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Divergenz in der Eurozone: Wie wirkt eine Währungsunion?

von Charles Pauli
Dezember 2016

Seit einiger Zeit häufen sich in der wirtschaftpolitischen Diskussion Stimmen, die von einem grundlegenden ökonomischen Auseinanderdriften der Europäischen Währungsunion ausgehen. Bei dieser Diagnose geht es nicht vorrangig um Verschuldungskrisen oder um kurzfristige Entwicklungen, sondern im Kern um die Frage, ob eine Währungsunion in Europa überhaupt funktionieren kann.

Tatsache ist: Europa begann schon lange vor der Finanzmarkt- und Verschuldungskrise zu divergieren. Bereits seit Einführung des Euro spaltete sich die EWU beispielsweise in Länder mit Außenhandelsdefiziten und in Länder mit Außenhandelsüberschüssen. Und in einer Studie der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ heiß es zur neueren Entwicklung: „Insbesondere die Einkommensunterschiede ... innerhalb der Wirtschafts- und Währungsunion haben seit 2008 um beachtliche 29 Prozent zugenommen.“ „Die WWU leidet unter einem Auseinanderdriften der Produktivität und der Wettbewerbsfähigkeit der teilnehmenden Mitgliedsstaaten“.[1][1]

Wir erinnern uns aber noch gut, wie damals, bei der Euro-Einführung, die meisten Mainstream-Ökonomen ein rasches Zusammenwachsen prognostiziert hatten. Und wir sehen derzeit, dass vor allem hierzulande die Meinung vorherrscht, die anderen Länder müssten es halt so wie Deutschland machen und mit Lohnzurückhaltung und Exportorientierung punkten – dann werde es schon funktionieren.

Die Frage warum Europa divergiert, ist gegenwärtig eine der wesentlichen ökonomischen aber auch politischen Fragen. Grund genug, sich einmal genauer und in Abgrenzung von der gängigen neoklassischen Sichtweise anzusehen, was denn nun eigentlich fundamental, realökonomisch geschieht, wenn man eine Wirtschafts- und Währungsunion auf der Basis weitgehend deregulierter Märkte schafft.

1. Wegfall von Ausgleichsmechanismen

Was in einer Währungsunion passiert, ist erst einmal trivial: Die nationalen Währungen fallen weg und somit auch die Wechselkurse. Wechselkurse können aber unterschiedliche Preisentwicklungen einzelner Ökonomien im Warenverkehr mit dem Ausland ausgleichen. Damit sind sie so etwas wie ein Schutzschild, wenn ein Land Wettbewerbsnachteile durch niedrige Produktivität und hohe Stückkosten hat. Es kann trotzdem nicht in allen Wirtschaftszweigen niederkonkurriert werden, wenn seine Währung abwerten kann.

Die Mainstream-Theorie hielt den Wegfall der Wechselkurse überwiegend für kein Problem. Sie geht von der Existenz eines zweiten Anpassungsmechanismus aus: Der Lohnanpassung. Die Lohnkosten erhalten demzufolge die Aufgabe, sich an die jeweilige Entwicklung der Produktivität anzupassen. Steigt die Produktivität in einem Land schneller als in den anderen Ländern, müssen dort auch die Löhne schneller steigen. Die üblichen Theorie-Modelle basieren auf einer schnellen, zeitgleichen Anpassung der Löhne und Gehälter an Produktivitätsentwicklungen.

Nun gibt es aber in der EWU keinen Automatismus, der die Löhne an die Produktivitätsentwicklung der jeweiligen Volkswirtschaft koppelt. Zwar versuchen Gewerkschaften in ihren Verhandlungen Produktivitätsfortschritte einzupreisen, was aber nicht sagt, dass das gelingt. Und den Arbeitsmarkt wie einen Kartoffelmarkt zu betrachten, auf dem Angebot und Nachfrage mal schnell den „richtigen“ Lohn herbeiführen, ist eine seltsam unrealistische Vorstellung, auch wenn ihr sämtliche Mainstream-Ökonomen regelrecht verfallen sind. Eine realistische Annahme über Lohnentwicklungen wäre doch viel eher, dass Entwicklungen der Produktivität und daraus folgende Entwicklungen am Arbeitsmarkt, wie beispielsweise eine zunehmende Nachfrage nach Arbeitskräften, sich zwar auswirken, aber zeitlich verzögert und eventuell unvollständig.

Aber schon alleine dadurch entwickelt sich in einer Währungsunion etwas völlig Anderes, als von den Mainstreamlern prognostiziert.

2. Unterschiedliches Produktivitätswachstum aufgrund
unterschiedlicher Kapital- und Technologieausstattung

Warum ist die Frage der Anpassungsmechanismen eine zentrale Frage? Eben deshalb, weil in den verschiedenen Ländern der Eurozone tatsächlich eine unterschiedlich schnelle Produktivitätsentwicklung und damit Bedarf an „Anpassung“ besteht. Ausschlaggebend für unser Thema ist dabei vor allem das Produktivitätswachstum bei den so genannten „handelbaren Gütern“ also bei Industrieprodukten, die international gehandelt werden und der internationalen Preiskonkurrenz unterliegen.

Begründet sind unterschiedliche Produktivitätsdynamiken unter anderem damit, dass Wissenschaft und Forschung regional unterschiedlich entwickelt sind. Regionen mit einer hohen Wissenschafts- und Forschungsintensität kann man aber mehr Innovationen und ein schnelleres industrielles Produktivitätswachstum unterstellen.

Die Unterschiede in der Forschungs- und Entwicklungsintensität sind empirisch belegt und wohl nicht erstaunlich. Beispielsweise haben Länder wie Deutschland, Österreich und die Niederlande deutlich höhere F&E Anteile am Bruttosozialprodukt als Italien, Spanien oder Portugal.

Dazu kommt, dass in diesen Ländern kapitalintensiver produziert wird: Während in Portugal einem Beschäftigten durchschnittlich 60.000 Euro Kapitalstock zur Verfügung stehen, sind es in Deutschland 140.000 Euro.

Dementsprechend zeigen Daten über die Produktivitätsentwicklung der Industrie in den EWU-Ländern, dass Deutschland, Österreich, Belgien und die Niederlande, aber auch Frankreich, über dem EWU-Durchschnitt liegende Produktivitätssteigerungen aufweisen.[2][2]

Beispielsweise berechnet das Unternehmerinstitut iw, dass die Bruttowertschöpfung pro Stunde im verarbeitenden Gewerbe von 1991 bis zur Krise 2009 sich im Jahresdurchschnitt folgendermaßen entwickelte (Zuwachs in Prozent):[3][3]

Deutschland

Niederlande

Belgien

Spanien

Italien

2,3

2,9

2,4

1,4

1,0

Die Entwicklung seit 2009 ist schwer zu bewerten. Statistische Produktivitätsfortschritte in Spanien und Portugal dürften zu einem guten Teil aus den Konkursen unproduktiver Unternehmen resultieren und nicht aus echten Fortschritten. Angaben der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) von 2016 zeigen jedenfalls, dass sich der Abstand in der „mittleren Produktivität“ zwischen Deutschland einerseits, Spanien und Italien andererseits im langen Zeitraum seit 1970 mehr als verdoppelt hat.[4][4]

Wenn aber die Produktivitätsdynamik in einigen Ländern höher ist als in anderen, erzielen sie damit zwangsläufig Preis- und Wettbewerbsvorteile – solange kein Ausgleichsmechanismus dazwischen geht.

3. Hohe Produktivitätsdynamik fördert Produktivitäts-Lohn-Scheren

Bei hoher Produktivitätsdynamik und fehlendem oder unvollständigem Ausgleichsmechanismus, also verzögerter oder fehlender Lohnanpassung, entwickelt sich eine Produktivitäts-Lohn-Schere: Steigt die Produktivität stärker als die Arbeitskosten entstehen sinkende Stückkosten.

Eine relative Produktivitätserhöhung im Land X, (also eine höhere Produktivitätssteigerung als im Land Y), führt zu einem Preisvorteil bei den Produkten von X. X übernimmt Marktanteile von Y. X baut Exportüberschüsse auf und zerstört damit Arbeitsplätze im Ausland.

Der zentrale Begriff dieser Überlegungen ist also die „Produktivitätsschere“. Länder oder Regionen mit hoher industrieller Produktivität (gebunden an einen hohen industriellen Kapitalstock) und hoher Produktivitätsdynamik (schnelles Produktivitätswachstum) haben in einer Währungsunion bessere Möglichkeiten und größere Spielräume, durch eine Lohn-Produktivitäts-Schere dauerhaft Wettbewerbsvorteile aufzubauen.

Deutschland, Österreich und die Benelux-Länder haben das getan, Frankreich übrigens nicht!

Länder mit unterdurchschnittlicher Produktivitätsdynamik haben diese Möglichkeit eher nicht. Sie müssten die Löhne ständig senken, um mit niedrigeren Arbeitskosten die Nachteile im Produktivitätswachstum zu kompensieren. Eine Entwicklung, die ihren Binnenmarkt verwüsten würde und damit kontraproduktiv wäre.

Nebenbei: Die Diskussion über die deutschen Dumpinglöhne, die die EWU zerstören, ist ebenso richtig wie unzureichend. Denn wie Lohnentwicklungen sich bezüglich der Wettbewerbsfähigkeit auswirken, hängt immer von ihrem Verhältnis zur Produktivitätsentwicklung ab. Auch das ist eigentlich trivial. Umso mehr erstaunt es, dass das Thema Lohnentwicklung sehr intensiv, die Themen Kapitalallokation, Kapital- Technologie- und Knowhow-Konzentration dagegen sehr wenig diskutiert werden.

4. Produktivitäts-Lohn-Scheren führen zu strukturellen Konkurrenzvorteilen

Entscheidend für Konkurrenzverhältnisse in einer Währungsunion ist, ob dieses Szenario einer Produktivitäts-Lohn-Schere langfristig und damit „strukturell“ sein kann, also eine dauerhafte Divergenz der EWU begründen könnte.

Einen Hinweis darauf, dass das Wachstum der Produktivität langfristig über dem Lohnwachstum liegen kann, liefern die Leistungsbilanzüberschüsse in der EWU und die Entwicklung der Lohnquote in verschiedenen EWU-Überschussländern. Sinkende Lohnquoten dokumentieren nichts Anderes als ein prozentual stärker als die Löhne steigendes Bruttoinlandprodukt, dessen Steigerung wir hier hilfsweise mit der Produktivitätssteigerung gleichsetzen.

Die Daten für Deutschland belegen, dass die bereinigte Lohnquote seit einem Höchststand Anfang der 1980er Jahre von rund 77 Prozent in mehreren Wellenbewegungen mit einem Tiefstand von 64 Prozent in 2007 auf derzeit 68 Prozent gefallen ist. Darüber hinaus liegen auch einige Studien vor, die eine Produktivitätsschere direkt nachweisen. So stieg zum Beispiel nach DIW-Wochenbericht 33/2014 die Bruttowertschöpfung der Industrie in Deutschland von 2003 bis 2011 nominal um 2,6 Prozent p.a., die Arbeitsentgelte (Brutto Sozialbeiträge) um nur 1,8 Prozent.

Das Ergebnis daraus ist eine langfristig divergente Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit in der Währungsunion. Dazu ist allerdings folgende Anmerkung nötig: Strukturelle Wettbewerbsvorteile aufgrund der hier beschriebenen „Schere“ führen zu Leistungsbilanzüberschüssen. In welchem Umfang und wie lange diese Überschüsse aufrechterhalten werden können, hängt selbstverständlich auch von den Möglichkeiten ihrer Finanzierung ab. Wo die Grenzen der Finanzierung liegen, wäre allerdings eine gesonderte Diskussion, die den hier gegebenen Rahmen sprengen würde.

5. Strukturelle Wettbewerbsdivergenz führt zur Deindustrialisierung der schwächeren Länder

Nun könnte man annehmen, die Wettbewerbsvorteile beispielsweise der deutschen Volkswirtschaft seien kein Problem, da es in der EWU ohnehin eine Arbeitsteilung gäbe, die diese Vorteile eher positiv wirken lässt. Der ökonomische Mainstream bemüht sich ja seit Jahren, die deutschen Exportüberschüsse als einen Segen für alle zu interpretieren. Deutschland werde damit zur Lokomotive für ganz Euroland. Oder anders formuliert: Griechenland produziert keine Autos und kann deshalb von Produktivitätsfortschritten der deutschen Autoindustrie auch keinen Nachteil haben. Griechenland könnte aber (was es tut) Stoffe für Autositze herstellen und sich damit an das deutsche Exportwachstum andocken.

Auch diese Argumentation ist merkwürdig irreal. Sie stimmt einfach nicht damit überein, dass Deutschland und andere Überschussländer seit Euroeinführung gewaltige Leistungsbilanzüberschüsse mit den schwächeren Ländern hatten. So erzielte allein die deutsche Wirtschaft bis zur großen Krise 2008 bis zu 80 Milliarden Überschuss mit anderen EWU-Ökonomien. Die Lokomotive hat also die anderen nicht mitgezogen, sondern niedergewalzt.

Die exportorientierte Sichtweise passt aber auch nicht zu den Produktionsstrukturen der Eurozone. Zu welchen konkreten Resultaten unterschiedliche Produktivitätsentwicklungen in der EWU führen, hängt stark von den Produktionsstrukturen und der industriellen Arbeitsteilung der europäischen Länder und Regionen ab.

Ein erster Blick auf die Struktur verblüfft: Auch Holland produziert Tomaten, Portugal exportiert Autos und Maschinen und in Italien gibt es neben Agrar- und Textilproduktion Fiat, Ferrari und Maschinenbau. Eine deutliche Arbeitsteilung nach Produktgruppen lässt sich nur schwer ablesen. Selbst Griechenland hatte übrigens bis vor kurzem noch einen Maschinenbausektor und stellte chemische und pharmazeutische Produkte her. Die Ansicht, Griechenland würde mit Deutschland in keiner ökonomischen Konkurrenz stehen und Deutschland deshalb mit der Griechenlandkrise nichts zu tun haben, ist demnach schwer haltbar.

In der EWU konkurriert jeder mit jedem. Sicherlich nicht bei allen Produkten, aber jedes Land hat Produktgruppen, die auch in vielen anderen EWU-Ländern hergestellt werden. Wir können also davon ausgehen, dass die unterschiedliche Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit weitgehend durchschlägt und die EWU in Gewinner und Verlierer spaltet. Diese Konstellation führt aber zu einer partiellen Entindustrialisierung der Länder mit niedriger Produktivitätsdynamik.

So hat sich die Industrieproduktion in Spanien zwischen 2000 und 2015 um rund 20 Prozent reduziert, in Portugal in einem ähnlichen Umfang. In Griechenland sank sie um rund ein Viertel, in Italien um rund 15 Prozent, in Frankreich um ca. 10 Prozent. In Deutschland, Österreich und in den Beneluxländern stieg die Industrieproduktion im selben Zeitraum dagegen deutlich, in Deutschland beispielsweise um 22 Prozent.[5][5]

6. Deindustrialisierung statt Kapitalzufluss – die Illusion von der Konvergenz durch Kapitaltransfer

Dieses Bild vervollständigt sich bei einer Betrachtung des Kapitaltransfers. Logisch gesehen könnte man sich die Überlegungen dazu sparen: Wenn in den Verliererländern die Industrieproduktion zurückgeht, wird dort offensichtlich Kapital abgebaut und nicht akkumuliert.

Doch wir wollen es uns nicht so einfach machen, da die Frage des Kapitaltransfers in der Mainstream-Ökonomie immer wieder eine zentrale Rolle spielt. Die Behauptung lautet: Wenn die Krisenländer mittels „Strukturreformen“ ihre Lohnkosten und „Strukturen“ in Ordnung gebracht haben, erhalten sie Produktivkapital in Form von Direktinvestitionen und können damit aufschließen.

Nun zeigt aber bereits ein Blick auf die bisherige Entwicklung der EWU ein anderes Bild. Der Kapitaltransfer von Produktivkapital in die Länder mit niedrigem Kapitalstock war offensichtlich qualitativ und quantitativ begrenzt und unzureichend. Diese Aussage wird den Leser der bürgerlichen Presse befremden, weil dort vor allem von Verschuldung die Rede ist und davon, dass zu viel Kapital in die Südländer floss. Hier wird allerdings die Finanzierung von Leistungsbilanzdefiziten und Portfolioinvestitionen mit produktiven Investitionen verwechselt. Zwar strömte seit Beginn der EWU Kapital in die schwächeren Länder, aber häufig in den Bausektor und in Infrastrukturen. Die Direktinvestitionen gingen überwiegend in Branchen wie Tourismus, Banken und Versicherungen, Telekommunikation und Bau und nur zum kleineren Teil in die Produktion von handelbaren Gütern.

Warum aber fließt nicht, wie von der Mainstream-Theorie erwartet, ausreichend Produktivkapital in diese Länder und Regionen? Die herkömmliche Theorie begründet ihre Erwartungen, etwas vereinfacht dargestellt, mit Lohnkosten: Kapital wird in kapitalärmere Regionen transferiert, weil dort die Löhne niedriger sind. Wenn also eine Investition wahlweise im Hochlohnland oder im Niedriglohnland getätigt werden kann, wäre sie im Niedriglohnland immer profitabler. Voraussetzung: Gleiche Technik, gleiche Qualifikation, vergleichbare Infrastrukturen.

Das Gegenargument ist simpel: In der Realität bestehen durchaus Unterschiede in Qualifikation und Infrastrukturen. „Produktivitätsinseln“ funktionieren in aller Regel nicht besonders produktiv. Außerdem: Niedrige Arbeitskosten führen in der Regel dazu, (siehe betriebswirtschaftliche Produktionsfunktion) dass mit einem höheren Anteil an Arbeit und einem niedrigeren Anteil an Kapital oder mit technisch weniger modernem Kapital produziert wird.

Daraus ergibt sich aber wiederum, dass der Kapitalfluss in den Süden begrenzt ist und nicht zur Konvergenz führt. Neue Produkte mit neuen Technologien werden unverändert im Norden mit qualifizierter Arbeit und hohem Technologieanteil hergestellt. Hier wird der in der Außenwirtschaftstheorie von J. Viner formulierte Zusammenhang wichtig, dass bestimmte Produkte eine bestimmte Relation von Arbeit zu Kapital erfordern. So ist es etwa schlecht möglich, ein modernes Auto mit viel billiger Arbeit unter Zuhilfenahme von Hammer, Amboss und Blasebalg zu produzieren.

Anders formuliert werden Investitionen in Niedriglohnländer in die Herstellung von Produkten mit einem hohen Lohnkostenanteil und einer niedrigeren technischen Komplexität fließen. Die Wachstumsmärkte der neuen technologieintensiven Produkte bleiben damit aber den produktiveren Ländern vorbehalten. Die Annahme, dass niedrige Arbeitskosten zu hohen Investitionen führen, kehrt sich damit um: Niedrige Lohne gehen mit niedrigen industriellen Investitionsquoten einher.

Ein ähnlicher Sachverhalt wird derzeit übrigens unter dem Stichwort „Middle Income Trap“ diskutiert: Länder der mittleren Entwicklungsstufe können weder mit Billiglohnländern (wie etwa Bangladesh) noch mit technologisch führenden Ländern konkurrieren. Sie fallen in eine Entwicklungslücke.

Auch hier spielt die Währungsunion eine wesentliche Rolle: Wenn die Absatzerwartungen der spanischen Metallverarbeitung zurückgehen, weil deutsche oder belgische Konkurrenten kostengünstiger sind, kann niemand einen Investitionsboom in dieser Branche erwarten. Bei Märkten, die einen Importschutz durch die Existenz eines eigenen Wechselkurses haben, wären dagegen die Möglichkeiten, intern Kapital zu erschließen, eindeutig besser. Der Schutz des Wechselkurses, die Möglichkeit der Abwertung, würde den Konkurrenzdruck mildern und Investitionen rentabler machen.

Wenn dem so ist, erweist sich die neoklassische Entwicklungstheorie als falsch. Kapital wandert nicht in den Süden, sondern konzentriert und zentralisiert sich in den industriellen Zentren des Nordens. Das hat wenig mit „schlechter Wirtschaftspolitik“ in den Südländern zu tun, sondern ist die Gesetzmäßigkeit eines gemeinsamen Marktes und einer Währungsunion mit unterschiedlichen Produktivitätsgraden und Produktivitätsentwicklungen.

7. Wie wirkt eine Währungsunion? Fazit und Konsequenzen

Ein erstes Fazit lautet also:

Unterschiedliche Produktivitätsentwicklungen in der EWU führen zu Produktivitäts-Lohn-Scheren zugunsten technologisch führender und kapitalreicher Volkswirtschaften mit höherer Produktivitätsdynamik. Diese Scheren begründen aufgrund des Wegfalls von Ausgleichsmechanismen stabile Preis- und Konkurrenzvorteile dieser Länder in der Eurozone.

Auf Basis der Produktions- und Spezialisierungsstruktur in der Eurozone führen die Wettbewerbsvorteile zu einer teilweisen Deindustrialisierung der schwächeren und teureren Länder. Der Verlust an industrieller Wettbewerbsfähigkeit zieht gleichzeitig einen niedrigen Transfer von Produktivkapital, niedrige Investitionsquoten und einen unzureichenden Technologietransfer nach sich. Dadurch werden die Divergenzentwicklungen in der Währungsunion verstärkt.

Ist diese Analyse so einigermaßen richtig, folgen daraus für die europäische Politik ein paar Hinweise: Zunächst würde es bedeuten, dass eine Währungsunion als marktradikale Konkurrenz- und Wettbewerbsunion nicht funktionieren kann. Genau das ist aber die Konzeption von Europa, die vor allem in Deutschland unausrottbar vorherrscht.

Eine Währungs- und Wirtschaftsunion kann nur auf der Basis der gemeinsamen Entwicklung aller Teilnehmer funktionieren. Das wiederum würde die Konzipierung und Umsetzung einer gemeinsamen europäischen Regional-, Investitions- und Technologietransfer-Politik voraussetzen.

Vielleicht gehen die Überlegungen für einen europäischen Marshallplan, die in letzter Zeit öfter geäußert werden, zumindest ansatzweise in diese Richtung.

[1][6] O. N. Hishow: https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2014_S07_ hsh.pdf, S. 5.

[2][7] http://library.fes.de/pdf-files/wiso/08997.pdf , S. 17, 30 oder auch: http://library.fes.de/pdf-files/wiso/06221.pdf, S. 16.

[3][8] https://www.dgfp.de/wissen/personalwissen-direkt/dokument/86004/herunterladen , S.11.

[4][9] https://www.kfw.de/PDF/Download-Center/Konzernthemen/Research/PDF-Dokumente-Fokus-Volkswirtschaft/Fokus-Nr.-134-Juli-2016-Arbeitsproduktivit%C3%A4t-Eurol%C3%A4nder.pdf, S. 2.

[5][10] http://www.querschuesse.de/westeuropa-industrieproduktion-im-september-2014/; http://www.querschuesse.de/eurozone-industrieproduktion-august-2014/; http://www.querschuesse.de/suedeuropa-industrieproduktion-im-september-2014/.
Eine Ausnahme dazu müssen wir anführen. Die Slowakei hat in den vergangenen Jahren Industrieproduktion nicht verloren, sondern aufgebaut. Sie ist ein Beispiel für eine ausgelagerte Werkbank. Deutsche, französische und auch japanischen Kfz-Hersteller haben in der Slowakei mit der Auslagerung von Teilproduktionen einen neuen, internationalen Produktionsstandort der Automobilindustrie geschaffen. Vgl. auch David X. Noack, Slowakei: Übergang zum neoliberalen Musterland, in: Z 99 (September 2014), S. 81ff.

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