Die Stadt als soziales Kampffeld

Ein Recht auf Kotti – und Co.

EU-Flüchtlingspolitik und die Situation in Deutschland

von Matthias Clausen
Dezember 2015

Wir, die Mieterinitiative Kotti & Co., sind seit Mai 2012 im Dauerprotest gegen die für uns unbezahlbaren Mieten im Sozialen Wohnungsbau. Wir fordern unser Recht auf Stadt ein. Im Folgenden soll es um die wichtigsten Eckpunkte dieses Kampfes gehen.

Die meisten Mitglieder von Kotti & Co. wohnen in den Hochhäusern am südlichen Kottbusser Tor. Sie wurden Ende der 1970er als Teil einer Großwohnsiedlung mit Fördermitteln des Sozialen Wohnungsbaus errichtet. Diese Förderprogramme sollten bezahlbaren Wohnraum für breite Bevölkerungsschichten schaffen. Sie machten den Bau von Sozialwohnungen für private Investor_innen zu einem sehr lukrativen Geschäft und bescherten dem Land Berlin ca. 30 Mrd. € Schulden, bevor Finanzsenator Thilo Sarrazin 2001 die Notbremse zog und das Programm beendete. Die „Anschlussförderung“ wird jährlich gesenkt – und die Mieten erhöht. Denn an die Zukunft der Sozialmieter_innen wurde beim Förderausstieg nicht gedacht.

Jedes Jahr steigt unsere Miete um mindestens 13 Cent pro Quadratmeter. Mittlerweile liegen die Sozialmieten damit über dem Durchschnitt des freien Mietwohnungsmarktes. Gleichzeitig gehören wir zu den ärmsten Nachbarschaften in Berlin (Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales 2013). Nur ein Fünftel der Bewohner_innen ist sozialversicherungspflichtig beschäftigt, 40 Prozent bekommen ALG II. 72 Prozent der Kinder beziehen Sozialleistungen. 2011 verwendeten etwa die Hälfte der Sozialmieter_innen am „Kotti“ 50 Prozent und mehr ihres Einkommens auf die Miete. Mehr als ein Drittel hat weniger als 200€ pro Person und Monat zum Leben übrig (eigene Erhebung). Diese gemeinsame Notlage hat zur Gründung von Kotti & Co. geführt und bestimmt maßgeblich unsere Strategie. Die Logik der Austerität, mit der uns die Politik konfrontiert, weisen wir zurück. Unsere Miete muss schnell sinken, wenn wir eine Zukunft in der Innenstadt haben wollen.

Zu Beginn erwies es sich jedoch bereits als Herausforderung, überhaupt Verantwortung und Handlungsmacht im komplizierten Geflecht aus Eigentümerin, Senat, Verwaltung und Investitionsbank Berlin zu identifizieren. Es gab keine öffentliche Diskussion um Sozialen Wohnungsbau – und erst recht keine, in der die Bewohner_innen selbst eine Stimme haben.

„Wir sind Kreuzberg – wir bleiben!“

In unserer so genannten Kerngruppe kommen sehr unterschiedliche Biographien zusammen. So stellte sich die Gruppe im Frühjahr 2012 in einem Flugblatt vor: „Wir sind Kreuzberg! – und nicht erst seit gestern. […] Wir sind Azubi, Rentnerin, Arzthelferin, Krankenpfleger, Bauingenieurinnen auf Hartz IV, wir sind Versicherungsvertreter, die Soziologie studiert haben, wir sind Metallbauerinnen, die ihre Doktorarbeit in Politik schreiben, Marktverkäuferinnen, Designer […]. Einige von uns haben Namen, mit denen unsere Lehrer in der Schule nichts anfangen können, die glauben, wir schaffen keinen Schulabschluss. Wir kämpfen schon unser Leben lang mit dem Rassismus oder der sozialen Ausgrenzung, mit Hartz IV und Altersarmut in dieser Gesellschaft. […] Wir glauben an Allah, Gott, oder einfach an eine gerechte Gesellschaft.“ (Kotti & Co. 2012)

Für viele (aber nicht für alle) Beteiligte ist Kotti & Co. das erste politische Projekt, sind die zig Lärmdemos durch den Kiez die ersten Demonstrationen. Mit dem Aufbau eines „Gecekondu“ im Mai 2012, einer sich über die Jahre immer wieder erweiterten und umgebauten Protesthütte am Kottbusser Tor, gelang es, eine subalterne Perspektive in die Öffentlichkeit zu bringen. Den ganzen Sommer lang war das Haus rund um die Uhr besetzt, Produkt und Ausgangspunkt des Protestes zugleich. Auch heute noch ist es täglicher Nachbarschafts- und Initiativentreff, Veranstaltungsort, selbstorganisierte Sozial- und Mietberatung u.v.m. Die Aufmerksamkeit ist nach wie vor groß. Die Bewohner_innen des „Kotti“ ermächtigten sich selbst, als Expert_innen ihrer Lage zu sprechen.

Von der eigenen Miete zur unternehmerischen Stadt

Das Problem der hohen Mieten am Kottbusser Tor ist unmittelbar mit dem gesamten System der Wohnungsbauförderung und staatlichen Strategien in der Stadtpolitik verbunden. Das Verständnis von diesem Zusammenhang und die Tragweite dieser Erkenntnis hat sich im Verlauf des Protestes entwickelt. Das bei Kotti & Co. angesammelte Wissen hat den Kampf getragen von der Frage der Miethöhe in den eigenen Wohnungen zu einem Volksentscheid zur Neuordnung der Berliner Wohnungspolitik[1], gemeinsam mit vielen anderen Aktiven. Dieser Prozess war nicht geplant. Jeder Schritt ergab sich aus der Notwendigkeit der Lösung des gemeinsamen Problems. Der ursprünglich enge Fokus konnte sehr unterschiedliche Erfahrungen miteinander ins Gespräch bringen, ohne eine große Deckungsgleichheit erzwingen zu müssen. So war es möglich, untereinander Situationen der „produktiven Verunsicherung“ und damit ein vertrauensvolles und empathisches Verhältnis herzustellen. Diese Ausgangslage war wichtig im Prozess der Wissensproduktion, die die weiteren Schritte der Auseinandersetzung begleitet hat.

Dass es innerhalb des bestehenden Systems der sog. Anschlussförderung keine Sonderregeln für die Häuser am „Kotti“ geben kann, war relativ schnell klar. Doch wie soll das ganze System des Sozialen Wohnungsbaus umgestaltet werden, wenn nur wenige Monate zuvor niemand auch nur darüber reden wollte? Eine Antwort war die Konferenz „Nichts läuft hier richtig“, die im November 2012 im Abgeordnetenhaus Berlin stattfand. Hier präsentierten Kotti & Co., sozialmieter.de und Unterstützer_innen nicht nur eine umfassende Darstellung des Problems, sondern diskutierten mit der Politik unsere Lösungswege, die auf (Re-)Kommunalisierung und Dekommodifizierung sowie Veränderungen im System der „Kosten der Unterkunft“ abzielten.[2]

Bezahlbar für wen?

Kurz nach der Konferenz beschloss die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung die Aussetzung des Rückbaus des Subventionssystems (und damit der automatischen Mietsteigerungen) für 16 so genannte Großsiedlungen des Sozialen Wohnungsbaus (ca. 35.000 Haushalte). Verbunden mit einer Mietminderungskampagne, die gleichzeitig die Vernachlässigung der Gebäude thematisierte und eine Entlastung der beteiligten Mieter_innen bedeutete, sorgte der Protest nun für eine konkrete, wenn auch befristete, Verbesserung.

Auch der Diskurs um die „Stadt von morgen“ kam in Fahrt. Verbunden mit anderen Kämpfen, etwa gegen Zwangsräumungen, wurde die Politik des Ignorierens abgelöst durch eine Politik der Dialogveranstaltungen[3], Neubausubventionen und „Bündnissen“ mit den landeseigenen Gesellschaften.

Ein wirksamer Schock war dabei der gewonnene Volksentscheid gegen die Bebauung des ehemaligen Flughafen Tempelhofs. Dort sollte Kreativwirtschaft angesiedelt und auf „Bezahlbarkeit“ runtersubventionierter Wohnungsneubau entstehen. Damit verkörperte das Bauvorhaben die Erzählung von der Wohnungsnot durch den Senat und die Immobilienbranche: Es gäbe nun doch ein Problem; die Ursache läge im Missverhältnis von Angebot und Nachfrage und dessen Lösung in mehr Wohnungsbau. Der „Sickereffekt“ würde dann für sinkende Mieten für die Armen der Stadt sorgen. Diese Strategie ermöglicht weitere Kapitalflüsse in den finanzialisierten Immobiliensektor und vergrößert die Verwertungsmöglichkeiten des Berliner Wohnraums. Die sozialpolitische Wirkung wäre ein Nebeneffekt. Diese Argumentation sollte bereits in den 1980er Jahren Förderungen des Immobilienkapitals rechtfertigen – damals wie heute erwiesenermaßen[4] keine Lösung des Problems der Wohnungsnot, sondern des „Problems“ der Profitmaximierung.

Die mittlerweile allseits formulierte Forderung nach „bezahlbarem Wohnraum“ erweist sich dabei als wirksames Mittel, diesen Interessengegensatz zu verdecken. Denn was heißt „bezahlbar“? Der Senat warb für die Tempelhof-Bebauung mit „bezahlbaren“ Anfangsmieten von sechs bis acht Euro pro Quadratmeter. Kotti & Co. hatte ihren Dauerprotest bei „unbezahlbaren“ sechs Euro gestartet und vier Euro gefordert. Ohne präziser zu werden kann die Forderung der „Bezahlbarkeit“ zwar unterschiedliche soziale Gruppen im Protest gegen eine neoliberale Stadtentwicklung zusammenbringen, aber auch umgekehrt die marginalisierten Interessen bis zum Zeitpunkt der konkreten Festsetzung immer „mitmeinen“ und am Ende ignorieren. Kotti & Co. hat deshalb früh deutlich gemacht, das Bezahlbarkeit sich an den Mietobergrenzen der sozialen Sicherungssysteme messen lassen muss.

Wessen Recht auf wessen Stadt?

260.000 Berliner Haushalte (!) liegen unter der Armutsgrenze und können weniger als 5,50€ pro Monat und Quadratmeter für die Kaltmiete aufbringen (Holm 2014, 12). Die Dimension des Problems ist selbst in den urbanen sozialen Bewegungen oft nicht präsent. Das hat auch etwas mit der Zusammensetzung dieser Bewegungen zu tun.

Zusammenarbeit unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen sind die Bedingung von Bewegung für ein Recht auf Stadt. Sie bildet sich um das gemeinsame Interesse am Gebrauchswert der Stadt und an ihrem Versprechen auf Entfaltung, Versorgung, Kultur etc. Dem entgegen steht ein Prozess der Verwertung der Stadt, der sich am Tauschwert orientiert. Dabei betrifft der Ausverkauf der Stadt die Bevölkerung sehr unterschiedlich. Bei Kotti & Co. verbindet sich die Erfahrung von rassistischer Ausgrenzung und Marginalisierung mit Prekarisierung und Armut. Das sind andere Ausgangsbedingungen als z.B. in der bedrängten (Sub-)Kulturszene oder bei Gegner_innen der privatisierenden Bebauung des Mauerparks. Dabei bleibt die Möglichkeit und Notwendigkeit der Zusammenarbeit gegen diese unterschiedlichen Zugriffe des Kapitals auf den urbanen Raum. Gefährlich sind jedoch Versuche der Politik oder Wirtschaft, den utopischen Überschuss dieser Kämpfe um eine solidarische Stadt von morgen in ein positives Bild der diversen, nachhaltigen usw., aber dennoch neoliberalen Stadt umzuwandeln. Das betrifft nicht nur das Gerede von der „Durchmischung“ (vgl. Hamann 2014), sondern auch die Verwandlung von Mietprotesten in staatliche Impulse für Bauindustrie und Immobilienkapital. Für die Beteiligten an urbanen sozialen Bewegungen bedeutet das, den Aspekt der Klassenallianz nicht als Uneindeutigkeit misszuverstehen. Das gleiche Recht auf Stadt wird von ungleichen Akteuren erkämpft – und kennt nicht nur die Solidarität untereinander, sondern auch den Interessensgegensatz nach außen.

Quellen

Gude, Sigmar, 2014: Neubau ist nicht die Lösung. In: Nichts läuft hier richtig. S. 14-18.

Hamann, Ulrike, 2014: „Soziale Mischung“ – Begleitmusik der Verdrängung. In: Nichts läuft hier richtig. S. 50-51.

Holm, Andrej, 2014: Wohnungsnotbericht Berlin. In: Nichts läuft hier richtig. S. 10-13.

Kotti & Co., 2012: Merhaba, Salam und schönen guten Tag. http://kottiundco.net/2012/08/03/merhaba-salam-und-schonen-guten-tag/ (26.04.2015)

Kotti & Co., 2014: Sozial geht anders. Ein Expertengremium für den Sozialen Wohnungsbau? http://kottiundco.net/2014/12/11/nachhalig-und-sozial-geht-anders-ein-expertengremium-fur-den-sozialen-wohnungsbau/ (26.04.2015)

Kotti & Co, sozialmieter.de (Hg.), 2012: Nichts läuft hier richtig. Konferenz zum Sozialen Wohnungsbau in Berlin. Berlin: o.V.

Kotti & Co., berliner bündnis sozialmieter.de, Selbstuniversität e.V. (Hg.), 2014: Nichts läuft hier richtig. Informationen zum Sozialen Wohnungsbau in Berlin. Berlin: o.V.

Krätke, Stefan, 1995: Stadt – Raum – Ökonomie. Einführung in aktuelle Problemfelder der Stadtökonomie und Wirtschaftsgeographie. Basel: Birkhäuser.

Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales, 2013: Handlungsorientierter Sozialstrukturatlas Berlin 2013.

[1] Der Mietenvolksentscheid Berlin ist im März 2015 gestartet und hat eine grundsätzliche Umstrukturierung der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften und der sonstigen Förderung, auch der Mieter_innen im Sozialen Wohnungsbau, zum Ziel. Einzelheiten auf www.mietenvolksentscheid.de.

[2] Die Konferenzbroschüre stellt die hier nur angerissenen Zusammenhänge detailliert dar, einsehbar unter www.nichts-laeuft-hier-richtig.de.

[3] Damit sind nicht nur öffentliche Partizipationsinszenierungen gemeint, sondern auch bspw. ein Expertengremium, das durch Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure wie Kotti & Co. wenn nicht Zustimmung so doch Akzeptanz der offiziellen Stadtentwicklung erreichen soll (vgl. Kotti & Co. 2014).

[4] Vgl. grundsätzlich Krätke (1995, 200ff.), zu Berlin: Gude (2014).

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