„Das Kapital" – Leseempfehlungen

Revolution mit dem „Kapital"

von Phillip Becher
September 2017

Als Marx’ gemeinhin als Opus magnum apostrophiertes Werk „Das Kapital“ beziehungsweise dessen erster Band bereits ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel und schon eine ansehnliche Rezeptionsgeschichte hinter sich hatte, schrieben wir das epochemachende Jahr 1917. Die russische Doppelrevolution ab Februar des Jahres bestätigte Lenins These von der möglichen Verschränkung von demokratischer und sozialistischer Umwälzung und der Rote Oktober signalisierte den Beginn der ersten siegreichen Revolution, die von marxistischen Kräften geleitet wurde. Unterdessen saugte eine Gruppe junger Sozialistinnen und Sozialisten im fernen Italien voller Begeisterung jede auch noch so kleine Nachricht auf, die sich aus Sowjetrussland auf teils verschlungenen Pfaden über Länder- und Sprachgrenzen hinweg und an der Kriegszensur vorbei den Weg auf die Apennin-Halbinsel bahnte. Der avancierteste Denker und Praktiker unter ihnen veröffentlichte am 24. November 1917 im Mailänder „Avanti“ einen Text, mit dem er die Revolution der Arbeiter und Bauern im Osten frenetisch begrüßte: Antonio Gramsci. Sein Text mit dem provokativen, doppeldeutigen Titel „Die Revolution gegen das Kapital“ und Formulierungen wie „Das Kapital von Marx war in Rußland ein Buch des Bourgeois, weniger ein Buch der Proletarier“[1][1] hat Interpretationen Vorschub geleistet, die Gramsci zu einem subjektivistischen Idealisten erklären, der wenig mit dem Marxismus zu tun habe.[2][2] Palmiro Togliatti, der 1921 gemeinsam mit Gramsci die italienische KP aus der Taufe hob und diesem nach dessen Verhaftung als kommunistischer Generalsekretär nachfolgte, sagte über den Text seines Freundes und Lehrers aus dem Jahr 1917: „Dieser Artikel ist nicht gedacht als Angriff auf die grundlegenden Lehren des Marxismus, auf den Klassenkampf und die morphologische Notwendigkeit der proletarischen Revolution, sondern als Angriff auf die Entartung der positivistischen Interpretationen des Kapitals von Karl Marx und des Marxismus, auf den platten Ökonomismus, auf die Pedanterie der Reformisten und auf die ideologischen Unterstellungen der Gegner.“[3][3] Die Praxis der Bolschewiki hatte also einen im Marxschen Denken und auch im „Kapital“ enthaltenen, genauer gesagt: grundlegenden Zug zum Vorschein gebracht, den die ökonomistische Interpretation in der II. Internationale verdeckt hatte. Mit der „Revolution gegen das Kapital“ war man also „wieder bei Marx“[4][4] und zugleich auch wieder bei dessen „Kapital“. Die Bolschewiki, um wieder mit Gramsci zu sprechen, „leben das marxistische Denken“ – ein Denken, das den Menschen und nicht „krude[…], ökonomische[…] Tatsachen“ als „Hauptfaktor der Geschichte“ erkennt.[5][5]

„Das Kapital“ von Karl Marx ist Teil eines Gesamtwerkes. Der Wirtschaftswissenschaftler Witali Wygodski unterstrich die Kontinuität und die prinzipielle Einheit des Marxismus, indem er sagte: „Marx arbeitete 40 Jahre am ‚Kapital‘ – von 1843 bis zum letzten Tage seines Lebens.“[6][6] Das Werk ist also zugleich Teilsumme eines größeren Korpus. Es ist damit zum einen, anders als es so manche Marxologen und „Kapital“-Hardcore-Exegeten behaupten, nicht ohne weiteres vom Rest des Marx’schen und Engels’schen Werkes zu trennen. Zum anderen vertieft es andernorts bereits angerissene Aspekte. Ernst Bloch, an dessen 40. Todestag ebenfalls in diesem Jahr erinnert wird, erblickt beispielsweise in einigen Abschnitten des ersten Bandes des „Kapital“[7][7] eine Teilausführung der vom jugendlichen Marx verfassten Feuerbachthesen, und damit des Textes, der den paradigmatischen Aufruf zur Weltveränderung versinnbildlicht wie kaum ein zweiter.[8][8] Und so ist es bedauerlich, dass die letzte umfangreichere, damals vom neugegründeten Sozialistisch-Demokratischen Studierendenverband angestoßene „Kapital“-Lesebewegung an deutschsprachigen Hochschulen bereits ein Jahrzehnt zurückliegt und etwas Vergleichbares heute nur vereinzelt in Sicht ist. Denn: Das Lesen und insbesondere das kollektive Diskutieren über das Gelesene hilft und kann anregen – insbesondere im Falle von Marx, dessen Texte sicherlich nicht immer als leichte Kost verdaubar sind. Aber Lesen allein, wie man beispielsweise an der „Neuen Marx-Lektüre“ sieht, ist nicht alles. Karl Radek hat darauf hingewiesen, dass es weniger auf die Kenntnis eines Textes in einem eher philologischen Sinne ankommt, als vielmehr auf das Durchdenken einer Theorie, und dessen könne sich Lenin wie kaum ein anderer rühmen.[9][9] Zu ergänzen wäre, dass ein umfängliches Durchdringen einer Theorie zugleich mit ihrer praktischen Anwendung einhergeht – und auch hier bietet Lenin ein treffliches Beispiel. 100 Jahre nach den Ereignissen von Petrograd und anderen russischen Städten wäre es für eine „Kapital“-Rezeption auf der Höhe der Zeit angebracht, sich dessen wieder zu vergegenwärtigen.

Dass das Durchdenken im Sinne einer ideellen Vorwegnahme der menschlichen Tätigkeit auch und gerade im Marxschen „Kapital“ eine zentrale Rolle spielt, zeigt das fünfte Kapitel des Buches mit Marx‘ dortigen Ausführungen über Biene und Baumeister. Hiermit lässt sich zugleich illustrieren, dass die Menschen ihr Schicksal im Einklang mit den von Marx und Engels entdeckten historischen Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung selbst in die Hand nehmen können, ohne dabei zu einem bloßen Vollzugsorgan ökonomischer Quasi-Naturgewalten zu werden, also zu „Reaktionsdeppen“, um einen Terminus des Soziologen Trutz von Trotha aufzugreifen.[10][10] „Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war.“[11][11] Für Leo Kofler bringt Marx hier „einen anthropologischen Tatbestand“ zum Ausdruck. Die hiermit verbundene „Dialektik von ‚ideellen Vorstellungen‘ und tätig-ökonomischen ‚Formveränderungen des Natürlichen‘“, die sich in politischem Sinne auch auf das als quasi-natürlich dargestellte gesellschaftlich Bestehende übertragen lässt, birgt „zusätzlich noch eine theoretische Perspektive, die den gesamten Historischen Materialismus im Kern charakterisiert“[12][12]. Die Revolution gegen „Das Kapital“ war demnach eine Erhebung gegen die Verzerrung der Essenzen des Werks und damit zugleich eine Revolution mit dem „Kapital“.

„Das Kapital“ ist ein Buch (und zugleich mehr als nur ein Buch) für Weltveränderer, die jenseits von ökonomistisch begründeter Ohnmacht und voluntaristischen Sackgassen nach Wegen suchen, um eine andere Welt real möglich zu machen, deren Notwendigkeit immer mehr Menschen in diffuser Weise zu ahnen beginnen. Es geht also darum, dass sich die potenziellen Baumeister einer gesellschaftlichen Umgestaltung ihrer Möglichkeiten bewusst werden, so wie anno 1917. Aber, um noch einmal mit Bloch zu sprechen: „Dies Hauptwerk ist lautere Anweisung zum Handeln, doch es heißt ‚Das Kapital‘, nicht ‚Führer zum Erfolg‘ oder auch ‚Propaganda der Tat‘; es ist keinerlei Rezept zur raschen Heldentat ante rem, sondern mitten in re, in sorgfältiger Untersuchung, philosophierender Zusammenhangs-Erforschung schwierigster Wirklichkeit.“[13][13] Es ist ein Buch, das hilft, die Wirklichkeit zu begreifen, die es zu verändern gilt, indem es die Ökonomie als Anatomie der Gesellschaft[14][14] freilegt.

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