten zu tun: dem neuronalen und motorischen Prozess des Schreibens, dem kulturellen Artefakt und dem Wissen (oder auch Gefühl), das darin verschlüsselt ist.“ (ebd., 124) In einem weiteren Schritt werden dann solche von Gehirnen losgelösten Erkenntnisse mit einem Eigenleben ausgestattet, schließlich mit einem Namen benannt als ‚Reich der Ideen’ oder ‚objektiver Geist’. Anders als der Austausch von Waren besteht der vermeintliche Informationsaustausch darin, „dass zwei Individuen direkt oder mittels Artefakten so interagieren, dass in jedem der beteiligten Gehirne bestimmte Lernprozesse ablaufen [...]. Erfolgreiche Kommunikation besteht darin, dass in den Gehirnen der interagierenden Individuen ähnliche Prozesse konstruiert oder rekonstruiert werden. Sind diese Prozesse zu unterschiedlich, missverstehen wir uns, und laufen gar keine äquivalenten Prozesse in den beteiligten Gehirnen ab, dann verstehen wir einander überhaupt nicht [...]. Es gibt keinen immateriellen Inhalt kognitiver Prozesse oder kultureller Artefakte. Eine Skulptur, die niemand betrachtet, ist genauso ein bloßes Stück Materie wie eine wissenschaftliche Arbeit, die keiner liest. Nur wenn solche materiellen Objekte durch ihr Wahrgenommenwerden in einem Gehirn Prozesse des Re-Konstruierens, des Nach-Schöpfens, des Nach-Fühlens, des Nach-Handelns oder des Nach-Denkens auslösen, dann existiert ihr kognitiver, emotionaler oder ästhetischer Inhalt genau dann, wenn und solange diese Prozesse ablaufen oder aufgrund des Gedächtnisses ablaufen können.“ (ebd., 124f)

(Teil II folgt in Z88, Dezember 2011)

Literatur

Bunge, Mario (1956): Über philosophische Fragen der modernen Physik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 4/1956, 467-496

Bunge, Mario (1959): Causality. The place of the causal principle in modern science. Cambridge.

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[1][6] So argumentierte Bunge 1956 z.B. in einem Aufsatz in der zentralen Philosophie-Zeitschrift der DDR mit Engels und Lenin und kritisierte die ‚Kopenhagener Deutung’ der Quantenphysik von einer dialektisch-materialistischen Position aus (siehe Bunge 1956).

[2][7] Bunges Werk liegt vor allem in englischer, z.T. in spanischer, einiges auch in deutscher Sprache vor und ist zudem in zahlreiche weitere Sprachen übersetzt worden. Ins Literaturverzeichnis konnte aus Platzgründen nur eine kleine Auswahl seiner Publikationen aufgenommen werden.

[3][8] Vgl. Z 77, 81 und 82.

[4][9] Zu Bunges Konzept von Raum und Zeit siehe ebd. 67ff.

[5][10] Der Sache nach wird dieser Gedanke in Hegels – von Bunge abgelehnten – Dialektik, so gefasst, dass ein Ding dadurch definiert wird, dass es eingegrenzt und damit abgegrenzt wird von allem anderen. Die Ein- und Abgrenzung negiert den ‚Rest der Welt’; Bestimmen oder Definieren ist also ein Negieren. Dialektisches Denken betont nun die Einseitigkeit dieses Bestimmens, Eingrenzens oder Negierens und macht darauf aufmerksam, sich auch des Ausgegrenzten bewusst zu bleiben oder zu werden, da beides, das Ein- und das Ausgrenzte zusammen erst das Ganze, das ‚Wahre’ ausmachen. Dieser Gedanke ist erstmal wichtig zu denken, bevor ich mich aus pragmatischen Gründen nur Teilen des Ganzen zuwende.

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