EU-Schuldenkrise

Menetekel Griechenland

September 2011

Das Ende Juli 2011 von der EU für Griechenland geschnürte Krisenpaket ist ein Meilenstein in der Entwicklung von Eurozone und EU, der die Dominanz Deutschlands zementiert und gleichzeitig der internationalen Finanzindustrie eine Schlüsselrolle im Krisenprozess einräumt. Dafür sprechen drei zentrale Elemente des Griechenlandpakets, die eine Art Praxistest der europäischen Machtstrukturen nach der großen Krise 2008/10 darstellen und – leider – das bestätigen, was Z-Autor Jörg Huffschmid 2009, mitten in der akuten Phase der Weltwirtschaftskrise, vorausgesehen hatte: „Die zur ‚Bankenrettung’ aufgewendeten Riesensummen werden die öffentlichen Haushalte massiv unter Druck setzen… In dieser Situation wird der allgemeine Spardruck bei den Staatsausgaben zunehmen… Nach dem Ende des Notstands werden die Hauptrichtungen der Entwicklung überwiegend durch ‚die Märkte’, d.h. die Interessen der dominierenden Konzerne und Finanzinvestoren, bestimmt.“ (Z 78, Juni 2009, S. 45 ff.)

Das Griechenlandpaket festigt die Dominanz Deutschlands in Europa

Das erste dieser drei Elemente betrifft die Kräfteverhältnisse zwischen den Nationalstaaten innerhalb der Eurogruppe bzw. der EU. Bekanntlich vereinigen beide Organisationen Länder mit sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Ausgangsbedingungen. Das große Versprechen der Europapolitiker war, dass die europäischen Zusammenschlüsse über kurz oder lang zu einem Ausgleich der Lebensverhältnisse führen würden – Europa sollte eine Solidargemeinschaft sein. Das Griechenlandpaket aber macht den Völkern der schwächeren Länder der EU und der Eurozone – und das ist die Mehrheit – unmissverständlich deutlich, dass damit nicht mehr zu rechnen ist: Es etabliert eine machtpolitische Hackordnung, deren Grundlage nicht mehr Bevölkerungszahlen, sondern die jeweilige nationale Wirtschaftskraft ist. Das Schuldenproblem ist dabei kaum mehr als ein Vehikel – wie sonst könnte es sein, dass z.B. Spanien, dessen Schuldenkennziffern teilweise besser sind als jene Deutschlands, als Pleitekandidat gehandelt wird und an den Finanzmärkten hohe Risikoaufschläge zahlen muss, während Deutschland seine Kredite gemessen am Realzins fast zum Nulltarif erhält? Kernpunkt der aktuellen Auseinandersetzungen sind nicht die Staatsschulden, sondern die Schwäche der Wirtschaft Portugals, Italiens, Griechenlands, Spaniens und anderer Wackelkandidaten (nur Irland ist ein Sonderfall), verdeutlicht durch hohe Defizite im Außenhandel. Unter dem Druck schrumpfender wirtschaftlicher Spielräume setzen die wirtschaftlich starken Länder rücksichtslos ihre Interessen auf Kosten der Schwächeren durch.

Das Griechenlandpaket sieht vor, dass der seit 2010 bestehende Euro-Krisenfonds EFSF (bzw. ab 2013 sein Nachfolger ESM) zusätzliche Befugnisse erhält. Er wird damit zu einem europäischen IWF, der nach Ansicht vieler Beobachter sogar mit größeren Kompetenzen ausgestattet ist als jener. Wie der IWF ist der EFSF ein Disziplinierungsinstrument der Überschussstaaten gegenüber den Defizitländern. Wer den EFSF um Unterstützung angeht, muss sich einem rigiden Austeritätssprogramm unterziehen. Abgestimmt wird nach Anteilen der 16 Mitgliedsstaaten (ohne Estland) am EFSF-Stammkapital, was Deutschland nicht die Mehrheit, aber doch das größte Gewicht sichert. Zwar ist bei vielen wichtigen Entscheidungen Einstimmigkeit erforderlich; die Nutznießer von Garantien, in der Formulierung des EFSF-Rahmenvertrags vom 7. Juni 2010 „Stepping-Out-Guarantor“ genannt, verlieren aber ihr Stimmrecht. In dem Maße, wie sich Mitglieder der Eurogruppe unter den EFSF-Schutzschirm stellen, geben sie faktisch jedes Mitspracherecht auf. Dies bringt Finanzminister Schäuble so auf den Punkt: „Die Integration muss voranschreiten und ein Staat mit Problemen, dem geholfen wird, muss im Gegenzug einen Teil seiner Hoheitsrechte an die EU abgeben.“ (Interview im Stern, 27.7.2011). Hier ist Schäuble etwas unpräzise: Die Hoheitsrechte werden nicht an die EU-Gremien (in denen die Hilfesuchenden Sitz und Stimme haben), sondern an die neuen Institutionen der Eurogruppe abgegeben, in denen das Prinzip herrscht ‚wer zahlt schafft an’. Mit der durch das aktuelle Griechenlandpaket verbundenen Erweiterung der Kompetenzen des EFSF ist also nicht die Stärkung europäischer Institutionen verbunden – wobei eine gewisse Unabhängigkeit von nationalstaatlichen Interessen unterstellt werden kann –, sondern es wird eine Institution gestärkt, in welcher – wie im IWF – nach Wirtschaftskraft entschieden wird: Deutschland (27,1 Prozent) und Frankreich (20,4 Prozent) haben zusammen nahezu die absolute Mehrheit – jedenfalls dann, wenn man die Beistandskandidaten, die ihr Stimmrecht verlieren, außer Betracht lässt. Das Griechenlandpaket bringt also per saldo nicht mehr Supranationalität, sondern eine Stärkung der dominierenden Länder, an der Spitze Deutschlands. Hier ist der Bezug auf den IWF lehrreich: Dieser konnte und kann zwar schwache Länder mit Auflagen überziehen, nicht aber z.B. die USA zu mehr finanzpolitischer Stabilität veranlassen. Dass der EFSF vom deutschen Multitalent Klaus Regling geleitet wird, der auch in der Vergangenheit problemlos zwischen Staat und Privatwirtschaft zu wechseln pflegte und der selbst für Hedgefonds gearbeitet hat, ist da schon fast selbstverständlich.

Die Verhinderung des notwendigen Schuldenschnitts

Ein zweiter Aspekt des Griechenlandpakets ist die fehlende Nachhaltigkeit. Kaum jemand glaubt, dass die beschlossenen Erleichterungen tatsächlich ausreichen werden, Griechenland langfristig wieder zahlungsfähig zu machen. Die Beschlüsse reduzieren die öffentlichen Schulden Griechenlands nur marginal um 12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP); die Schuldenquote würde auf 148 Prozent des BIP sinken, was immer noch mehr ist als die 143 Prozent von 2010. Das gibt zwar kurzfristig etwas Luft, verschiebt die Belastungsspitzen aber lediglich in die Zukunft. Zahlungsfähig kann Griechenland nur werden, wenn seine Wirtschaftskraft langfristig ausreicht, die fälligen Zinsen zu erwirtschaften. Genau das aber verhindern die mit dem Paket verbundenen rigiden wirtschaftspolitischen Auflagen. Auch die von den Finanzakteuren als ‚Ei des Kolumbus’ angepriesene Privatisierung öffentlichen Eigentums wird keine Entlastung bringen: Die Erfahrungen zeigen, dass Privatisierungen nur dann nennenswerte Erlöse bringen, wenn die entsprechenden Unternehmen bzw. Vermögensgegenstände rentabel sind, d.h. wenn sie dem Staat in der Vergangenheit Einnahmen verschafft hatten. Diese Einnahmen, z.B. aus Häfen, Energieerzeugung usw., fehlen dem Staat nach der Privatisierung und schwächen langfristig dessen Finanzkraft. Strukturell defizitäre Betriebe dagegen werden kaum große Privatisierungserlöse generieren. Das Griechenlandpaket würde nur dann funktionieren, wenn es mit Maßnahmen zu Stärkung der Wirtschaftskraft des Landes und damit dessen Wettbewerbsfähigkeit vor allem im Rahmen der EU verbunden wäre. Davon ist aber weit und breit nichts zu sehen – die diversen Sparpakete untergraben den griechischen Binnenmarkt, ohne dass sichtbar wäre, auf welchem Gebiet die drastische Senkung der Löhne und Sozialkosten Griechenland international konkurrenzfähiger machen würde. Hinzu kommt, dass die aggressive deutsche Exportpolitik, eine der Ursachen der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte in der EU, nicht thematisiert wird.

Die Finanzindustrie führt die Feder

Ein dritter Aspekt betrifft die Beteiligung des Privatsektors und die Rolle der Finanzindustrie. War es nach dem Beinahe-Zusammenbruch im Herbst 2008 Konsens, dass die Funktionsweise der Finanzmärkte strukturell verändert werden müsse, so sind die Funktionsdefizite der ‚Märkte’ nach der mit massiver öffentlicher Finanzhilfe bewerkstelligten Rettung des privaten Banksektors rasch in Vergessenheit geraten. Der Ausbruch der Krise der Staatsschulden, die letzten Endes nur eine logische Folge der privaten Finanzmarktkrise war, ließ die Funktionsdefizite und die Hypertrophie des Finanzsektors sowie dessen Vermachtung aus dem Blickfeld geraten. Im Gegenteil: Auf einmal wurden die Finanzmärkte, deren Dysfunktionalität die Weltwirtschaft an den Abgrund geführt hatte, wieder zu sachneutralen ökonomischen Instanzen, an welchen sich Politik zu orientieren habe. Das scheinbar unbestechliche Urteil der ‚Märkte’ trieb die Politik vor sich her, obwohl deren Fehlurteile und Irrationalität bei der Beurteilung öffentlicher Schulden offen zutage liegen. Die Kurse öffentlicher Schuldtitel schwanken hektisch auf und ab, die spekulativ angetriebenen Preise der Kreditversicherungen CDS erreichen schwindelnde Höhen, die Spekulation mit griechischen und anderen gefährdeten Anleihen erweist sich für viele Fonds als willkommene Gewinnquelle: Der kritische ‚Wirtschaftsweise’ Peter Bofinger nimmt an, dass ein Drittel aller griechischen Staatsanleihen in der Hand von Hedgefonds und anderen Spekulanten ist – die nun nach Verabschiedung des Griechenland-Pakets „voll auf ihre Kosten kommen“ (Wirtschaftswoche v. 21.7.2011).

Abgesehen von der Tatsache, dass die vieldiskutierte finanzielle Beteiligung der Banken an den Kosten des Pakets je nach Berechnung minimal oder nicht existent ist – letzten Endes können die Banken Griechenlandpapiere, die zeitweilig mit kaum mehr als 50 Prozent ihres Nominalwertes gehandelt wurden, in länger laufende Papiere zum Nennwert umtauschen, die zudem noch vom EFSF garantiert werden – ist viel wichtiger, dass das „Institute of International Finance“ (IIF), eine Vereinigung der 400 führenden internationalen Finanzinstitutionen, die politische Führung bei der Umsetzung von Wirtschaftsreformen übernommen hat. Ungeliebte Vorschläge wie z.B. eine Bankenabgabe wanderten in den Papierkorb. Niemand bemühte sich, diese Tatsache auch nur zu beschönigen: Bis in die Details führte das IIF unter seinem Vorsitzenden Ackermann beim Griechenlandpaket die Feder. Faktisch hat damit die Lobbyorganisation der Finanzindustrie hoheitliche Aufgaben übernommen. Diese Machtübertragung an die Finanzwirtschaft, durch die eine wirksame Entschuldung Griechenlands verhindert wurde, setzt die potenzielle Reinigungsfunktion der Schuldenkrise außer Kraft: Nur ein kräftiger Schuldenschnitt hätte Griechenland jenen finanziellen Spielraum verschaffen können, der notwendig wäre, um die Rezession zu überwinden und überfällige industriepolitische Reformen umzusetzen.

Geht man davon aus, dass das Griechenlandpaket eine Art Modell für die ‚Lösung’ der mit Sicherheit kommenden weiteren Schuldenkrisen darstellt, dann ist Griechenland in der Tat ein Menetekel: Die in der Mehrheit der Staaten der Eurozone diskutierten bzw. bereits beschlossenen Sparprogramme werden die jeweiligen Binnenmärkte weiter begrenzen und damit einen zur Jahresmitte 2011 bereits sichtbaren Trend zur Abschwächung der europäischen Konjunktur verstärken. Da aber nach wie vor fast zwei Drittel der deutschen Exporte in die europäischen Nachbarländer gehen, wird dies letzten Endes auch die deutsche Wirtschaft berühren. Damit aber ist das bisherige, vom Euro gestützte Exportmodell Deutschland mittelfristig gefährdet.