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Kapital-Lektüren / Alle Buchbesprechungen

von Winfried Schwarz zu Mathias Greffrath [Hrsg.]
Dezember 2017

Kapital-Lektüren

Mathias Greffrath, RE: DAS KAPITAL. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert, Verlag Antje Kunstmann, München 2017, 240 Seiten, 22,-- Euro.

Zum 150. Jahrestag des Kapital hat Mathias Greffrath, Soziologe, Essayist und Journalist, einen Sammelband herausgegeben mit 11 Autoren unterschiedlicher „Interpretationsschulen“, darunter er selbst. Anknüpfend an einen Kapital-Abschnitt ihrer Wahl fragen sie nach der Aktualität des Werkes. Greffrath hat jedem Gastbeitrag eine geistreiche Vorbemerkung vorangestellt, deren Lektüre sich durchweg lohnt. Das kann ich auch von vielen, aber nicht allen Beiträgen sagen.

1. Mathias Greffrath (Über Mehrwert) zeichnet nach, wie Marx die Zentralkategorie Mehrwert begründet und dabei auch die Geschichte der Technologien, die Veränderungen in den Arbeitsbedingungen und die Lebensverhältnisse der Arbeiter mit einbringt – was keine andere ökonomische Theorie geleistet hat. „Aber kann man mit der Kategorie des Mehrwerts heute noch Politik machen?“ Wenn damit die Frage gemeint ist, ob im Zeitalter der Informationstechnologien Wissen eine unabhängige Wertquelle ist, wird die Mehrwertbestimmung durch menschliche Arbeit nicht erschüttert: Wissen erhöht deren Produktivität und steigert den relativen Mehrwert. Das ist alles. Anders steht es Greffrath zufolge um die Frage, ob heute die Bestimmung des Werts durch die Arbeitszeit und damit auch die Mehrwerttheorie überhaupt noch gilt, wo doch infolge explodierender Produktivkräfte die Arbeit für die „notwendigen Tätigkeiten“ der Gesellschaft „rasant“ schrumpft, so dass „viel Unsinn“ produziert wird und das Privatkapital in die Grundversorgung und die Finanzspekulation fließt. Seine Schlussfolgerung lautet: „Damit sind wir an die Grenzen der Mehrwertproduktion gekommen“, und er schlägt vor, den Mehrwertbegriff zu „historisieren“ – was ein anderer Ausdruck ist für „ihn für heute aufzugeben“.

Was und wie viel jene „notwendigen Tätigkeiten“ sind, darüber dürfte schwerlich Einigung erzielt werden in einer Gesellschaft großer sozialer Ungleichheit. Konsumkritik ist sehr dünnes Eis. Wenn er mit „Historisierung“ aber meint, dass das kapitalistische Privateigentum und sein Marktmechanismus nicht mehr in der Lage sind, die Probleme von Armut, Naturzerstörung, Klimawandel zu bewältigen und daher abgelöst werden müssten, gebe ich ihm Recht.

2. John Holloway (Über Widerstand) braucht für seine Überlegungen zur „Revolutionstheorie“ für die „heutigen antikapitalistischen Bewegungen“ nur zwei Sätze aus dem Kapital. Mit „Unsere Untersuchung beginnt mit der Analyse der Ware“ fange das Kapital nur scheinbar an. Das sei nämlich bereits der zweite Satz, dem der Satz vorausgeht, dass bei kapitalistischer Produktionsweise der „Reichtum als ungeheure Warenansammlung“ erscheint. Somit ist in Wirklichkeit „Reichtum“, nicht die „Ware“ der Anfang. Wortklauberei? Nein, sagt Holloway; dass der Reichtum als Ware erscheint, ist eben das Problem. Mit Reichtum meint er nicht eine Masse gegenständlicher Gebrauchswerte (wie Marx im Kapital; WS), sondern das „kreative Potenzial des Menschen“. Dieser Reichtum werde durch die Warenform zerstört. Wer sie bekämpft und sich der „Kommodifizierung“ widersetzt, kommt der Entfaltung des menschlichen Reichtums näher.

Kommt eine Revolutionstheorie mit so einfachen und längst dagewesenen Gedanken aus? Ja, für den neuen „dritten Weg“ des gesellschaftlichen Übergangs reicht es, wie die letzten vier Beiträge (8-11) zeigen (s.u.).

3. Elmar Altvater (Über Anthropozän) zufolge können die herrschenden Wirtschaftstheorien mit der Natur und erst recht mit der von ihr gesetzten Schranke nichts anfangen, weil sie den Doppelcharakter kapitalistischen Wirtschaftens nicht wahrhaben, der darin besteht, dass Vermehrung des Werts immer zugleich Vermehrung der Gebrauchswerte ist. Die rapid zunehmende Zerstörung der natürlichen Systeme Erde, Wasser, Atmosphäre hat Geologen veranlasst, das 20. Jahrhundert als Beginn eines neuen Erdzeitalters zu bestimmen, des Anthropozäns. Allerdings sei „Kapitalozän“ angemessener, weil nicht die „Menschheit schlechthin“ die Verantwortung für die globale Naturuntergrabung trägt, sondern die „Menschen in der kapitalistischen Gesellschaftsformation“. Naturstoff ist endlich, Kapitalwachstum unendlich. Wachstumskritiker, die mit effizienterer Technologie bei gleichem Energie- und Stoffeinsatz viermal mehr nützliche Produkte für herstellbar halten (E. U. Weizsäcker), unterliegen der Illusion, Arbeitsprozess und Kapitalverwertungsprozess entkoppeln zu können. „Der Naturverbrauch sinkt allenfalls pro produzierter Einheit, nicht aber insgesamt“ (Rebound-Effekt). Die „Maßlosigkeit der Wert- und Mehrwertproduktion“ lasse sich auch nicht moralisch begrenzen, etwa durch ökologische Maximen (organische Landwirtschaft, Energieeinsparung, reparaturfreundliche Produkte u. dgl.). Altvaters Schlussfolgerung ist nicht ermunternd, aber klar: „Erst in einer nicht- und dann auch postkapitalistischen Produktionsweise“ ist eine Regulierung der gesellschaftlichen Verhältnisse „im Einklang mit den Reproduktionsbedingungen der Natur“ vorstellbar.

4. Hans-Werner Sinn (Über Stagnation) ist tatsächlich der durch seine Auftritte in Talkshows allseits bekannte Wirtschaftsexperte, der bei Anne Will & Co. meist über die Politik der EZB wettert. Das tut er hier auch, aber nicht nur das. Zwar erwartet niemand, dass er sich in Marxscher Philosophie oder Wertformanalyse auskennt, obwohl er auch darüber redet. Aber für manche überraschend schätzt Sinn die geschichtliche Leistung von Marx auf dem Gebiet der „Makroökonomie“, wie gesamtwirtschaftliche Prozesse heute genannt werden. Solche Fragestellungen finden sich im Kapital vor allem im Dritten Abschnitt des zweiten Buchs „Reproduktion und Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals“. Aggregierte Begriffe wie Nationaleinkommen, Konsum oder Investition stammen daher und seien weder aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung der OECD noch aus Keynes‘ Theorie der Gesamtnachfrage wegzudenken. Das gelte auch für einzelne Theoreme wie etwa, dass Wachstum durch re-investierte Ersparnis zustande kommt (bei Marx weniger aufopferungsvoll „Aufschatzung von Geldkapital“ genannt; WS). Marx‘ Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate, heute „Ertragsrate“, sei noch wichtiger, weil damit wirtschaftliche Stagnation erklärt werden könne. Es komme nämlich zu keinem neuen Aufschwung, wenn die Entwertung von Kapital verhindert würde, wie es gegenwärtig die EZB tue – womit Sinn wieder bei seinem Lieblingsthema ist.

In Sammelbänden ist es das ungerechte Schicksal der Beiträge, denen der Rezensent voll zustimmt, dass sie in der Besprechung zu kurz kommen, weil sie sich, schon aus Platzgründen, auf die andern konzentriert. Nur aus diesem Grund beschränke ich mich hier darauf, die zwei gemeinten Beiträge kommentarlos zu nennen:

5. Sahra Wagenknecht (Über Monopole), eine empirische Vergegenwärtigung der Marxschen Vorhersage riesiger Kapitale, deren zerstörerischen Folgen durch gemeinschaftliches Eigentum Einhalt geboten werden kann, was keineswegs mit vollverstaatlichter Wirtschaft ohne Märkte identisch ist.

6. Wolfgang Streeck (Über Gewalt), Nachvollzug und Aktualisierung der Schlusskapitel des Kapital über ursprüngliche Akkumulation, und warum niemand freiwillig Arbeiter wird.

7. Michael Quante (Über Entfremdung). Wohltuend, weil sachlich und kenntnisreich, ist das Interview des Herausgebers mit dem Philosophen. Zahlreiche Themen werden angesprochen, die von Marx‘ Frühschriften bis zur Rezeption u.a. durch Ernst Bloch reichen. Was für Quante spricht, ist u. a. seine kühle Reaktion auf Greffraths Suggestivfrage, wie die Verhältnisse noch zu ändern seien, wo doch mit der „Emanzipation“ der Arbeiterklasse zur „gar nicht so schlecht konsumierenden Klasse“ das historische Subjekt abhanden gekommen sei. Quante: „Wenn man auf die Weltgesellschaft guckt, dann gibt es natürlich die Ausgegrenzten, die Verhungernden, und sie werden nicht weniger“. Und er folgt auch nicht der verbreiteten Mode, als revolutionäres Subjekt die Akteure des „kooperativen Sektors“ (siehe unten) an die Stelle der Arbeiterklasse zu setzen, sondern bezieht beide sozialen Bewegungen ein, betonend dass sich „das historische Subjekt enorm erweitert“ hat.

Anders die letzten vier Beiträge, die alle die Auffassung vertreten, die Ablösung des Kapitalismus durch eine neue Gesellschaftsform sei bereits im Gange, getragen vom bunten Netzwerk des „kooperativen Sektors“, und zwar sukzessive und IT-gestützt.

8. Nach Paul Mason (Über Automation) erhöht – und das stimmt - die mit Informationstechnologien (IT) erzeugte spezielle Ware Information die industrielle Produktivität und wirkt dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegen: Konstantes Kapital sinkt, und der Mehrwert steigt – durch Verbilligung des Werts der Arbeitskraft und ihre intensivere Nutzung (national und global). Auch im IT-Sektor selbst sind die Preise in den letzten fünfzehn Jahre exponentiell gefallen – für Computer, Software, Speicherchips, Breitbandnetze usw. Das Preissystem zersetze sich, weil sich mittels IT Gebrauchswerte herstellen lassen mit „winzigen Mengen von Energie und Material und ohne dass zusätzliche Arbeit anfällt“. Beispiele Software oder Musiktracks: Dinge, die „unendlich kopiert oder gleichzeitig von einer unendlichen Menge von Menschen verwendet werden können, werden am Ende sehr wenig kosten“. Denn „wenn die Arbeit gegen null geht, entsteht auch kein neuer Wert“.

Für sich genommen ist der letzte Satz richtig, aber nur für das einzelne Produkt. Abgesehen davon, dass es riesige Menschenmengen sind, die für die Produkte von Apple, Microsoft & Co. direkt und indirekt arbeiten: Der erzeugte Gesamtwert (und Mehrwert) sinkt nicht, solange winzige Stückwerte durch hunderte Millionen hohe Stückzahlen kompensiert werden.

Die positive Seite der IT-Verbreitung ist nach Mason die Stärkung des kooperativen Sektors. Dieser sei das mögliche „Bildungselement der neuen Gesellschaft“, zumal die organisierte klassenbewusste Arbeiterklasse bei uns der Vergangenheit angehöre. Nichtkommerzielle Netzwerke aller Art wie Tauschökonomien, Dienstleistungsringe, Energieversorgung in Bürgerhand usw. seien IT-gestützt und könnten sich der Kommerzialisierung entziehen. Hier ist Holloway (siehe oben) herauszuhören.

9. Robert Misik (Über Kooperation) zeigt sich als Anhänger Masons. Zunächst vollzieht er korrekt nach, wie die bis zur fabrikmäßigen Maschinerie fortschreitende Kooperation der Arbeiter die Produktivkraft erhöht, die sich das Kapital als Gratisgabe einverleibt. Das Miteinander der Arbeiter fördere aber die Bereitschaft zum Widerstand (hier hat der Autor leider keinen Blick für die Gewerkschaften). Doch mit inzwischen entstandenen automatischen Systemen würden die Arbeiter überflüssig. Misik sieht darin aber Chancen: „Vielleicht stecken wir schon im sukzessiven Übergang zu einer anderen Wirtschaftsordnung“. Hoffnung ist auch bei ihm der nicht-profitorientierte „kooperative Sektor“, der zur dritten Kraft neben den privatkapitalistischen und staatlichen Sektoren geworden sei und „alles Mögliche“ umfasse: Wohnbaugenossenschaften, kleinteilige Hausprojekte, Start-ups, NGOs und den gesamten Bereich der „solidarischen Ökonomie“. Darin könne man den „Nukleus eines Sozialismus neuer Art“ sehen, der nichts „mit dem bürokratischen Moloch früherer Staatswirtschaften gemein“ hat.

Der 10. Beitrag (David Harvey über Entwertung) sei der Vollständigkeit halber erwähnt. Die These, dass im Kapital der Begriff „Anti-Wert“ fehle, mögen die Leser*innen alleine beurteilen.

11. Étienne Balibar (Über Revolutionen). Der wohl bekannteste Autor des Sammelbands fragt sich, warum das Kapitel über die „geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation“, worin die „Expropriation der Expropriateure“ den Abschluss der gesamten Argumentation bilde, nicht am Ende des Buchs steht, sondern quasi „versteckt“ im vorletzten. Seine These ist, dass die revolutionäre „Gewalttätigkeit“, die der „Marxismus“ aus jener Passage im 24. Kapitel herausgelesen habe, keineswegs die einzig mögliche Lektüre sei, sondern dass ihr eine „reformistische“ Interpretation zur Seite stehe. Diese sei im dritten Band zu finden, wo Marx nach Formen „innerhalb der Institutionen des Kapitalismus“ suche, die als „Vorläufergestalten des Kommunismus“ fungieren. Balibar beruft sich auf Passagen, wo Marx sowohl den Kooperativfabriken der Arbeiter bescheinigt, „innerhalb der alten Form das erste Durchbrechen der alten Form“ zu sein, als auch die „kapitalistischen Aktienunternehmungen“ als „Übergangsformen aus der kapitalistischen Produktionsweise in die assoziierte“ bezeichnet (MEW 25, 454-457). Balibar interpretiert Marx dahingehend, dass er die Überwindung des Kapitalismus nur dann für möglich halte, wenn die „Finanzwelt“ und die „Arbeitergenossenschaften“ zusammengebracht würden. Aktuell bestätigt sieht er sich durch die „neuen Commons“ einerseits und andererseits durch „Aktionärsverbände“ von Lohnabhängigen zwecks „Rückkauf“ des Kapitalismus an der Börse. Die Arbeiterklasse habe Marx in dem Begriff der „reellen Subsumtion“ ohnehin, wenn auch “mit Verzweiflung“ abgeschrieben, weil er die Möglichkeit sich abzeichnen gesehen habe, dass sich der Kapitalismus zu einem „totalitären System“ entwickle, in welchem der Klassenkampf „neutralisiert wird oder in völliger Ohnmacht der Arbeiterklasse“ endet.

Niemand wird mehr ernsthaft behaupten, dass es eine naturgeschichtliche Garantie für die erfolgreiche „Expropriation der Expropriateur“ gibt und ihr Subjekt die organisierte Arbeiterklasse allein sein muss. Die Suche nach neuen Formen und weiteren sozialen Trägern des Übergangs ist erforderlich ebenso wie neues Nachdenken über den Übergang selber. Und es ist alten kommunistischen Kämpfern wie Balibar durchaus erlaubt, pessimistisch zu sein. Aber mit wörtlichen Marxzitaten Aktienkäufe für die Errichtung der neuen Gesellschaft höher anzusetzen als die Aktion, ja gar Mitwirkung, der Arbeiterklasse, das ist ein Novum. Apropos „wörtlich“: Dass bei Marx erst im dritten Buch „Zweifel“ am ersten Buch auftauchen, ist biografisch Unfug; denn 1867 war das Manuskript des dritten Buchs schon drei Jahre alt. Und im selben Jahr 1867 schrieb Marx an die Delegierten der Internationalen Arbeiterassoziation: „Das Kooperativsystem … ist niemals imstande, die kapitalistische Gesellschaft umzugestalten.“ Von einem Marxkenner wie Balibar hätte ich mir dazu mindestens einen Kommentar gewünscht.

Winfried Schwarz

Die Ökonomische Theorie von Marx – eine Darstellung nicht ohne Widersprüche

Georg Quaas, Die ökonomische Theorie von Karl Marx, Metropolis-Verlag, Marburg 2016, 341 S., broschiert, 29,80 Euro

Georg Quaas will „alle werttheoretisch relevanten Verhältnisse im ökonomischen Hauptwerk von Karl Marx bis zu den berühmten Reproduktionsschemata in einem kohärenten mathematischen Modell zusammenfassen“ (14). Einige Ökonomen befürchten, die mathematische Modellierung der ökonomischen Theorie führe zu ahistorischen Deutungen und weg von der sozialen Gebundenheit der ökonomischen Kategorien. Der Missbrauch der Mathematik durch die bürgerliche Ökonomie ist ihnen Warnung: eine unsägliche Modellschreinerei, nichtssagende Modelle, die unterstellen, was sie beweisen sollen, leere Formeln, deren sozioökonomischer Inhalt gleich Null ist. Die Neoklassik täuscht eine Exaktheit vor, die es in den Sozialwissenschaften nicht gibt. Die Anwendung der Mathematik in der Ökonomie kann aber hilfreich sein. So zeigen die Input-Output-Modelle Wassily Leontjews die Verflechtungen zwischen den Güterproduktionen der Volkswirtschaft, die Primärverteilung der Produktionsfaktoren auf die produzierenden Bereiche und deren Beitrag für die Endnachfrage. Diese Modelle beruhen auf den Marxschen Reproduktionsschemata. Marx nennt notwendige Bedingungen des volkswirtschaftlichen Gleichgewichts auf den Gütermärkten, aber er sagt nicht, dass sich diese auch einstellen müssen. Quaas referiert sie und zeigt, wie das System aus dem Gleichgewicht gerät und sich Schwankungen der Produktion verstärken, wenn die Prämissen des Modells variiert werden (284-296). Ein Vorzug seines Buches: Die Modellierung der Werttheorie hält sich streng an den Text des „Kapital“. Marx selbst war bestrebt gewesen, seine Auffassungen in mathematischer Form darzulegen, da viele Kategorien der politischen Ökonomie quantifizierbar sind. So ist er den formalen Zusammenhängen zwischen Mehrwert, Profit, Mehrwertrate, Profitrate, den Bestandteilen und dem Umschlag des Kapitals ein Leben lang auf der Spur. Quaas geht darauf nicht ein. Und damit auch nicht auf die umstrittene Frage, ob die Durchschnittsprofitrate tendenziell fällt. Im Gegensatz zu anderen hält er den Wert für messbar. Zwar stimme es, dass jeder Warenproduzent die abstrakte Arbeitszeit nicht empirisch messen könne, „aber nicht, weil dies prinzipiell unmöglich wäre, sondern weil er keinen Zugang zu den Produktionsprozessen hat, die unabhängig von ihm betrieben werden und deren Merkmale in die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit eingehen.“ (82) Er hält die These, erst der Tausch verwandle die private Arbeit in gesellschaftliche, d.h. in wertbildende Arbeit, für eine Verfälschung der Marxschen Meinung. Der Wert existiert vor dem Tausch. Bei der Wertbestimmung beachtet er die Kompliziertheitsgrade der Arbeit, die sich proportional zum Wert der Arbeitskräfte verhielten und den Neuwert messen würden. (242f.) Marx hatte nur gesagt, die Erfahrung zeige, dass die Reduktion komplizierter auf einfache Arbeit „hinter dem Rücken der Produzenten“ erfolge. (MEW 23: 59) Während einige Ökonomen behaupten, dass der Wert mit Proportionalität nichts zu tun habe, betont Quaas, dass der Wert das natürliche Gesetz des Gleichgewichts ist. Preise, die den Wert adäquat widerspiegeln, setzen voraus, dass Angebot und Nachfrage übereinstimmen. Schwankungen von Angebot und Nachfrage führen dazu, dass die Preise vom Wert abweichen, diesen dann verzerrt ausdrückten. „Der quantitative Unterschied zwischen Wert und Preis verweist auf eine tiefer liegende Differenz, nämlich – in Hegelscher Terminologie ausgedrückt – die zwischen Wesen und Erscheinung.“ (151) Die Marxsche Theorie der Preise ist eine Wesenslehre: „Der Preis einer Ware ist der Ausdruck ihres auf dem Markt gesellschaftlich anerkannten Wertes in Geld.“ (140) Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zur Herstellung einer Ware setzt sich aus direkter und indirekter Arbeitszeit zusammen. Ihre Summe ergibt die volle Arbeitszeit. Mit Input-Output-Modellen, die auf Arbeitskoeffizienten beruhen, kann man Wertgrößen prinzipiell ermitteln. Auf entsprechende Bestimmungs-Versuche geht Quaas nicht ein (z.B. Klaus Müller, Welche Arbeitszeit ist gesellschaftlich notwendig? Z 100 [Dezember 2014], S. 215-230), obwohl er sich früher selbst daran beteiligt hatte.

Bei der Messung des Gebrauchswerts stolpert der Autor über die Zweideutigkeit des Begriffs. Gebrauchswert ist zum einen ein Synonym für das Produkt oder die Ware, zum anderen kennzeichnet der Begriff die zweite Seite der Ware, deren Nützlichkeit. Quaas „misst“ den Gebrauchswert, indem er die Waren zählt – ein Dutzend Uhren, zehn Drehbänke. (32 ff, 43) Die Nützlichkeit oder den Nutzen will er (zum Glück) nicht messen. Der Versuch hätte ihn unweigerlich zur Grenznutzenschule geführt, die bei der Anwendung der Differentialrechnung am unbrauchbaren Objekt gescheitert ist. Gustav Cassel, der Marxschen Theorie alles andere als zugetan, schreibt, die Grenznutzentheorie sei ein „Versuch, die Psychologie der Nachfrage in eine abstrakte mathematische Form hineinzuzwingen … eine rein formelle Theorie, die in keiner Weise unsere Kenntnis der realen Vorgänge erweitert und die für die Theorie der Preisbildung überflüssig ist.“ Quaas beachtet den Gratisdienst der Arbeitsmittel nicht, ebenso den Unterschied zwischen physischem und gesellschaftlichem Gebrauchswert. Der Satz, beim Tausch werde Gebrauchswert weggegeben, der Wert bliebe beim Verkäufer (47f.), ist ungenau. Weggegeben wird die Ware als Einheit von Gebrauchswert und Wert. Der Verkäufer erhält ein Wertäquivalent in Form anderer Gebrauchswerte oder des Geldes: „…wie bei jedem Austausch von Ware gegen Ware (wird) Äquivalent für Äquivalent gegeben …, also (ist) derselbe Wert doppelt vorhanden …, einmal auf der Seite des Käufers und einmal auf der Seite des Verkäufers.“ (MEW 26.1: 139) Würde der Käufer eines Produktionsmittels keinen Wert erwerben, könnte dieser im Produktionsprozess nicht auf die Produkte übertragen werden.

Die Wertformenanalyse ist für Quaas eine „Darstellung historisch nachweisbarer Wertausdrücke auf Märkten und der mit ihnen verbundenen Entwicklungstendenz, die nach Marx schließlich zur Herausbildung des Geldes geführt hat.“ (115) Damit würdigt Quaas „eine wissenschaftliche Leistung deutlich, die von der monetären Werttheorie komplett geleugnet wird: Marx‘ Erklärung der Entstehung des Geldes aus einem Warentausch, der ohne das Geld abläuft.“ (103f.) Im Gegensatz zur Auffassung, dass es Marx in der Geldtheorie nicht gelungen sei, an den Ricardianischen Stand heranzukommen und dass sie eines „der theoretisch schwächsten Teile des Gesamtsystems“ sei, sagt Quaas, „Marx‘ Beitrag zur ökonomischen Theorie des Geldes geht … weit über die Erkenntnisse seiner Vorgänger aus der Periode der ökonomischen Klassik hinaus.“ (134) Quaas hält eine „Papiergeldform des Werts“ für möglich. (130) Dies ist zu bezweifeln, da Papiergeld keinen Wert hat, das Maß aber von der Qualität des zu Messenden sein muss.

Ein Kapitel ist den Dienstleistungen gewidmet. Marx hat sich dazu am Rande, im Zusammenhang mit den Unterschieden zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit, geäußert. Quaas knüpft an Peter Fleissner an, der behauptet, Dienstleistungen seien keine Waren und kein Bestandteil eines volkswirtschaftlichen Mehrprodukts, weil bei ihnen Produktion und Konsumtion zusammenfielen, sie nicht gelagert, wiederverkauft und investiert werden könnten. Obwohl er Fleissners Begründung nicht teilt, bestreitet auch Quaas, dass Dienstleistungen Waren sind. Sie wären nicht einmal Gebrauchswerte, weil ihnen die „eigenständige Stofflichkeit“ fehle. (188) Der entscheidende Unterschied zwischen dem Resultat einer warenproduzierenden Arbeit und dem einer Dienstleistung bestünde „nicht darin, dass erstere ein stoffliches Produkt aufzuweisen hat und letztere nicht, sondern dass sich der dingliche Träger des Dienstleistungsresultats von Anfang im Besitz des Kunden befindet, was bei der warenproduzierenden Arbeit nicht der Fall ist.“ (191) Marx differenziert. Ein frisierter Kopf könnte gemeint sein, wenn er sagt: „Für den Produzenten dieser Dienste sind diese Dienstleistungen Waren. Sie haben einen bestimmten Gebrauchswert (eingebildeten oder wirklichen) und einen bestimmten Tauschwert. Für den Käufer aber sind diese Dienste bloße Gebrauchswerte, worin er seine Revenue konsumiert.“ (MEW 26.1: 128) Die Merkmale der Ware – Produkt menschlicher Arbeit, gesellschaftlicher Gebrauchswert, Träger von Wert, Übertragung durch Tausch – treffen auch auf Dienstleistungen zu, selbst dann, wenn diese zu immateriellen Resultaten führen. Marx spricht von „‚immateriellen’“ Waren (MEW 26.1: 145). Und: „Befinden sich nicht in jedem Augenblick auf dem Markt neben Weizen und Fleisch etc. auch Huren, Advokaten, Predigten, Konzerte, Theater, Soldaten, Politiker etc.? Diese Burschen und Burschinnen erhalten das blé et autres denrées de necessité [Korn und andere Lebensmittel] oder d’agrément [Vergnügen] nicht umsonst. Sie geben dafür oder dringen dafür auf ihre Dienste, die als solche Dienste einen Gebrauchswert und infolge ihrer Produktionskosten auch einen Tauschwert haben.“ (MEW 26.1: 138f.) In Widersprüche verstrickt sich Quaas, wenn er den Dienstleistungen den Warencharakter abspricht, sie aber als wertschaffend einstuft. Der Wert ist eine Eigenschaft der Waren. Werte ohne Waren gibt es nicht. Quaas‘ Ausführungen zu den Dienstleistungen sind aber anregend und für die von ihm betrachteten ergebnisorientierten Arten (Haarschnitt, Bildung, Beratung, Heilung, Reinigung, Reparatur …) weitgehend zutreffend, auch wenn ihm widersprochen wird, dass Dienstleistungen keine Waren und keine Gebrauchswerte seien. Der Heterogenität und Differenziertheit der Kategorie werden seine Ausführungen nur teilweise gerecht. Außer aus ergebnisorientierten Dienstleistungen kann der Kunde auch aus einer Potenzialphase (z.B. Bereitschafts- und Wachdienste der Polizei, Feuerwehr, Ärzte) und einer Prozessphase (Theater, Konzerte, Sportveranstaltung) Nutzen ziehen. Das sind Dienstleistungen, die Quaas unbeachtet lässt und die einer eigenständigen Betrachtung bedürfen.

Die organische Zusammensetzung setzt Quaas – wie in der Literatur üblich – mit der Wertzusammensetzung des Kapitals gleich. Wie die Gleichsetzung von Endprodukt und Bruttoprodukt (254) sind das kleinere Mängel eines soliden Buches, durch das sich „orthodoxe“ Marxisten bestätigt fühlen werden, auch wenn sich Quaas nicht für die Frage interessiert, ob die Marxsche Theorie wahr ist. Er leistet ihnen ungewollt Beistand gegen Neo- und Pseudomarxisten, die das Werk von Karl Marx entstellen und sich gegen Kritik zu immunisieren versuchen, indem sie behaupten, man könne die Richtigkeit einer Interpretation nicht durch einen einfachen Vergleich mit dem Text herausfinden. Für sie sei typisch, „bei jedem Konflikt mit dem Marxschen Text diesem irgendeine Ungenauigkeit zu unterstellen, ohne auf die Idee zu kommen, dass die eigne Interpretation fehlerhaft sein könnte.“ (44) Empfehlenswert, auch für Nichtmathematiker!

Klaus Müller

Kapitalismusanalyse und Marx-Kritik

Max Henninger, Armut, Arbeit, Entwicklung. Politische Texte. Wien, mandelbaum kritik und utopie, 2017, 292 S., 16,00 Euro

In diesem Buch sind neun Aufsätze und Artikel zusammengestellt, die Max Henninger seit 2009 verfasst hat. Sie wurden überwiegend in der Zeitschrift „Sozial.Geschichte Online“ publiziert. Ein Beitrag erschien 2009 in einem Sammelband, drei weitere waren bislang unveröffentlicht. Die Fragestellungen dieser „politischen Texte“ umkreisen drei Themenfelder. In zwei Fällen geht es um spezifische historische Kontexte der alten und neuen Linken. In der zweiten Gruppe setzt sich der Verfasser mit den Defiziten der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie und der durch sie begründeten Sichtweise auf die Unterklassen auseinander. Den dritten Schwerpunkt bilden Reflexionen über die aktuellen Entwicklungstendenzen des kapitalistischen Weltsystems.

Diese drei Schwerpunkte stehen unvermittelt nebeneinander, wenn man von einigen Querbezügen zwischen den historischen Analysen und den Aufsätzen zur Marx-Kritik absieht. Darin kommt implizit die Auffassung zum Ausdruck, dass Marx und die sich auf ihn berufende Traditionslinie des antikapitalistischen Denkens und Handelns nur wenig zum Verständnis der gegenwärtigen Weltprobleme beizutragen haben, ja einer emanzipatorischen Perspektive eher im Weg stehen. Diese Auffassung ist nicht erst seit dem Untergang des sogenannten Realsozialismus in Teilen der Linken weit verbreitet und insofern nichts Neues. Wer sich in die Texte genauer einliest, bemerkt jedoch schnell, dass die intellektuellen Lernprozesse, die den Autor zu diesem Ergebnis gebracht haben, nicht leichthin von der Hand zu weisen sind. Henninger ist ein scharfsinniger, hervorragend informierter und kohärent argumentierender Exponent der sozialrevolutionären Szene. Er hat sein wissenschaftliches Handwerk nicht nur gelernt, sondern weiß seine Erkenntnisse auch sprachlich umzusetzen. Insofern sind seine Beiträge wichtige Impulse zu unser aller Suche nach einem Königsweg, der uns aus der sich allmählich der Agonie nähernden anti-systemischen Ohnmacht herausführt.

Zunächst zu den beiden historischen Essays: Im ersten, anlässlich einer Recherche zur MEGA-Edition entstandenen Aufsatz untersucht Henninger die Rezeption der süditalienischen Sozialrevolten der frühen 1890er Jahre durch die II. Internationale und insbesondere den alten Friedrich Engels (143-182). Für die dabei entstandene Selbstorganisation der vor- und frühindustriellen Unterklassen, die 1893 in eine breite Aufstandsbewegung mündete, zeigte Engels kein Interesse. Das ist ein deutlicher Hinweis auf die Leerstellen in einem Denksystem, das der Arbeiterklasse erst im reifen Kapitalismus eine systemsprengende Rolle zuwies.

Seinen zweiten historischen Beitrag hat Henninger der Aufsatzsammlung quasi als Motto vorangestellt: Es handelt sich um einen Überblick zur Geschichte des italienischen Operaismus (15-42). Dazu gibt es seit einigen Jahren zahlreiche Wortmeldungen, aber der hier vorliegende Text ergänzt sie alle in zwei wesentlichen Punkten: Zum einen in der stringenten Periodisierung, die die an den selbstorganisierten Arbeiterrevolten der 1960er und 1970er Jahre orientierte heterodoxe Strömung der neuen Linken durchlief; und zum andern durch die Frage danach, was davon nach ihrer massiven politischen Unterdrückung übrig blieb. Es gab seit den 1980er Jahren neue Ansätze zur Analyse der deregulierten Arbeitsverhältnisse und der Migrationsarbeit, aber auch ideengeschichtliche Höhenflüge, die die von einigen Gründervätern des Operaismus schon immer vertretene „Autonomie des Politischen“ ex post in ein merkwürdiges Licht tauchen.

Den zweiten Schwerpunkt bilden drei Aufsätze, in denen sich Henninger mit zentralen Fragestellungen der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie auseinandersetzt: mit der ihr zugrunde liegenden Werttheorie und dem Arbeitsbegriff (125-139), mit den Beziehungen zwischen Armut, Arbeit und kapitalistischer Entwicklung (45-88), und mit der Wahrnehmung der ländlichen Armut aus marxistischer Sicht (89-124). Dabei hat Henninger alles zusammengetragen, was die sich an Marx reibenden heterodoxen Strömungen der neuen Linken seit den 1970er Jahren unter dem maßgeblichen Einfluss der Theoretikerinnen der neuen Frauenbewegung an Defiziten und Leerstellen herausgearbeitet haben: Die unzulässige Reduktion der Massenarmut auf eine vorurteilsbesetzte Restkategorie „Lumpenproletariat“; die aller Empirie widersprechende Einschränkung der der kapitalistischen Ausbeutung unterworfenen arbeitenden Klassen auf die doppelt freie Lohnarbeit; die weitgehende Ausblendung der unbezahlten wie bezahlten Reproduktionsarbeit aus der Werttheorie; die teleologische Illusion einer „zivilisatorischen“ Rolle des Kapitalismus, dessen sich bis in das Endstadium eher noch zuspitzende Gewalttätigkeit schon Rosa Luxemburg nachgewiesen hatte; und last but not least die Missachtung der kleinbäuerlichen Produktionsweise als einer eigenständigen Gesellschaftsformation, die sich in ihrer Verzahnung mit der kapitalistischen Dynamik spezifisch veränderte, zugleich aber immer wieder auch Etappen der Revitalisierung durchlief. Eine solche „paradoxe“ Entwicklung war beispielsweise nach der russischen Revolution zu beobachten, und Henninger kann am Beispiel des Agrarökonomen Alexander Čaianov nachweisen, dass es sehr wohl Ansätze zu einer „hybriden“ Koexistenz gab, die eine plausible nichtkapitalistische Alternative zur forcierten nachholenden Industrialisierung darstellte.

Das alles ist meines Erachtens zutreffend, und Henninger verweist auch – völlig zu Recht – auf die Tatsache, dass Marx selbst in den 1870er Jahren sein an der Entwicklung des britischen Kapitalismus (und seiner „klassischen“ Ökonomen) orientiertes Theoriegebäude zunehmend selbst in Frage gestellt hat. Die Auflistung der Gravamina könnte sogar noch erweitert werden. Beispielsweise ist die inzwischen bis zum selbstzerstörerischen Exzess gesteigerte Inwertsetzung und Verwertung der Natur bei Marx eine Leerstelle, und der schon zu seinen Lebzeiten zu beobachtende Einfluss des Bodens auf den Prozess der Wertschöpfung blieb bei ihm in Anlehnung an David Ricardo auf einen Sonderfall des unterschiedlichen Bodenertrags (die Differentialrente) beschränkt.

Wie sollen wir mit diesem problematischen und häufig auch in sich widersprüchlichen Erbe umgehen? Sollen wir uns von Marxens Kritik der politischen Ökonomie verabschieden und uns entweder an „modernere“ Theoretikerinnen und Theoretiker – etwa an Luxemburg, Schumpeter, Keynes und Sraffa oder an ein Amalgam ihrer Analysen – anlehnen, um mit ihrer Hilfe in der immer komplexer werdenden kapitalistischen Klassengesellschaft den roten Faden zu finden? Oder sollen wir die schwierige Aufgabe schultern, diese Ansätze dazu zu nutzen, um das Marxsche System zu korrigieren und zu erweitern? Oder sollen wir drittens die Brücken abbrechen und uns einer generellen Theorieverweigerung verschreiben, die die „Ökonomik“ aus ihrer politischen Agenda streicht und auf den Big Bang des sozialrevolutionären Umsturzes wartet, der die in den Revolten der Unterklassen zum Ausdruck kommende Logik der „moralischen Ökonomie“ von selbst in einen in seinen Grundzügen nicht vorhersehbaren Prozess der selbstbestimmten nachkapitalistischen Befreiung übertragen wird?

Henninger verzichtet auf eine Erörterung dieser sich aus seiner Marx-kritischen Analyse aufdrängenden Frage nach den Konsequenzen. Stattdessen leitet er unvermittelt zu seinem dritten Schwerpunkt über, in dem er sich mit drei besonders markanten aktuellen Entwicklungstendenzen des kapitalistischen Weltsystems auseinandersetzt: mit der forcierten Urbanisierung (197-229), den durch die Informations- und Kommunikationstechnologie ausgelösten epochalen Umbrüchen (230-269) und mit der sich immer rascher beschleunigenden Umweltzerstörung (270-291).

Die Essays vermitteln einen umfassenden Überblick über die drei entscheidenden Problemfelder, die uns seit einigen Jahrzehnten auf den Nägeln brennen. Sie reflektieren nicht nur den Stand unseres Wissens, sondern verweisen auch auf neue Fragestellungen und Erkenntnislücken. Dennoch fehlt ihnen der rote Faden, der sich meines Erachtens nur auf der Basis einer systematisch begründeten Kritik der politischen Ökonomie erarbeiten lässt. Ansätze dazu gibt es in der wissenschaftlichen Literatur durchaus, so etwa zur Stadtökonomie sowie zur politischen Ökonomie der Informationstechnologie und des Internet, und selbst die Verwertung und Reproduktion der Ökosysteme sind inzwischen ein heiß umstrittenes Forschungsthema.

Diese Aspekte bleiben bei Henninger jedoch unerörtert. Das liegt zum einen wohl daran, dass ihre methodischen Schwächen und Halbheiten zu evident sind. Zum andern gibt es aber auch tiefer liegende Gründe. Henninger ist in gewisser Weise „Marx-geschädigt“: Er glaubt nicht daran, dass sich die Kritik der politischen Ökonomie mit dem Anspruch auf eine selbstbestimmte Konstitution des sozialrevolutionären Subjekts verbinden lässt. Diese Schlussfolgerung zieht der Verfasser explizit nur an einer einzigen Stelle, aber sie ist überall als Subtext zwischen den Zeilen spürbar. Ich halte sie für voreilig.

Max Henninger entgeht erstens, dass eine neu gefasste Werttheorie sehr wohl von einer niemals vollständig gelingenden Unterwerfung der Subjekte als den Trägern des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens unter das Kapital auszugehen vermag. Er unterschätzt zweitens die Bedeutung von Karl Marx, dem trotz der klar zutage liegenden Defizite und teleologischen Fehlschlüsse das Verdienst zukommt, mit den Klassikern der politischen Ökonomie an einem entscheidenden Punkt gebrochen zu haben: mit dem Nachweis nämlich, dass die den Unterklassen seit Jahrhunderten abgepresste Arbeitsleistung die Grundlage des gesamten Wertschöpfungsprozesses bildet, dessen Resultate dann als Arbeitsentgelte und Profite an die beiden Hauptklassen verteilt werden. Und drittens ist in Henningers aktuellen Problemaufrissen selbst das Fehlen eines adäquaten begrifflichen Rahmens mit Händen zu greifen. In seinem Urbanisierungs-Essay moniert er beispielsweise zu Recht, dass ihre drei Hauptphänomene – Global Cities, Mega Cities und Slum Cities – trotz ihrer simultanen Entstehung nicht zusammengedacht werden. Dieser Anspruch könnte leicht durch die Feststellung eingelöst werden, dass sich die in den Global Cities zu beobachtende Entvölkerung der Stadtzentren und die damit einhergehende Gentrifizierung der Arbeiterquartiere den parasitären Exzessen der Baubodenrendite verdankt, dass die Baubodenrendite in den chinesischen Mega Cities gerade ihre erste Hochblüte durchläuft, und dass die durch den Bodenhunger der peripheren Massenarmut begründeten Slum Cities im Kontext der hybriden Schattenökonomien auf ihre Inwertsetzung zutreiben. Analog wäre in Bezug auf die Phänomene der fortschreitenden Naturverwertung und -zerstörung auf die damit einhergehende Kommodifizierung der dagegen in Gang gebrachten Regenerationsprozesse hinzuweisen. Und auf dem Terrain des neuen Informations- und Kommunikationssektors würden die mit den technologischen Trends verzahnten sozialökonomischen Triebkräfte sichtbar: So anschaulich die in diesem Text herausgearbeiteten Tendenzen zur Taylorisierung der kognitiven Arbeitsabläufe geschildert werden, so fehlt ihnen doch der verallgemeinernde Blick auf die Gesamtheit der arbeitenden Klassen, für die die Digitalisierung ihrer Produktions- und Lebenswelten mit einer immer systematischer zugreifenden Zerstörung gesicherter Reproduktionsgrundlagen verknüpft ist – das heißt mit der Zerstörung des Lohnarbeitsverhältnisses und seiner Sozialstandards, wie sie die metropolitane Arbeiterklasse in den 1950er bis 1970er Jahren erkämpft hatte. Das ist übrigens das krasse Gegenteil der sich auf Marx berufenden Fortschrittsutopien der Arbeiterbewegung – hier hat sich Henninger etwas entgehen lassen.

Was ist also angesichts der sich gewalttätig zuspitzenden Konvulsionen des kapitalistischen Weltsystems zu tun? Diese Frage bleibt unerörtert. Dabei nimmt der Verfasser sehr wohl zur Kenntnis, dass und auf welche Weise die Vordenker des Systems versuchen, die Alternativbestrebungen der neuen Sozialbewegungen – wie etwa die von ihnen geführte Subsistenzdebatte – auf ihre Mühlen zu leiten, um sie zur Abfederung weiterer sozialstaatlicher Abschmelzungsprozesse zu instrumentalisieren („Vorwärts in die Subsistenz?“, 185-193). Davor kann der Verfasser zu Recht nur warnen. Aber auf eine zusammenfassende Betrachtung seiner Themenfelder hat er verzichtet, und damit lässt er uns bei der Frage nach den Schlussfolgerungen allein.

Karl Heinz Roth

Zur Aktualität von „Geschichte und Klassenbewusstsein“

Erich Hahn, Lukács und der orthodoxe Marxismus. Eine Studie zu „Geschichte und Klassenbewusstsein“. Aurora Verlag Berlin 2017, 191 S., 15 Euro

Anzuzeigen ist eine neue Studie zur Aktualität eines Klassikers der marxistischen Philosophie. Erich Hahn, kein Lukácsianer der ersten Stunde, legt mit seiner Studie zu Geschichte und Klassenbewusstsein (GuK) ein ambitioniertes Projekt vor: Er möchte zeigen, dass und inwiefern Lukács’ berühmtestes Werk als Klassiker der marxistischen Philosophie von fortdauernder Aktualität ist. Anspruchsvoll ist das Vorhaben auch, weil der Autor GuK im Kontext des Gesamtwerks zu verstehen sucht – Hahn betont zu Recht, „dass ein besonderes Werk wie GuK erst aus der Perspektive des Gesamtwerkes eine angemessene Beurteilung erfahren kann“ (9/10) –, und dies sowohl genetisch-entstehungsgeschicht-lich als auch im Modus rückblickender Reflexion. Denn erst vom Ende her und unter Berücksichtigung einer inzwischen fast 100-jährigen Wirkungsgeschichte lässt sich das 1923 publizierte Werk adäquat verstehen. Folgerichtig schaltet Hahn seiner intensiven Lektüre von GuK Abschnitte zur Vorgeschichte und den Fortwirkungen voraus.

Hierbei wird sofort deutlich, dass Hahn den Blick nicht nur für den Rezeptionsstrang Westlicher Marxismus/Kritische Theorie hat. Der intime Kenner hat auch die vorsichtige Annäherung der realsozialistischen Marxisten seit den 80er Jahren im Blick, die etwa in den „Leitgedanken zum 100. Geburtstag von György Lukács“, die die bildungspolitische Arbeitsgemeinschaft beim ZK der USAP formulierte, oder in den von Manfred Buhr und Jozsef Lukács 1987 in Berlin edierten Beiträgen zum Werk und Wirken von Lukács[1] zum Ausdruck kommen. Anders als viele Verehrer des Frühwerks schätzt Hahn auch das selbstkritische Vorwort Lukács’ zur Neuausgabe von GuK aus dem Jahr 1967 und das bedeutende Spätwerk des ungarischen Marxisten. Von den Lukács-Schülern bezieht er sich vor allem auf I. Hermann, den früheren Ehemann von Agnes Heller, sowie auf den langjährigen Leiter des in diesen Tagen in seiner Existenz bedrohten Lukács-Archivs L. Sziklai.[2]

Den Hauptteil des Buchs nimmt der intensive und in dieser Intensität selten gewordene Nachvollzug von GuK ein. Hahn gelingt es, den diffizilen Text in gut lesbarer, Kenner wie Nicht-Spezialisten (etwa des deutschen Idealismus Kants, Fichtes, Schellings und Hegels oder neuzeitlicher Ideengeschichte) gleichermaßen ansprechender Form nahezubringen und zu sezieren. Der Nachvollzug des Gedankengefüges von GuK bildet das Zentrum von Hahns Versuch. 1923 zieht Lukács, „der gravierende Einschnitte und Eckpunkte der historischen Praxis als Herausforderung und Anregung“ dafür verstand, „seine langfristigen wissenschaftlichen Interessen, Einsichten und Erfahrungen für die Lösung der sich neu ergebenden Probleme voll auszuschöpfen“ (11), das „Fazit seiner persönlichen Entwicklung“ (35) mit der „Orientierung auf die Entfremdung als Grundgegebenheit und Höhepunkt menschlichen Seins in der Moderne“ (ebd.). Hahn betont: „(…) damit war der Grundstein für eine neue übergreifende Kontinuität der weltanschaulichen und theoretischen Grundpositionen von Lukács in dem halben Jahrhundert von 1920 bis 1970 gegeben.“ (Ebd.)[3]

Gemäß seiner nahe am Original orientierten Vorgehensweise zeichnet Hahn im ersten Schritt seiner Rekonstruktion Lukács’ bahnbrechende[4] Phänomenologie der Verdinglichung nach. Lukács entwirft „unter Bezugnahme auf Marx‘ philosophisch-weltanschauliche Analyse der Warenstruktur“ (39) ein Zeitbild, das die mit der Universalisierung der Warenstruktur einhergehende Verdinglichung als Prinzip aller „Erscheinungsformen menschlicher Beziehungen“ (39) in der Gegenwartsgesellschaft erweist. Mit der Verdinglichung und dem verbundenen Prinzip formaler Rationalität geht das Entstehen einer neuen Dinghaftigkeit einher, die den sozialen Charakter der Wirklichkeit verdeckt und ideologiebildend wirkt. „Als klassisches Beispiel für die ‚Potenzierung der Verdinglichung‘ wird [von Lukács, R.D.] an Marx’ präzise Enthüllung der fetischisierenden Funktion des zinstragenden Kapitals erinnert.“ (42) Im Zuge des dynamisch fortschreitenden Verdinglichungsprozesses und der mit ihm verknüpften formal-kalkulatorischen Rationalität geht das Bild des Gesamtzusammenhangs von Welt und Gesellschaft trotz allen wissenschaftlichen Fortschritts verloren. „Selbst das philosophische Denken des Bürgertums unterliegt dem Bann der Verdinglichung.“ (46)

Bei seiner Rekonstruktion des zweiten Teils des Verdinglichungsessays – dieser „markiert den philosophischen Höhepunkt des Werkes“ (47)[5] – will Hahn die üblich gewordene Reduktion des Blickwinkels auf die Hegel-Rezeption Lukács‘ vermeiden. Kritisch merkt er an: „Zu wenig herausgearbeitet werden jedoch die einzelnen argumentativen Schritte, über die sich Lukács’ Aneignung, Verarbeitung und Kritik Hegels und die Ausformung der philosophischen Begrifflichkeit bei Lukács selbst vollzieht.“ (Ebd.) Nur so erschließe sich aber dessen „substantieller Beitrag zu dem philosophischen Problem einer adäquaten Erfassung der gesellschaftlichen Realität ‚in ihrer Bewegung und Entwicklung‘ (Wagenknecht)“ (47/8).[6] Hahn geht minutiös[7] Lukács’ Sicht der Größe und Grenzen der neuzeitlichen Philosophie von Descartes bis zum deutschen Idealismus nach. Ihr Verdienst besteht darin, das Dasein als Produkt des Denksubjekts zu fassen, um das dualistische Denken, das Subjekt und Objekt nur antinomisch zu denken vermag, zu überwinden. Nach Kant haben zumal Fichte, Schelling und Hegel Wege zur Überwindung des Rationalismus der Neuzeit zu finden versucht. Auf bemerkenswertem Niveau scheitern sie. Der Durchbruch kommt erst durch den (auch theoretisch anspruchsvollen) Versuch einer Wendung der Philosophie ins Praktische, die – mit Marx’ erster Feuerbachthese – „die Wirklichkeit nicht nur in der Form des Objekts, sondern ebenso als ‚sinnlich-praktische Tätigkeit (…) subjektiv‘ (MEW 3, S. 5) zu fassen“ beginnt (53). In Lukács‘ Zuspitzung heißt das: „Gefordert sei, jenen Einheitspunkt zu bestimmen, von dem aus die ‚Zweiheit von Subjekt und Objekt in der Empirie, also die Gegenständlichkeitsformen der Empirie‘ (GuK, 301) verständlich gemacht werden kann.“ (53)

Eine Stärke von Hahns Aneignungsversuch besteht in seinen Bemühungen um eine präzise Klärung zentraler Begriffe wie Tätigkeit, Tathandlung (ein durch Fichte geprägter Terminus), Unmittelbarkeit und Vermittlung (zentrale hegelianische Begriffe), Tendenz (im Unterschied zu Tatsachen), die Unterscheidung zwischen der Schellingschen „unbedingten Identität“ und Lukács‘ konkretem Identitätsbegriff. Damit gewinnt er die Möglichkeit, Lukács’ Bestimmung des Proletariats als identisches Subjekt-Objekt der Geschichte nicht als pur metaphysische Spekulation a limine verwerfen zu müssen. Lukács‘ Dialektikverständnis wird dann auch kompatibel mit neueren Ansätzen zu einer differenzierteren Sicht auf Hegels Identitätskonzeption, die in den Arbeiten von H. H. Holz, F. Kumpf, D. Kraft und S. Wagenknecht entfaltet wird; diese hinterfragen „das traditionelle Postulat von Marx, die Hegelsche Dialektik vom Kopf auf die Füße stellen zu müssen, um deren Idealismus in einer materialistischen Position aufgehen zu lassen“ (121).

Hahns Umgang mit Lukács’ berühmt-berüchtigter Engels-Kritik verdient hier noch Erwähnung: Der Autor erklärt das berechtigte Motiv der Kritik an einer letztlich undialektischen Abbildtheorie[8], benennt aber auch unter Berücksichtigung von Lukács’ Weiterentwicklung zu einer Ontologie des gesellschaftlichen Seins die Problematik einer generellen Ablehnung einer Naturdialektik.

Lukács wollte mit GuK eine Debatte auslösen. Und dies ist ihm bekanntlich unstrittig gelungen. Die berühmt-berüchtigte Lukács-Debatte analysiert Hahn kritisch, aber nicht undifferenziert. Er betont, wie eher dogmatische denn (im Lukácsschen Sinne) „orthodoxe“ Marxisten wie Rudas, Revai und Deborin das Niveau des Diskurses von GuK verfehlen, berücksichtigt aber als Kenner der Verflechtungen von Parteipolitik und theoretischen Debatten – es geht letzthin stets um die Hegemoniefrage – auch die schwach begründeten, aber in der Essenz starken Aspekte der Kritik, die in Lukács‘ Selbstkritiken zum Teil wieder aufgenommen werden (etwa die Kritik an der Ablehnung der Annahme einer Naturdialektik).[9]

Diesen Selbstkritiken aus den Jahren 1934 und 1967 begegnet Hahn mit der gebotenen historischen Finesse. Er unterscheidet genau zwischen zeitgeschichtlich-politisch bedingten Aspekten etwa der Selbstkritik der 30er Jahre (hier folgt er weithin Sziklais Darstellung der Jahre 1930 – 1945[10]) und philosophisch-sachhaltigen Argumentationslinien. Genauso differenziert ist sein Umgang mit Lukács’ Spätwerk. Seine Rekonstruktion des Entäußerungsbegriffs, den Lukács in „Der junge Hegel“ zur Korrektur und Weiterentwicklung des Verdinglichungsbegriffs von 1923 entfaltet, korrigiert en passant Adornos abschätzige Bemerkungen[11] über das in den 30er Jahren verfasste, aber erst 1948 in der Schweiz publizierte Werk. Und Hahn vergisst auch nicht, Lukács’ bislang kaum beachtete Weiterentwicklung des Gebrauchs der Begriffe Entfremdung und Verdinglichung in der postum erschienen Ontologie zu würdigen.

Pourquoi Lukács? Erich Hahn beantwortet die von Nicolas Tertulian[12] kürzlich in einem Buchtitel gestellte Frage auf mehreren Wegen: Er erwähnt die zeitgenössische Aktualität des Verdinglichungsparadigmas, hebt aber vorrangig ab auf die philosophische Aktualität von Lukács’ Konzeption. Der kritische Bewunderer der deutschen Philosophierevolution von Kant bis zu Hegel betrachtet die oft allzu stereotyp verworfene Konzeption einer Identität von Subjekt und Objekt nicht länger als schlicht metaphysischen Ballast. Lukács’ Identifizierung eines praktisch werdenden identischen Subjekt-Objekts (des Proletariats) ist recht verstanden keine Attacke auf ein materialistisches Geschichts- und Weltbild, sondern das Transformieren eines genialen idealistisch-dialektischen Modells in eine praxisphilosophische Geschichtstheorie in revolutionärer Absicht.

Dass ein überzeugter Marxist Lukács’ marxistischem Frühwerk seine Aneignung im Stil einer kompetenten, positiven, aber keineswegs unkritischen Untersuchung darbietet, ist inzwischen eine Rarität geworden. Dies macht Erich Hahns Studie zu einer bemerkenswerten philosophischen Studie, die demonstriert, was verloren zu gehen drohte, wenn marxistische Klassiker (und in diesem Sinne tatsächlich orthodoxe Marxisten) nicht zum Kanon unserer intellektuellen Gegenwartskultur gehören würden.[13]

Rüdiger Dannemann

Kritiker kapitalistischer Konsum- und Medienkultur

Jörg Später, Siegfried Kracauer. Eine Biographie, Berlin 2016, Suhrkamp, 744 S., 39,90 Euro

Auch in der Rückschau fällt es schwer, den Entwicklungsgang des Autors Siegfried Kracauer (1889 – 1966) und die Reichweite seines Ouevres zu überblicken. Ein multipler Autor, Wissenschaftler, Publizist, der als Architekt begann, diesen Beruf aber früh aufgab, der primär philosophisch interessiert war und zunächst Bücher über die Grundlagen der Soziologie und den Kriminalroman schrieb, bevor er als Journalist für die Frankfurter Zeitung zu arbeiten begann und sich dort auf die Kritik der modernen Konsumkultur und Medienanalyse spezialisierte. Auch als Romanautor trat er hervor, seine Kriegs- und Berufserfahrungen verarbeitend. 1930 erschienen seine Wissenschaft und Journalismus verbindenden „Angestellten“, eine sozialpsychologische Studie des damaligen zwischen Arbeiterklasse und Bürgertum angesiedelten Prekariats. Im Pariser und US-Exil folgten dann umfangreiche Studien zur Totalitären Propaganda, zur nazifaschistischen Filmästhetik sowie das Filmbuch „From Caligari to Hitler“, das, bereits auf englisch geschrieben, ihn vor allem in den USA berühmt machte (auf deutsch sollte es erst viel später vorliegen und kaum auf Resonanz stoßen). Der Filmtheorie und der Geschichtsphilosophie sollten dann die letzten beiden Bücher gewidmet werden. – Nicht minder unübersichtlich ist die Rezeption: In den USA war er der berühmte Filmhistoriker, der die Tiefenschichten der Filme und damit eine Art „kollektives Unterbewußtsein“ freilegte; die großen Untersuchungen zur Nazipropaganda konnten lange nicht erscheinen; und in der BRD gab es lange Zeit nur den dünnen Auswahlband „Das Ornament der Masse“, ohne Kontext oder Kommentierung – Kracauer blieb also der „extraterritoriale“ Paradiesvogel. Da die beiden großen Werkausgaben erst spät erschienen und ohnehin unerschwinglich sind, steht eine breite, politische, über das Akademische hinausgehende produktive Rezeption immer noch aus.

Möglich (und zu hoffen) ist, dass die pünktlich zum fünfzigsten Todestag vorlegte umfangreiche Biographie des Freiburger Historikers Jörg Später dies zumindest ansatzweise ändern wird. Bewusst als „soziale Biographie“ (16) angelegt, soll sie nicht nur ein individuelles Leben, sondern auch „die sozialen Kontexte beleuchten“, in denen das Werk dieses Autors entstanden ist. Kracauer selbst war gegenüber der „neubürgerlichen Kunstform“ der Biographie höchst skeptisch eingestellt und betrachtete sie, das sie aufs Einzelpersönliche fixiert sei, schlankweg als „Flucht“, ja als „Ausflucht“ vor der materiellen, sozialen Wirklichkeit. Als Ausnahme galt ihm nur eine Biographie, die „unserer Situation nicht ausweicht“, sondern hilft, sie zu erkennen. Zu fragen wäre also, ob und inwieweit Späters Biographie nicht nur die zentrale Person, sondern auch die soziale Wirklichkeit seiner Zeit in den Blick nimmt. Tatsächlich gelingt es Später weitgehend, Kracauers Entwicklungsgang und die jeweiligen sozialen Kontexte zu vermitteln, dabei auch auf die umfangreiche Korrespondenz und die autobiographischen Texte zurückgreifend, etwa wenn es um den Antisemitismus der Vorkriegsjahre, die Inflationsjahre oder die Personalstrukturen in der FZ geht. Was die entscheidenden intellektuellen Einflüsse betrifft, namentlich Georg Lukacs’ „Geschichte und Klassenbewußtsein“ (1923), so wird das gesamte Debattenspektrum aufgerollt, so dass auch Kontrahenten, Freunde und Gesprächspartner (Ernst Bloch, Theodor Wiesengrund, Leo Löwenthal u.a) zu Wort kommen. Die von Lukacs entwickelte Verdinglichungsthese sowie das Konzept des „falschen Bewußtseins“ sollte die Basis bilden für eine sehr bald marxistisch ausgerichtete Ideologiekritik, die Kracauer in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre als Journalist auf die vielfältigsten Formen der kapitalistischen Konsum- und Medienkultur anwendet. Kracauer verbindet stets das Erfassen der Oberflächenphänomene, der „Realien“, mit der philosophisch-kritischen Suche nach deren sozialer Signifikanz. So werden, im berühmten „Ornament der Masse“ die Tillergirls (bzw. die populären) Tanzrevuen als „ästhetischer Reflex“ (193) des Kapitalismus und seines – freilich „getrübten“ – Rationalismus diagnostiziert. Auch der Film dient Kracauer vorrangig als Medium zur Erkenntnis gesellschaftlicher Verdrängungen und Projektionen. In den „Angestellten“ widmet er sich schließlich der Analyse der soziologischen Basis und zeigt, wie anfällig diese politisch, sozial und kulturell prekäre Schicht für den heraufziehenden Faschismus ist.

Bereits hier erweist sich, wie innovativ und produktiv Kracauers analytische Methode ist. 1933 und in den Folgejahren war Kracauer wohl derjenige, der die „Ästhetisierung der Politik“, wie Walter Benjamin den Zusammenhang von Medien und faschistischem Staat, von Propagandastrategie und versteckten psychologischem Dispositionen apostrophierte, wohl am fundiertesten untersucht hat. Bereits das kurze Exposé, das Kracauer 1936 an Max Horkheimer schickte, in der – leider letztlich vergeblichen – Hoffnung, so seine Untersuchung finanzieren zu können – „Masse und Propaganda“ – zeigt, wie der Nazifaschismus bei den Krisenerfahrungen der diversen Klassen ansetzt und schließlich darauf abzielt, die neu entstandenen Massen – wie er unmarxistisch sagt – durch Scheinlösungen zu integrieren. Wegen ideologischer Differenzen und anderer Reibereien kommt es freilich nur zu einem breit ausgeführten Entwurf („Totalitäre Propaganda“), aber nicht zur Publikation. Selbst das brillante Expose „Masse und Propaganda“ erscheint erst 2012, als Teil der Gesamtausgabe. Weitere Analysen – namentlich zur höchst kalkulierten Filmästhetik der Nazifaschisten – erscheinen dann bereits in den USA und in englischer Sprache. Kracauer nutzt die weiteren Jahre in den USA, die seine permanente Heimat werden und deren liberale Atmosphäre im akademischen Bereich er schätzt, zur Ausformulierung seiner Filmtheorie („Die Errettung der Wirklichkeit“) und zu einer Geschichtsphilosophie, die vom angeblichen Determinismus des Marxismus (zumindst sowjetischer Prägung) abrückt. Die ideologiekritische Kultur- und Gesellschaftsanalyse führt er nicht weiter. Doch genau diese gilt es m. E. wiederzuentdecken und weiter zu entwickeln, vor allem in den Zeiten tiefreichender Krisen, konformistischer und manipulativer Medien und erneuter (neo-)faschistischer Lösungsversprechen.

Jürgen Pelzer

Umstrittene Moderne

Lothar Peter, Umstrittene Moderne. Soziologische Diskurse und Gesellschaftskritik. Herausgegeben und eingeleitet von Dieter Boris, Stephan Moebius und Jan Sparsam, Wiesbaden, Springer VS 2016, 366 Seiten, 49,99 Euro

Die bibliographischen Angaben zu Autor und Titel wecken einen leicht verzerrten Eindruck. Was zunächst scheint wie eine monographische Auseinandersetzung des renommierten Soziologen Lothar Peter, ist eine Hommage an diesen in Form einer Wiederveröffentlichung ausgewählter Aufsätze.

Im Geleitwort erläutern die Herausgeber des Bandes ihre Motivation, , eine Sammlung mit Schriften von Lothar Peter neu zu veröffentlichen: Es handelt sich den Herausgebern zufolge um Aufsätze, die in den letzten 20 Jahren an teils schwer zugänglichen Orten erschienen sind und die sie für so „relevant und erkenntniserweiternd [halten], dass es für eine potenziell interessierte Fachöffentlichkeit und für die immer neu zu diskutierende ,Ortsbestimmung’ und Aufgabenstellung einer zeitgemäßen kritischen Soziologie höchst nachteilig wäre, diese Studien von Lothar Peter nicht zur Kenntnis zu nehmen“ (V).

Die Beiträge kreisen um das Themenfeld einer Soziologie, die in herrschaftskritischer und zeitdiagnostischer Absicht soziologische Gegenwartsdiagnosen überprüft und kritisiert. Hiermit ist auch schon ein grundlegendes Motiv der Schriften von Lothar Peter genannt, das in der in dem Band enthaltenen Abschlussvorlesung (s.u.) eingehend erläutert wird. Neben Kommentaren zu ausgewählten Klassikern des soziologischen Denkens und disziplinären Kontroversen (Marx; historischer Materialismus; Bergson, Simmel, Durkheim; Adorno und Horkheimer) werden Themenfelder marxistischer Theoriebildung (Theorie der Arbeit/des Kapitalismus; gesellschaftskritische Zeitdiagnosen; Theorie des Intellektuellen) behandelt. Dabei ist eine thematische Breite festzustellen, die weit über mögliche „orthodoxe“ Kernthemen und Theorieansätze hinausgeht. Der Beschäftigung mit den symbolisch-kulturellen Dimensionen von Herrschaft wird zudem eine große Bedeutung beigemessen.

Peter erweist sich als profunder Kenner der soziologischen und intellektuellen Entwicklungen jenseits des Rheins: das Spektrum der besprochenen Denkansätze umfasst die Klassiker der französischen Soziologie Émile Durkheim und Henri Bergson (und deren Rezeption in den deutschsprachigen Debatten, vor allem in der Perspektive der kritischen Theorie und durch Horkheimer und Adorno), französische Intellektuelle im Umfeld neokonservativer Entwicklungen bis hin zu Pierre Bourdieu. Letzterer ist ein zentraler Referenzpunkt für Peter, wie die Beiträge zur Intellektuellenfigur und zum Funktionswandel (kritischen) intellektuellen Engagements zeigen. Darüber hinaus spielt Bourdieu auch in den systematischen Überlegungen zur „marxistischen Soziologie“ (Ergänzung einer rein ökonomischen Analyse der Reproduktion kapitalistischer Herrschaft) sowie in Peters Vorschlag einer Theorie der symbolischen Gewalt eine fundamentale Rolle (s.u.). Ein weiteres Grundmotiv der Peter’schen Überlegungen zur Soziologie ist die „Schwäche der Geschlechteranalyse“ (269ff.), die gewisse Spielarten der marxistischen Theoriebildung kennzeichnet, weshalb er sich auch den entsprechenden Schwachpunkten in der Konzipierung des Verhältnisses zwischen „dem anderen Geschlecht“ und dem Historischen Materialismus widmet (27-48).

Peters Abschiedsvorlesung an der Universität Bremen, die erstmals in den Blättern für deutsche und internationale Politik (H. 5/2006) veröffentlicht wurde, trägt den programmatischen Titel „Wozu noch Gesellschaftskritik?“. Der Text ist nicht mehr und nicht weniger als ein Programm herrschafts- und gesellschaftskritischer Soziologie. Hierzu wird von einem Begriff von Herrschaft ausgegangen, der die Annahme eines grundlegenden Antagonismus enthält, und die These vertreten, dass „die Herrschenden, also vor allem wirtschaftliche, politische und kulturelle Eliten bzw. unterschiedliche Fraktionen der herrschenden Klasse, ihre gesellschaftliche Stellung aufrechtzuerhalten und auszubauen versuchen“ (304). Die gesellschaftskritische Soziologie ist eine Wissenschaft, die ausdrücklich nicht wertfrei ist, sondern auf das parteiliche Eingreifen im Hinblick auf die praktische Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse abzielt. Sie analysiert Herrschaftsverhältnisse und die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Perpetuierung und will auf dieser Grundlage zeigen „wo für die Betroffenen mögliche Eingriffspunkte für Veränderungen liegen, warum es nicht genügt, an Symptomen zu kurieren und welche Perspektiven sich ergeben, wenn dieses oder jenes geschieht oder nicht geschieht“ (305). Ein solches Unternehmen hat immer schon in kritischer Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen, in den Sozialwissenschaften verhandelten Zeitdiagnosen stattzufinden. In deren kritischer Kommentierung gilt es einen präzisen und kritischen Begriff der gesellschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart zu gewinnen, eine Herausforderung, an der sich die gesellschaftskritische Soziologie messen muss.

Als zentrale Aufgaben eines derart skizzierten Projektes nennt Peter erstens den Hinweis, von monokausalen Erklärungen abzusehen und unterschiedliche, oft als heterogen erscheinende „Aspekte materieller und symbolischer Herrschaft“ miteinander verschränkt zu analysieren. Zweitens gehe es auch „nicht nur um die Ursache und Folgen sozialer Ungleichheit, Sexismus, politischer Entmündigung und kultureller Fremdbestimmung, sondern auch um die Frage, warum die Mehrheit in unserer Gesellschaft diese Formen von Herrschaft und Ungleichheit überhaupt duldet oder sich sogar aktiv mit ihnen identifiziert“ (314). Hierzu gelte es, sich des Instrumentariums der Diskursanalyse zu bedienen, um die Verfestigung und Hegemonialität sozialer Deutungs- und Identifikationsmuster in der Gesellschaft in kritischer Absicht zu rekonstruieren. Drittens habe sich die gesellschaftskritische Soziologie immer auch dem Vorhaben zu verschreiben, soziale, politische und kulturelle Errungenschaften, die den Herrschenden in vergangen Kämpfen abgetrotzt werden konnten, zu verteidigen.

Die Liste der zeitgenössischen Sozialwissenschaftler, mit denen sich Peter in seinen Aufsätzen kritisch auseinandersetzt, ist lang und bestätigt, wie gewissenhaft, ernsthaft und professionell er den selbst formulierten Anspruch der kritischen Bezugnahme auf die Deutungen von Gesellschaft und Gegenwart nimmt. Der Aufsatz „Rechtfertigung und Beschwichtigung: Gesellschaftskonzepte in der heutigen Soziologie“ führt das Unternehmen der kritischen Lektüre gegenwärtiger Modellierungen von Gesellschaft beispielhaft vor Augen. Am Beispiel von Jürgen Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“, Gerhard Schulzes Konzept der „Erlebnisgesellschaft“ sowie Helmut Willkes „Wissensgesellschaft“ untersucht Peter, wie soziologische Entwürfe, die sich mit Gesellschaft, gesellschaftlichen Aktivitäten und Beziehungen auseinandersetzen, zur „Verschleierung oder Kritik bestehender Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse in modernen Gesellschaften beitragen“ (317) können. Die kritische Lektüre dieser Ansätze kommt zu ausdifferenzierten, hier nicht zu vertiefenden Ergebnissen, stets gemessen an dem zentralen Kriterium, wie die Konfrontation mit der „Existenz sozialer Ungleichheit, Herrschaft und materieller und symbolischer Gewalt“ (317) ausfällt: dulden, akklamieren, befürworten, ausblenden oder zurückweisen und kritisieren. Generell konstatiert Peter die Neigung der soziologischen Theoriebildung, einzelne Aspekt wie z.B. das Erleben, die Kommunikation oder das Wissen an die Stelle eines Gesellschaftsbegriffs zu stellen, „der alle Strukturelemente von Gesellschaft sowie ihre wechselseitigen Beziehungen zu erfassen sucht“ (325f.).

Peter macht in seinen Schriften immer wieder, so vor allem im Beitrag „Marxistische Soziologie“ (265-280), auf Verkürzungen des theoretischen Paradigmas aufmerksam, in dem er sich selbst verortet und das mal als „Historischer Materialismus“ und mal als „marxistische Soziologie“ bezeichnet wird. Substanzielle Kritiken bringt er in diesen internen Debatten gegen Lesarten des Klassenbegriffs vor, die auf einer „unmittelbaren Identität des Ökonomischen und Sozialen“ fußen oder gegen die schon erwähnten „Schwächen der Geschlechterfrage“. Im Aufsatz „Marx – ein Apokalyptiker der Moderne?“ widmet Peter sich der höchst spannenden Frage, ob Begriffe wie Apokalypse und Eschatologie angemessen sind zur Kennzeichnung der Marx’schen Theorie, von der Analyse und Kritik des Kapitalismus bis hin zur Imagination einer kommunistischen Gesellschaft. Gibt es eine Verbindung zwischen den utopischen, visionären, messianischen oder apokalyptischen Zügen der revolutionären Bewegungen, die sich auch auf Marx beriefen, und seinen theoretischen Impulsen? Wie verhält sich die Spannung von aufklärerischem Denken und (quasi-)religiösem Gehalt oder gar Substanz (laut Karl Löwith) im Marschen Werk?

Das soziologiegeschichtliche Interesse Peters und die entsprechende Expertise geht jedoch weit über das Feld der marxistischen Theoriebildung hinaus, wie in den geistes- und soziologiehistorischen Ausführungen zu lebensphilosophischen Aspekten bei Georg Simmel und Henri Bergson deutlich wird. Peter beleuchtet die Verschiedenheit der soziologischen Ansätze der beiden, deren Kultur- und Gegenwartsdiagnosen oftmals und nicht zuletzt wegen der emphatischen Rezeption der Schriften Bergsons durch Simmel als theoretisch affin dargestellt werden. „Lebensphilosophisches Denken erweist sich nämlich bei eingehender Analyse als vielschichtig und in sich kontrovers“ (68), so die Ausgangsthese des knapp 60seitigen Essays „Élan vital, Mehr-Leben, Mehr-als-Leben. Lebensphilosophische Aspekte bei Henri Bergson und Georg Simmel“, der erstmals 1996 im Jahrbuch für Soziologiegeschichte erschienen ist und der eine detaillierte Rekonstruktion und einen kontrastierenden Vergleich der beiden Theorieentwürfe vornimmt. Die Ausführungen zu Simmel, der in den letzten Jahren wieder verstärkt rezipiert wird, situieren ihn im Horizont intellektueller Bewusstseinsverfassung zu Beginn des 20. Jahrhunderts; so auch im diffusen Milieu bildungsbürgerlicher Schichten, die sich eine antibürgerliche Attitüde zu eigen machten und sich weltanschaulich zu „Sympathisanten eines ‚romantischen Antikapitalismus‘ (Georg Lukács) [entwickelten], der die sozialen Pathologien der Geldwirtschaft und des Warenfetischismus bekämpfte, ohne die strukturellen sozioökonomischen Bedingungen privatkapitalistischer Produktion und Distribution in Frage zu stellen“ (99). Aversionen gegenüber materiellem Besitz, ostentativem Reichtum und durch Geld erwerbbare Statussymbole mischten sich mit einer Skepsis gegenüber der parlamentarischen Demokratie und einer auf soziale Distinktion gerichteten elitären Selbststilisierung. Am Beispiel von Simmels Deutungen des Ersten Weltkriegs und seiner Diagnose der „Krisis der Kultur“, in deren Befindlichkeit der Krieg als „heilsame Katastrophe des angeblichen seelenlosen Automatismus der Vorkriegsperiode“ (102) gepriesen wurde, zeigt Peter auf, wie sich die lebensphilosophisch zugeschnittene Kriegsdeutung motivisch durchaus in der Nähe zu radikal antimodernen Kulturauffassungen des George-Kreises oder auch Ernst Jüngers „Stahlgewittern“ befindet. Es entsteht jedoch ein weitaus über jene Aspekte hinausgehendes Porträt beider Denker des Sozialen, wobei Simmel eher die „Position des sensibel und akribisch beschreibenden Analytikers der modernen Kultur“ einnahm, während Bergson sich zu „einer weitreichenden pädagogischen Mission“ berufen fühlte (122).

Die in Peters Schriften immer wieder auftauchende Idee, die symbolische Dimension der Herrschaftsverhältnisse ernst zu nehmen, greift Peter im theoretischen Schwergewicht der versammelten Aufsätze, in den „Prolegomena zu einer Theorie der symbolischen Gewalt“, auf und macht sie zum Gegenstand systematisierender Überlegungen. Die Auseinandersetzungen mit den zentralen Begriffen Macht, Herrschaft, Gewalt und dem Symbolischen sind Ausgangspunkt und führen schon rasch zum Konzept der „symbolischen Gewalt“ bei Pierre Bourdieu, mit dem Peter davon ausgeht, dass neben „der physischen, ökonomischen und politischen Verfügungsgewalt über Dinge und Menschen eine weitere Dimension von Gewalt existiert, auf die für die Reproduktion und Erweiterung gesellschaftlicher Herrschaft umso weniger verzichtet werden kann, je weniger Systeme von Herrschaft sich allein auf die Anwendung physischer, ökonomischer und politischer Gewalt verlassen können“ (344). Symbolische Gewalt operiert über Sinnzuschreibungen und Bedeutungen, die bestehende Herrschaftsverhältnisse nicht als solche erkennbar werden lassen. Es geht um die Analyse der Prozesse, die einen Konsens zwischen Herrschenden und Beherrschten stützen. Jene Interaktionen lassen sich in die drei Momente symbolischer Gewalt, dem Erkennen, Anerkennen und Verkennen der symbolischen Repräsentation von Herrschaft sortieren (346). Peter schlägt zudem vor, den Begriff der symbolischen Gewalt durch die Kontrastbildung zu gewissen Lesarten des Ideologiebegriffs zu schärfen. In Abgrenzung zur Behauptung starrer Subjekt-Objekt-Beziehungen, in der das herrschende System als omnipotentes Subjekt gefasst wird, das seine Ideologie aufzwingt, oder der Unterscheidung von wahrem und falschem Bewusstsein, werden in der Perspektive des Begriffs der symbolischen Gewalt die Prozesse der Generierung und der Trägerschaft symbolischen Sinns beleuchtet, um die Prozesse der nicht-bewussten Aneignung, Verinnerlichung und Habitualisierung symbolischer Codes zu untersuchen. Weitere bedeutende Eckpfeiler der Konzeptualisierung von „symbolischer Gewalt“ sind zum einen die Unterscheidung von struktureller und symbolischer Gewalt, die vor dem Hintergrund der Diskussion verschiedener soziologischer Gewaltbegriffe erfolgt, sowie die Theorie der Kapitalsorten von Pierre Bourdieu. Der Text erhält einen theoretischen Vorschlag, der unbedingt in weiteren Diskussionen aufgegriffen werden sollte, die auf eine Klärung dessen abzielen, warum und wie „Menschen mit Hilfe symbolisch-sinnhafter Bedeutungen von oder Zuschreibungen zu Sachen, Personen, Handlungs- und Verhaltensweisen zur Hinnahme, Bejahung und Verstetigung von Strukturen, Institutionen und Akteuren gesellschaftlicher Herrschaft“ (339) bewegt werden.1

Abschließend soll noch angemerkt werden, dass eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Werk Louis Althussers noch deutlicher hätte ausfallen können. Sie findet in mehreren Randkommentaren und in Fußnoten statt und hätte angesichts der Tatsache, dass Peter ein profunder Kenner der französischen und marxistischen Debatten ist, eine Auseinandersetzung in einem eigenständigen Artikel verdient. Die (überwiegend) kritischen, teils aber auch anerkennenden Bemerkungen zu Althusser zu einer umfassenderen Auseinandersetzung im Rahmen der Diskussion der „Umstrittenen Moderne“ auszubauen, wäre nicht zuletzt auch deshalb sinnvoll, da die von Peter befürwortete Methode der Diskursanalyse von Denkern aus dem Umfeld von Althusser mitentwickelt und vor allem im Kontext der Althusser-Rezeption im erweiterten Umfeld der Cultural Studies als kritische apostrophiert und geprägt wurde. Ebenso wäre interessant, sich dem Nachwirken Althussers im Denken seiner ehemaligen Schüler und Kollegen oder anderer Multiplikatoren zu widmen, die heute mit der jüngsten Renaissance kritischer Intuitionen im Gefolge von Marx verbunden werden: von Jacques Rancière, Étienne Balibar, Jacques Derrida, Alain Badiou, Slavoj Zizek, den britischen Cultural Studies oder den lateinamerikanischen estudios subalternos. Doch damit möchte ich diese fast schon unverschämte Wunschliste, die die Lektüre der Texte des Soziologiehistorikers, Marx- und Frankreichkenners Peter anregt, schließen.

Die in „Umstrittene Moderne“ versammelten Aufsätze sind eine wertvolle Sammlung von Anschauungsbeispielen, wie soziologisches Denken und Arbeiten mit der Aufgabe der Gesellschaftskritik in einen produktiven Dialog gebracht werden können. Peters Ansatz, der historischen und ideengeschichtlichen Neugierde nachzugehen und dies zu verbinden mit dem Unternehmen, grundlegende gesellschaftliche Probleme und Schieflagen in emanzipatorischer Absicht auszuloten, ist wahrlich nicht en vogue. Gegen den an den Universitäten vorherrschenden Zeitgeist ist die Lektüre des Sammelbandes umso mehr eine schöne Gegenerfahrung. Dass die ausgewählten Schriften von Lothar Peter nun gebündelt einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden, ist sehr zu begrüßen und könnte einen bedeutenden Impuls darstellen für weitere Anstrengungen der kritischen Bestimmung der Gegenwart, die in Peterscher Manier immer auch eine kritische Auseinandersetzungen mit anderen Bestimmungen der Gegenwart voraussetzt.

Patrick Eser

Russlands Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus

Samir Amin, Russia and the Long Transition from Capitalism to Socialism, Monthly Review Press, New York 2016, 144 S., br. 23 $

In sechs Aufsätzen befasst sich der ägyptische Weltsystemtheoretiker Samir Amin mit den verschiedenen Facetten der russischen Geschichte von der Eingliederung Eurasiens in das präkapitalistische tributäre Weltsystem bis zur gegenwärtigen Krise in der Ukraine. Dass die Essays bereits in den fünfzehn Jahren zwischen 1990 und 2015 erstmals publiziert worden sind, schmälert ihren Gebrauchswert nicht.

Im ersten Beitrag „Russia in the Global System: Geography or History?“ beschreibt Amin die Integration Eurasiens in das „antike Weltsystem“ zwischen 1250 und 1500 und seine anschließende Entwicklung innerhalb des Kapitalismus. Diese habe Eurasien „spezielle Charakteristika“ (13) verliehen, die es sowohl von Europa als auch von Asien (besonders China) unterscheide. Russland habe unter der Ägide einer politischen Macht in einem kontinentalen Raum „eine selbständige Entwicklung“ (15) verfolgt, ohne sich gänzlich nach Westen zu öffnen. Damit habe es zwar seine „Peripherisierung“ (ebd.) verhindert; aber die ständigen Konflikte mit Rivalen waren gleichzeitig der Grund dafür, dass es nicht zu einem Zentrum heranwachsen konnte. Die aus dieser Geschichte resultierende „auto-zentrierte, aber rückständige Struktur eines Zentrums“ (17f.) im kapitalistischen Weltsystem machte Russland zum schwächsten Glied in der Kette, beförderte den Klassenkampf und ermöglichte damit letztlich die Oktoberrevolution.

Im Essay „The Czarist Empire versus the Colonial Empire“ vergleicht Amin anlässlich der beiden Referenden in Schottland und auf der Krim über ihre Zugehörigkeit zu Großbritannien bzw. Russland im Jahr 2014 die Genese und Expansion des russischen und des britischen Imperiums. England habe seine Nachbarn kolonisiert, sie kulturell vollständig unterworfen und ökonomisch in eine einheitliche kapitalistische Ökonomie unter der Führung der herrschenden Klasse Englands eingefügt. Die russischen Eroberer hätten hingegen die führenden Landbesitzer der Ukraine und Weißrusslands nicht in ein russisches Wirtschaftssystem hineingepresst und auch die Leibeigenen und freien Bauern nicht anders ausgebeutet als die eigenen. Außerdem habe das zaristische Russland bei seiner Ausdehnung nicht annähernd solche Verbrechen begangen wie die Briten an den Ureinwohnern der USA oder wie bei ihrer „brutalen Kontrolle durch Kolonialregierungen“ (28) in Indien. Die Sowjetunion habe die Situation im Inneren noch verbessert. Republiken, Regionen und autonomen Bezirken wurden kulturelle Rechte zugestanden, die sozialen Rechte auf dem gesamten Territorium vereinheitlicht und die reichen unterstützten finanziell die armen Teile der Union. Vor diesem historischen Hintergrund kritisiert Amin die offiziellen Darstellungen über die Volksabstimmungen in Schottland und der Ukraine in den westlichen Medien für ihre „doppelten Standards“ und führt diese auf „den Standpunkt des dominanten Finanzkapitals“ (32) zurück.

In „Thirty Years of Critique of the Soviet System (1960-1990)“ setzt sich Amin mit seinen Positionen zur Sowjetunion auseinander. Er ist der Überzeugung, dass die Revolutionen in Russland und später in China zwar einen „langen Übergang“ (47) initiiert hätten. Dessen Ausgang – Sozialismus oder Barbarei – sei aber bis heute ungewiss. In der Sowjetunion sei eine „Bourgeoisie“ als „Klasse“ (44) durch eine „populare, nationale und sozialistische Revolution“ (53) an die Macht gekommen, deren Herrschaft durch den Bruch des Klassenbündnisses von Bauern und Arbeitern infolge der Kollektivierung unter Stalin gestärkt worden sei. Nichtsdestotrotz könne man die „sowjetische Produktionsweise“ (46) nicht als „kapitalistisch“ (ebd.) im Sinne des Industriekapitalismus bezeichnen. Chruschtschows „rechter“ (48) Kurs, durch den „das Ziel des Aufholens über das Ziel der Alternative“ (ebd.) zum Kapitalismus triumphiert habe, hätte letztlich das Scheitern besiegelt.

In „Out of the Tunnel“ umreißt Amin die Konstellation, in der sich Russland zwischen 1990/91 und ca. 2005 befunden hat. Es sei zunächst von Gorbatschow und Jelzin und dann schnell unter dem Druck der „verschiedenen Assoziierten der imperialistischen Triade“ (91) aus USA, EU und Japan „lateinamerikanisiert“ (90) worden. Während im Lande eine Oligarchie die politische und ökonomische Macht an sich gerissen habe, habe sich Osteuropa zum Hinterhof der EU, insbesondere Deutschlands entwickelt, während Russland den USA ausgeliefert worden sei. Dadurch ist Russland als „untergeordnete Peripherie“ (89) in das imperialistische Weltsystem eingegliedert worden. Besonders bedauerlich sei in diesem Zusammenhang, dass die „vorherrschende Linke in Europa“ sich z.B. in der Ukraine-Krise „zum Komplizen des dominanten Imperialismus gemacht“ (105) habe, als das legitime Streben der Völker des Ostens nach Demokratie manipuliert und fehlgeleitet worden ist.

Im letzten Artikel des Bandes, „The Ukrainian Crisis and the Return of Fascism in Comtemporary Capitalism“, definiert Amin zunächst Faschismus als eine Gesellschaftsform, mit der der „Kapitalismus gemanagt“ (109) wird und die auf der Ablehnung der Demokratie beruht. Im Anschluss daran erstellt er eine vierteilige Taxonomie der historischen Faschismen entlang der Gliederung des Weltsystems: vom „Faschismus der führenden ‚entwickelten‘ kapitalistischen Staaten“ (Deutschland, Japan) bis zum „Faschismus der abhängigen Staaten Osteuropas“ (Polen, Ungarn, Rumänien) (110ff.). Mit Hilfe des Rückblicks zeigt Amin, dass die historischen geopolitischen und geoökonomischen Linien sich mit den aktuellen überlagern. Die derzeitige Kooperation zwischen der NATO und der EU einerseits und den „lokalen Faschisten Osteuropas (insbesondere in der Ukraine)“ (117) andererseits dient erstens der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung, die global in ihre schwerste Krise geraten ist. Zweitens soll sie zugleich die Vormachtstellung der imperialistischen Triade im Osten zementieren und das Aufkommen einer multipolaren Weltordnung verhindern.

Christian Stache

Arbeit, Identität und der Kampf freier Arbeiter*innen vs. Migrant*innen?

Marcel van der Linden, Workers of the World – eine Globalgeschichte der Arbeit, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2017, 503 S., 39,95 Euro

Marcel van der Lindens gewaltiges Werk lässt sich als Gegenentwurf zu Marx und marxistischen Betrachtungen der Arbeit und der Arbeiterinnen lesen. Schon zu Beginn grenzt er sich von Marxens Vorstellungen ab.

Nun könnte man das Buch als ketzerisch beiseite legen. Doch das Lesen lohnt. Ähnlich wie E.P. Thompson mit seinem monumentalen Werk über die Entstehung der englischen Arbeiterklasse versucht van der Linden sich an einer sehr genauen Betrachtung der Arbeit und der Arbeiter*innen – nur eben auf globaler Ebene.

Doch um van der Lindens Ausführungen besser einordnen zu können, braucht es einen kleinen Exkurs zu Marx: Nach Marx ist die Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse ein äußerst brutaler Prozess. Gerade im Mutterland des Kapitalismus, Großbritannien, wurden die Menschen vom Land vertrieben und ihrer Lebensgrundlage beraubt. Was heute kaum noch jemand weiß – die schottischen Highlands waren im 17. Jahrhundert relativ dicht besiedelt (viel stärker als heute). Für die Schafzucht wurde ein Großteil der Einwohner*innen gewaltsam vertrieben. Diese Vertreibung der Menschen vom eigenen Land und die daraus folgende Verstädterung ist bis heute relativ typisch für die Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse. Die Menschen wurden ihres Landes, ihrer Arbeit und damit ihrer Lebensgrundlage beraubt. Sie waren nun doppelt frei: frei von Eigentum und frei, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.

Marcel van der Linden stellt das infrage. Für ihn ist die doppelt freie Lohnarbeit historisch die absolute Ausnahme. Arbeiter*innen waren meist alles andere als frei. In den meisten Ländern und Gesellschaften dominierten Formen unfreier Arbeit: Sklaverei, Knechtschaft oder verschiedene Formen von Zwangsarbeit. Und die Formen waren viel differenzierter, als wir uns das heute meist vorstellen.

Das betraf keineswegs nur das Klischee der „schwarzen“ Sklaven. Auch auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands, der Schweiz und Österreichs gab es verschiedene Formen der Zwangsarbeit. In Mecklenburg wurden Dörfer mit ihren Bewohner*innen als Besitz verkauft. Bekannt ist auch der Verkauf hessischer und württembergischer Soldaten an andere kriegführende Parteien in Europa und Amerika. Ebenso verbreitet war die Fronarbeit. Bauern erhielten ein Stück Land und mussten dafür für den Landesherrn oder die Kirche auf deren Land mehrere Tage die Woche unentgeltlich arbeiten. Bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts gab es in der Schweiz „Verdingkinder“, die auf großen Bauernhöfen – oft unter höllischen Bedingungen – zwangsarbeiten mussten.

Neben der Zwangsarbeit bestreitet van der Linden auch das gänzliche Fehlen von Eigentum. Er weist darauf hin, dass Arbeiter und Sklaven (bis heute) oftmals auch eigenes Land besaßen. Sechs Tage die Woche arbeiteten sie zum Beispiel für ihre Herren, und am „freien Tag“ bewirtschafteten sie ihr eigenes Land. Selbst in den Slums oder einer Großstadt im Westen gibt es Formen der Subsistenzwirtschaft – man denke nur an die Kleingartenkolonie oder den Hühnerkäfig im Abstellraum.

Da van der Linden eben nicht die klassischen Formen der Arbeiterbewegungen betrachtet, kommt er zu einigen teils überraschenden Erkenntnissen. Er zeigt auf, dass zum Beispiel die Plantagensklaverei nur eine von vielen Formen der Sklaverei in der westlichen Welt war. Weniger bekannt ist, dass auch Sklav*innen in den Manufakturen und Fabriken in den Nordstaaten der USA arbeiteten. Diese Sklav*innen waren teils hochqualifiziert. Teils waren sie Vorarbeiter, und ihnen unterstanden mitunter sogar weiße oder andere Vertragsarbeiter*innen.

Natürlich hatten sie als qualifizierte Arbeitskräfte auch einiges Druckpotenzial, und das nutzten sie durch verschiedene Formen des Streiks um bessere Arbeitsbedingungen oder höhere Löhne (ja auch Sklav*innen wurden teilweise bezahlt).

Ebenso vielfältig sind die Formen der Zusammenarbeit zwischen den Lohnabhängigen in Westeuropa. Die Arbeiter bildeten nicht nur Genossenschaften, Gewerkschaften und Parteien. Sie gründeten auch die ersten Versicherungen: vor allem Arbeitslosen- und Krankenversicherungen, die erst viel später in Reaktion auf die Selbstorganisierung der Arbeiter staatlich wurden. Das zeigt auch nochmal, wie wenig selbstverständlich alle hiesigen Errungenschaften sind. Der ganze „Sozial- und Wohlfahrtsstaat“ beruht auf Ideen der Arbeiter selber und wurde auf deren Druck oder aus Angst vor ihnen umgesetzt.

Doch die Untersuchungen von van der Linden zeigen ebenso, dass die Zusammenarbeit von Arbeitern oft auch eine Kehrseite hatte. Die Vereinigungen der Arbeiter richteten sich hin und wieder auch gegen andere Lohnabhängige. Es waren meist die hochqualifizierten Arbeiter, Knechte oder Sklaven, die sich organisierten.

Besondere Berufsgruppen bildeten eigenen Stolz und teils sogar eine eigene Kultur aus. Auch die Arbeiterbewegung hatte eine starke Identität (und machte Identitätspolitik). Gruppen von Menschen bilden immer Identitäten aus. Eine gemeinsame Organisierung ohne gemeinsame Identität ist kaum denkbar.

Zuerst zeigte sich das bei den Zünften, später dann in der Arbeiterbewegung. Nicht selten richtete sich die Organisierung der Arbeiter gegen untere Schichten oder migrantische Arbeitskräfte. Zum Beispiel setzten sich US-Gewerkschaften in den 1920ern für einen Migrationsstopp ein, um selber schlagkräftiger zu werden. Denn je mehr Arbeitskräfte frei verfügbar sind, desto schlechter ist meist die Verhandlungsposition der Gewerkschaften (da sich die Unternehmen aussuchen können, wen sie einstellen). Schließlich hatten sie Erfolg. Die US-Regierung begrenzte die Migration, und in den frühen 1930ern setzten unter anderem die US-Gewerkschaften die größten sozialen Errungenschaften der Vereinigten Staaten überhaupt durch (was aber keineswegs nur am Migrationsstopp lag). Diese Haltung der Gewerkschaften gegenüber Migrant*innen ist nicht untypisch. Meist ändern sie ihre Haltung erst, wenn so viele Migranten im Lande sind, dass deren Illegalisierung mehr Nach- als Vorteile hat (zum Beispiel durch Schwarzarbeit usw.). So war es zum Beispiel in Deutschland und Großbritannien. Erst nach einigen Jahrzehnten begannen die Gewerkschaftsverbände in den 1970ern, die Migrantinnen – auch aufgrund migrantischer Arbeitskämpfe – zu organisieren. Seitdem engagieren sich die meisten deutschen und englischen Gewerkschaften verstärkt gegen Rassismus, weil eine Spaltung der Lohnabhängigen ihnen schadet.

Wen das überrascht, der hat die Widersprüche in der historischen Arbeiterbewegung nicht zur Kenntnis genommen. Davon sind auch die Begründer des Marxismus, Marx und Engels, nicht frei. Sie charakterisierten die Iren in Großbritannien in ihren frühen Texten massiv als zersetzende Elemente. Der Katalog an entsprechenden Apostrophierungen der „Neger“ Großbritanniens – gemeint waren die Iren – ist lang. Später wurden auch die Iren als wichtige Teile der Arbeiterklasse bezeichnet.

Van der Linden interessieren die Arbeit und die Aktionen der abhängig Arbeitenden. Er untersucht den Gegenstand erkennbar mit Sympathie, hält sich aber mit Prognosen oder politischen Theorien sehr zurück.

Van der Lindens Studie kann als eine historische wie aktuelle Ergänzung zu den Arbeiten von Marx und Co gelesen werden. Sie ist auch insofern verdienstvoll, als sie den Blick über Europa und Nordamerika hinaus ausweitet und die globalen Verhältnisse in den Blick nimmt. Van der Lindens Fragestellungen und Erkenntnisse sind für die heutige Linke von allerhöchster Relevanz. Das große Manko des Buches ist aber sicher sein stolzer Preis. Trotzdem, es lohnt sich.

Janis Ehling

Studien zu einer marxistischen Geschichte der DDR

Siegfried Prokop, „Die DDR hat’s nie gegeben“. Studien zur Geschichte der DDR 1945 bis 1990. Edition Bodoni, Buskow 2017, 308 S., 20,00 Euro

Seit Klaus Kinkel (FDP), früherer Präsident des Bundesnachrichtendienstes und seit 1992 Bundesaußenminister, Anfang der 1990er Jahre gefordert hatte, die DDR nach ihrem Ende systematisch zu „delegitimieren“, haben sich regierungs- und kapitalhörige Historiker, karrierebestrebte Nachwuchswissenschaftler und Journalisten mit Eifer bemüht, dieser Forderung nachzukommen. Die regierungsoffizielle Aufforderung richtete sich nicht nur an Publizisten und Historiker, sondern ebenso an Staatsanwälte und Beamte in staatlichen Dienststellen. Das Resultat ist eindeutig und unübersehbar: ein riesiger stinkender Müllhaufen von Lügen, Verleumdungen und anderem verbalen Schrott.

Selten zuvor ist in den letzten hundert Jahren deutscher Geschichtsschreibung so systematisch, dreist und dumm über einen Abschnitt deutscher Geschichte gelogen worden wie über die DDR nach ihrem Untergang. Nie wurden die Geschichtsfälscher so großzügig entlohnt und mit Instituten, Stiftungen, Zeitschriften, Stipendien ausgestattet. Doch es hilft alles nichts. Die DDR ist zwar Geschichte, doch als Geschichte einfach nicht totzukriegen, sie bleibt ein Dorn im Fleische des deutschen Großkapitals und seines Staates. Umso mehr hat die Linke Grund, an sie zu erinnern und ihrer Verunglimpfung entgegenzutreten. Die nun Jahrzehnte andauernde „Delegitimierung“ hat den gleichen Zweck wie ihre Vorgängerkampagnen, die sozialistische DDR allseitig zu verteufeln, um künftig jede wirkliche Alternative zum Kapitalismus praktisch auszuschließen und theoretisch undenkbar zu machen.

Umgeben von den Müllbergen dieser Geschichtsfälschung ist es herzerfrischend, Prokops quellenbezogene, sachliche und problemorientierte Studien zu lesen. Der Autor wendet sich gegen das verbreitete Konzept, die Geschichte der DDR als Vorgeschichte ihres Endes nach dem Muster eines „Abstiegs auf Raten“ zu schreiben, womit weder die Genesis noch die Stabilität der DDR und erst recht nicht ihr Untergang zu begreifen und zu erklären sind.

Der Autor ist in doppeltem Sinne ein DDR-Historiker, einmal als in der DDR lebender und wirkender und nach deren Ende sofort abgewickelter Historiker; zweitens als ein Forscher, der sich schon in der DDR professionell mit ihrer Geschichte beschäftigt hat. Die rund zwei Dutzend Studien behandeln heterogene Probleme und Gegenstände, von der Gründung der DDR über den 17. Juni 1953 bis zu den Umständen der Entscheidung für den Mauerbau 1961, von der Genesis der Nationalhymne der DDR und der Abfolge der Parteiprogramme der SED bis zur Wirtschaftsentwicklung und dem neuen ökonomischen System und zu den Parteiprogrammen der SED. Alle Studien werden hier erstmalig veröffentlicht.

Die beiden historisch interessantesten Studien behandeln die Rolle und den Anteil der sowjetischen Politik an der Genesis des 17. Juni 1953 und die unmittelbare Vorgeschichte der Entscheidung Nikita Chruschtschows über den Mauerbau in Berlin 1961.

In seiner Untersuchung zu den Ursachen der Krise der DDR von Ende 1952 bis zum Sommer 1953 behandelt Prokop ausführlich die Zusammenhänge zwischen der sowjetischen Deutschlandpolitik nach Stalins Tod gegenüber der DDR und den verheerenden Wirkungen des direkten, blockierenden sowjetischen Eingreifens in die Versuche der SED-Führung, geeignete Schritte zur Überwindung der Krise einzuleiten. Prokop beleuchtet auf der Basis der einbezogenen Quellen die bisherige Literatur zum Gegenstand neu und erweitert die Problemsicht erheblich.

Nicht weniger interessant ist Prokops Studie zur unmittelbaren Vorgeschichte der Sicherung der Staatsgrenze der DDR nach Westberlin, weil sie umfassend die damals zwischen der UdSSR und den USA ventilierten Alternativen, nämlich einen von Chruschtschow öffentlich angefügten Friedensvertrag mit der DDR und eine Kontrolle der Verbindungswege der westlichen Alliierten von und nach Westberlin – trotz einer Verständigung der Sowjetunion mit den USA – nicht zum Tragen kamen, so dass nach der Sicherung der Staatsgrenze der DDR diese zwar eine Mauer, aber keinen Friedensvertrag hatte. Die diplomatischen Stränge der Vorgeschichte der allein von Chruschtschow getroffenen Entscheidung, die DDR-Staatsgrenze unter Kontrolle zu nehmen, wird von Prokop ausführlich und quellengestützt behandelt, es gibt keine dieser Studie vergleichbare weitere Abhandlung.

Das Spektrum der zwei Dutzend Studien weist mehrere Dimensionen auf, die quer zu den heterogenen Gegenständen stehen und sie jeweils im Längsschnitt strukturieren. Die wichtigste Dimension betrifft die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der DDR, zu der Prokop viele neue, oft verblüffende und nicht selten erschreckende Einsichten vermittelt, die zeitlich von der Gründung 1949 bis zum „Verkauf“ 1989 (genauer zum Verschenken) der DDR reichen und die DDR als Dispositionsobjekt ihrer Politik zeigte, die wie eine imperialistische Großmacht verschenkte, was ihr gar nicht gehörte.

Eine zweite, mehrere Studien durchziehende Dimension der Erörterungen Prokops ist der Gegensatz von Bemühungen, Ansätzen und Erfolgen, wirtschaftliche und politische Reformen in der DDR auf den Weg zu bringen, von denen das Neue Ökonomische System der Leitung und Planung der Volkswirtschaft am bekanntesten ist, und den Bemühungen der Reformgegner in der DDR um Honecker und ihrer Hintermänner um Breshnew, die geglückten und die steckengebliebenen Reformversuche zu blockieren bzw. zurückzunehmen.

Prokop differenziert zwischen vier verschiedenen Phasen der Geschichte der DDR von 1945 bis 1989, die alle einer eigenen gründlichen Analyse bedürften. Er selbst konzentriert sich dabei auf die Phasen der Ulbricht- und der Honecker-Ära, ohne sie jedoch pauschal als Aufstiegs- bzw. Abstiegsphase zu vereinseitigen. Dennoch steht der Gegensatz zwischen der Reformfreudigkeit des späten Ulbricht und der Reformgegnerschaft der Honecker-Gruppe im Zentrum seiner Studien.

Es ist unübersehbar, dass Prokop sich hinsichtlich der nationalen Frage und ihrer Spezifik in der Politik von Ulbricht und Honecker entscheidend von Wolfgang Harichs nationaler Konzeption beeinflusst zeigt, dessen Nachfolge als Vorsitzender der Alternativen Enquête-Kommission er nach Harichs Tod 1995 übernahm.

Es wäre natürlich überzogen, von einem Studienband zu erwarten, was nur eine Reihe von Monographien hinsichtlich der systematischen Analyse der DDR-Gesellschaft, ihrer Geschichte, ihres Staates und ihrer Entwicklungsprobleme leisten könnte. Dessen ungeachtet sind Prokops Studien anregend und ein wichtiges Korrektiv, von dem man wünschen möchte, sie zu weiteren Gegenstandsbereichen fortzuführen und zu erweitern.

Werner Röhr

„Krieg der Erinnerungen“ – Kampf um die Geschichte

Jörg Wollenberg, Krieg der Erinnerungen von Ahrensbök über New York nach Auschwitz und zurück. Eine Spurensuche, Bd. I, Sujet Verlag, Bremen 2016, 313 S., 40,00 Euro; Die andere Erinnerung. Spurensicherung eines widerständigen Grenzgängers. Eine Spurensuche, Bd. II, Sujet Verlag, Bremen 2017, 356 S.; m. e. DVD als Ergänzung zu Bd. I u. II, 356 S., 50,00 Euro.

Der Buchtitel „Krieg der Erinnerungen“ findet seine Erklärung darin, dass sich der Autor vor allem auf jene Felder historischen Geschehens begibt, die in besonderem Maße „Deutungskämpfen“ ausgesetzt sind. Dabei greift er viele geschichtliche Vorkommnisse auf und vermittelt zahlreiche Tatsachen, die im Mainstream wenig Beachtung finden oder bewusst verdrängt werden. Es geht ihm also nicht nur um Erforschung und Darstellung neuralgischer Ereignisse, sondern immer auch um deren Behandeln oder Verschweigen durch die vorherrschende Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur. Ahrensbök ist der Ort seiner Geburt und seiner frühen Jahre. New York ist die Stadt, in der er gute Freunde hat und wo er den Spuren der Holocaustopfer wie auch der Überlebenden von Auschwitz nachgegangen ist. Dies erklärt den Titel dieser einzigartigen Kollektion von Arbeiten unterschiedlichen Charakters, in der eigene Texte (teils bisher nur verstreut zu finden, teils unveröffentlicht geblieben oder eigens für diese Publikation verfasst), faksimilierte Dokumente sowie Illustrationen, Karten, Tabellen vereinigt sind. Dass bestimmte Argumentationslinien und Zitate vom Verf. zu verschiedenen Anlässen eingesetzt wurden, sollte niemanden irritieren, zumal Wollenberg selbst auf solche Wiederholungen hingewiesen hat. Vor dem Leser tut sich das wissenschaftlich-literarische Lebenswerk Wollenbergs auf, verbunden mit aufschlussreichen autobiografischen Auskünften über den nunmehr Achtzigjährigen. Seine Spurensuchen ließen ihn zugleich zum Sammler bibliophiler Raritäten, wertvoller Überlieferungen der Arbeiterbewegung in all ihren Facetten und des antifaschistischen Widerstandes werden wie auch von Zeugnissen ihrer Gegner.

Für den Leser empfiehlt es sich, als Einstieg zunächst das von Karl-Heinz-Roth verfasste, in Bd. II enthaltene Vorwort zu lesen, das uns Prägungen, Werdegang und Intentionen des Autors – eines Vertreters der „Generation der Kinder der NS-Täter“ – (7) vorstellt und im Schaffen Wollenbergs die „Synthese von Forschung, von pädagogischem Impuls und politischer Publizistik“ (9) hervorhebt. Dem sollte der ebenfalls im zweiten Bd. enthaltene Beitrag „Die andere Erinnerung und die Grenzen der Wahrheitsfindung“ folgen, der einen Einblick in die politische und wissenschaftliche Sozialisation des Autors und seinen Weg der Erkenntnis (in Auseinandersetzung mit seinen akademischen Lehrern) gewährt.

Was Wollenberg auszeichnet und bereits in Bd. I deutlich hervortritt, ist seine engagierte, subtile Arbeitsweise. Er schöpft nicht nur aus der Literatur, er hat sich nicht nur Archive erschlossen, er war auch immer bemüht, vor Ort den Spuren nachzugehen und Zeitzeugen aufzuspüren. So sind seine Texte prall mit Fakten gefüllt, was hier im Einzelnen gar nicht gewürdigt werden kann. Mitunter vielleicht mit Namen, Fakten, Bezügen und Querverbindungen zu überquellend für den Leser. Entsprechend vielseitig sind auch die Formen der Umsetzung seiner Forschungsergebnisse, die oft in Länder übergreifenden Partnerschaften entstanden sind. Neben selbständigen Publikationen hat er immer auch Presse und Funk als Mittler genutzt. Er hat Vorträge gehalten, Konferenzen und Gesprächsrunden organisiert, zahlreiche Ausstellungen initiiert und neue Techniken wie das Video genutzt. Der Anhang im ersten Band legt mit der dort enthaltenen Bibliografie, der Auflistung von Ausstellungen, szenischen Dokumentationen, Rundfunksendungen und Filmen, Vorträgen und Kongressreferaten, Forschungsprojekten sowie einem Verzeichnis seiner Lehrtätigkeit hiervon ein beredtes Zeugnis ab. Bd. II ist eine DVD beigegeben, die Film-Videos, Radiosendungen, Ausstellungen und weitere Texte enthält und die von Wollenberg und seinen Kollegen eingesetzten Instrumentarien anschaulich nachvollziehen lässt. Hervorgehoben seien hier besonders die gefilmten Berichte Bremer Arbeiterveteranen und antifaschistischen Widerstandskämpfer.

Im erwähnten Anhang finden sich auch biografische Daten des Autors, die der Leser als Einstieg zur Kenntnis nehmen sollte, weil sich dadurch das Gesamtwerk besser erschließt. Im Telegrammstil: 1937 in Ahrensbök geboren wurde er als Volksschüler 1945 Zeuge des in Neuglasau endenden Todesmarsches von Auschwitzhäftlingen. In Lübeck besuchte er die Oberschule; in Hamburg und Göttingen studierte er Geschichte, Germanistik und Philosophie. Wie ein spezieller Beitrag belegt, hat sich vor allem am Historischen Colloquium in Göttingen, einer „selbstverwalteten Wohn- und Lerngemeinschaft“ (56), in der er zahlreichen Historikern der Bundesrepublik begegnet ist, sein geistiger Horizont erweitert. Ein Promotionsstipendium ermöglichte es ihm, Studien in Paris zu treiben; 1975 promovierte er in Göttingen mit einer Dissertation über „Kirche und Staat im Frankreich Richelieus“. Seit 1964 – nach Ablegung des 1. Staatsexamens – war er in verschiedenen Bereichen vor allem in der Erwachsenenbildung tätig, wo er auf so manchen Feldern Pionierarbeit leistete. Von 1992 bis zu seinem Ruhestand im Mai 2002 lehrte er an der Universität Bremen. In den letzten beiden Jahrzehnten entstanden seine wichtigsten und umfassendsten historischen Arbeiten.

Soviel zu Charakter und Machart dieser Publikation und zum Lebensweg ihres Autors. Was aber erwartet den Leser an inhaltlichen historisch-politischen Erträgen und Aussagen? Beiträge aus vier Jahrzehnten eines forschenden und lehrenden Historikers, von denen er selbst sagte, dass sie sein „geschichtspolitisches und pädagogisches Engagement“ dokumentieren (8).

Band I wird eröffnet mit Berichten und Tagebuchaufzeichnungen über einen Aufenthalt in New York 2001 und seine Teilnahme an der 25. Jahrestagung der German Studies Association. Hier finden wir nicht nur einprägsame Schilderungen, wie es in New York kurz nach der terroristischen Attacke auf das World Trade Center aussah, sondern auch die besorgte Reaktion des Autors auf die Kriegsdrohungen von Präsident Georg W. Bush. Vor allem aber hat er Impressionen seiner Begegnungen mit vertrauten Freunden und Partnern seiner Projekte festgehalten.

Als nächstes rückt seine Geburtsstadt Ahrensbök ins Blickfeld. Er nennt den Ort seiner Kindheit eine „Hochburg der Hitlerbewegung als Probebühne des ‚Dritten Reiches‘“ (26). Seine eigenen Erinnerungen stellt er die Lebenslügen der Kriegsgeneration nach 1945 gegenüber. Mit einer selbständigen Publikation, seinem Engagement für die Einrichtung eines Museums und zahlreichen aufklärenden Veranstaltungen und Initiativen hat er persönlich viel dazu beigetragen, um den Verdrängungen der Vergangenheit entgegenzuwirken. Gerade dieser Beitrag und ein Bericht über seine Erfahrungen als Oberschüler in Lübeck lassen uns verstehen, weshalb der weitere Lebensweg des Autors durch antifaschistische und sozialistische Überzeugungen bestimmt wurde.

Dass diese kritische Sicht den eigenen Vater nicht ausnimmt, belegt die nächste Rubrik. Angeregt durch die Spurensuche nach der Rolle von Fritz Wollenberg als Leiter der Kontore und Betriebe der Zentralhandelsgesellschaft Ost Außenstelle Kobryn – geht der Autor der verbrecherischen deutschen Besatzungspolitik nach und belegt die Ausplünderung der besetzten Ukraine. Und wiederum empört ihn, dass die Beteiligung an diesen Untaten für die Mehrzahl der Täter in der BRD folgenlos blieb. Auch in diesem Falle hat der Autor am Tatort geforscht und Reisen nach Kiew, Charkow und Minsk unternommen.

Weitere Beiträge befassen sich ebenfalls mit der aggressiven Ostexpansion des deutschen Imperialismus und dem Mittun hanseatischer Unternehmer. Ironie der Geschichte: Die Altvorderen mancher Leute, die sich derzeit besonders lautstark über die russische Annexion der Krim empören, waren selbst im Gange, um die Krim dem Deutschen Reich einzuverleiben. Dazu wurden sogar rassistisch eingestellte Archäologen in Marsch gesetzt, die hierfür pseudowissenschaftliche Argumente lieferten.

Der nächste Komplex, in dem auch Beiträge von Walter Fabian Aufnahme gefunden haben, ist dem schwierigen deutsch-polnischen Verhältnis gewidmet. Wird auch tief in die Geschichte zurückgegangen und wird auch die russische beziehungsweise sowjetische Schuld an den Leiden des polnischen Volkes nicht ausgespart, so bleibt doch der den zweiten Weltkrieg auslösende Überfall des faschistischen Deutschen Reiches auf Polen für ihn das zu brandmarkende zentrale Ereignis. Besonderes Interesse verdienen jene Texte, die Auskünfte über die Erfahrungen geben, die der Autor in persönlichen Kontakten mit Vertretern der Solidarność und anderen polnischen Politikern und Wissenschaftlern sammelte. Sie bezeugen, dass ihm von Anfang an die Heterogenität dieser Bewegung und die Gefahr ihres Abgleitens in eine nationalistische, prokapitalistische Richtung nicht verborgen geblieben sind.

Auch im Folgenden werden W.s Reisen dokumentiert, bei denen sich immer Kontakte zu Gleichgesinnten, Studium der realen Verhältnisse, Erfahrungsaustausch über das Bildungswesen und historische Spurensuche mit einander verbinden. Die DDR, die CSSR, Kuba und sehr ausführlich Spanien waren die Ziele solcher Reisen. Vor allem mit seinen DDR-Besuchen geriet Wollenberg sowohl ins Visier des Ministeriums der Staatssicherheit der DDR als auch des Verfassungsschutzes der BRD.

Dem Bereich der Bildungsarbeit entstammen weitere Arbeiten, wobei Leben und Werk Rosa Luxemburgs, die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht und andere Beiträge zur Abrechnung mit der faschistischen Vergangenheit und deren Exponenten einen besonderen Platz einnehmen. Dies mündet ein in Studien, die sich mit der Rolle der Konzentrations- und Vernichtungslager, mit den Überlebensstrategien der Häftlinge, einschließlich – und hier liegt ein spezielles Verdienst von Wollenberg – ihrer kulturellen Aktivitäten beschäftigen. „Goethe in Dachau und Sachsenhausen, Beethoven in Auschwitz und Mozart in Buchenwald, Operette in Ravensbrück und Kulturwerkstätten in Theresienstadt“ lautet hier die vielversprechende Überschrift.

Auch Band II durchzieht die Aufdeckung der Naziverbrechen, den Alltag der Judenverfolgung und Umgang mit Taten und Tätern in der BRD und deren Folgen bis heute. Doch sein kritischer Blick richtet sich auch auf Praktiken und Versäumnisse der DDR, ohne diese mit der Schlussstrich-Mentalität der Bundesrepublik auf eine Stufe zu stellen. Zahlreiche Zeugnisse belegen die strukturellen, personellen und ideellen Kontinuitätslinien aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg über die Weimarer Republik zur faschistischen Diktatur und von dort in die BRD. So werden auch Erklärungen für antisemitische, rassistische und antidemokratische Verhaltensweisen angeboten, im Alltag die persönliche Bereicherung und der Karrieredrang der „Arisierungsgewinner“ nachgewiesen. Er ist auch der diffizilen Problematik der „roten Kapos“ nicht ausgewichen, wozu er differenzierende Wertungen anbietet und davor warnt, die grundsätzliche Unterscheidung zwischen den eigentlichen Tätern und ihren Opfern nicht preiszugeben. Nachgewiesen werden die Einbindung der Wehrmacht (einschließlich führender Vertreter der Verschwörung des 20. Juli“) in die Kriegsverbrechen, der Wirtschaftsbosse in die Ausplünderung und unmenschliche Ausbeutung. Das verbindet sich mit Polemik gegen die Verharmloser wie Götz Aly, Christopher Clark und andere. Nicht zuletzt die polemischen Repliken zeugen zugleich von Wollenbergs großer Belesenheit.

Eine beträchtliche Anzahl der Beiträge ist Personen gewidmet oder ranken sich um das Wirken von Personen, die ihn als Streiter für Demokratie und sozialen Fortschritt besonders beeindruckt haben, die er als seine Mentoren oder Wegbegleiter würdigt: Willy Brandt, Hermann Brill, Walter Fabian, Hellmut von Gerlach, Arno Klönne, Hermann Glaser, Ada und Theodor Lessing, Peter Weiss – um nur einige nennen. Ihn beschäftigte indes auch die Biografik jener Leute, die nicht in den Kreis bekannter Repräsentanten vorgestoßen sind. Das verbindet sich mit Erörterungen zu kollektivbiografischen Problemen, zur Methodologie der Erforschung bestimmter Kohorten von Arbeiterpersönlichkeiten und deren Typologisierung. Die überbordende Zahl der in beiden Bänden erwähnten Personen lässt ein Namensregister schmerzlich vermissen.

Erstaunlich ist, dass der Autor zwar in unterschiedlichsten Zusammenhängen Verbindungen zum Anschluss der ostdeutschen Bundesländer an die Bundesrepublik und zur politischen und geistigen Situation im neuvereinten Deutschland herstellt, dass er aber die „Wende“, die Vereinnahmungspolitik und deren Folgen nicht als eigenständigen Gegenstand thematisiert hat.

Ein spezielles Tätigkeitsfeld Wollenbergs, das sich besonders im letzten Teil des II. Bandes widerspiegelt, ist die Erwachsenenbildung. Vor allem als Leiter des Bildungsamtes der Stadt Nürnberg bot sich ihm Gelegenheit Neues in der Vermittlung von Wissen und Überzeugungen auszuprobieren, wobei er die Nähe zu Gewerkschaften und Betriebsräten suchte und deren Kämpfe in Wort und Bild thematisierte. Mithin hatte er sich auch des Vorwurfs der „Linkslastigkeit“ zu erwehren (300). Neben konkreten Bildungsprojekten beschäftigte ihn immer auch die Pädagogik der Erwachsenenbildung. Das hat sich in mehreren Vorträgen und Publikationen niedergeschlagen, in denen uns Methodisches und Didaktisches indes nie losgelöst von inhaltlichen Thematiken entgegentritt.

Das Hauptbetätigungsfeld Wollenbergs war und ist jedoch Bremen, weshalb der deutsche Norden in besonderem Maße als Geschichtsregion begegnet. Mit dem letzten Beitrag beider Bände kehrt Wollenberg nochmals zur Thematik seiner Dissertation zurück, die sich mit Kirche und Staat im Frankreich Richelieus befasst hatte und geht der Frage nach, welche Bezüge sich zwischen Richelieus Ansichten und dem Konzept eines Systems europäischer Sicherheit erkennen lassen.

Von der ersten bis zur letzten Seite dieses Monumentalwerkes werden sich wohl nicht allzu viele Leser durcharbeiten. Die beiden Bände lassen sich eher als Fundgrube für breitgefächerte Interessen und Informationsbedürfnisse, zur Bereicherung eigenen Wissens und als Quellenfundus nutzen, zumal die ergiebigen Illustrationen, für deren Präsentation den Buchgestaltern hohes Lob gebührt, immer wieder zum Lesen anregen.

Günter Benser

„Fassadendemokratien“

Ulrich Mies/Jens Wernicke (Hrsg.), Fassadendemokratie und Tiefer Staat. Auf dem Weg in ein autoritäres Zeitalter, Wien 2017, Promedia Verlag, 271 S., 19,90 Euro

Ob Crouchs „Postdemokratie“, Blühdorns „Simulative Demokratie“ oder nun die „Fassadendemokratie“: Alle aufgezählten demokratietheoretischen Betrachtungen stellen einen Krisenzustand der westlichen Demokratien fest. Kern der vorliegenden Diagnose ist, dass das „Ende der Demokratie […] wie wir sie kennen […] aus Sicht der Herausgeber längst eingetreten“ sei. Gemeint sind damit die bürgerlich-liberalen Demokratien des Westens. Politische Entscheidungen würden nicht auf öffentlicher Bühne, unter Einbezug des Demos, sondern in einem „Tiefen“ oder auch „Dunklen“ Staat gefällt. Konkret setzen sich die Herausgeber des Sammelbandes das Ziel, die Substanz dessen zu betrachten, was den „Tiefen Staat“ umfasst, und seine Wirkungszusammenhänge zu beleuchten. Der Sammelband setzt sich aus drei Teilen zusammen: „Die wahren Herrscher“, „Elemente des Tiefen Staates“ sowie „Geopolitik und Krieg“.

Einer der Autoren, der inzwischen verstorbene Bernd Hamm, dem dieses Buch gewidmet ist, leitet den ersten Teil ein und stellt den „Tiefen Staat“ als ein „Konglomerat aus Ministerien, Behörden, Politikern, Rüstungsindustrie, den Geheimdiensten, privatisierter Sicherheitsindustrie, Kontraktfirmen und Lobbyisten“ sowie als Klassenprojekt von oben dar, innerhalb dessen sich verschiedene Klassenfraktionen am gemeinsamen Projekt einer Eliminierung demokratischer Auseinandersetzung abarbeiten. Wie Hamm kontextualisieren auch weitere Autoren die Transformation der Demokratie als Erscheinungsform eines deregulierten Kapitalismus: Rainer Mausfeld sieht in der Fassadendemokratie die „Extremform“ eines autoritären Kapitalismus und Ulrich Mies diese als Folge marktradikalen Agierens der herrschenden Eliten. Jochen Krautz untersucht die grundsätzliche Frage, wie es dem Regime des „Tiefen Staates“ gelingt, die Menschen durch Bildungsapparate so zu beeinflussen, dass sie nicht gegen die defizitären demokratischen Strukturen rebellieren. Er nennt diesbezüglich die Ökonomisierung des Bildungssektors sowie die damit einhergehende Atomisierung des Einzelnen im Geiste des „Homo Oeconomicus“ als maßgeblich.

Im zweiten Teil des Sammelbandes betrachtet zunächst Mike Lofgren aus seiner Perspektive als ehemaliger Mitarbeiter des US-Kongresses die Zusammenhänge des „Tiefen Staates“ in den USA anhand der fehlenden demokratischen Legitimation maßgeblicher innen- und außen- sowie wirtschaftspolitischer Entscheidungen, welche in Kooperation mit Geheimdiensten, der Wall Street und großen Konzernen gefällt und umgesetzt würden. Werner Rügemer diagnostiziert schließlich, dass vielen EU-Staaten diese Entwicklungen als Vorbild gedient hätten, und mehr noch: Die USA hätten u.a. durch den Einfluss des IWF initiiert, dass viele Staaten ebenfalls eine Deregulierung und Zurückdrängung des öffentlichen Sektors einleiteten. Hermann Ploppa legt konkrete Beispiele der „Amerikanisierung“ deutscher Politik dar. Den Einfluss auf die skizzierte Entwicklung hätten die USA, so Ernst Wolff, durch die Etablierung einer „kriminellen“ Finanzordnung realisiert, um die Vorherrschaft der USA im internationalen Geschehen zu sichern. Außerdem betrachtet Andreas Wehr die demokratietheoretischen Defizite der EU-Strukturen anhand des EU-Parlaments als „Scheinparlament“. Wolf Wetzel umreißt die Kollaboration des Staates mit rechten Strukturen und kriminellen Machenschaften von ökonomischen Eliten. Hansgeorg Hermann skizziert die Vorgehensweise der französischen Regierung in Folge der Anschläge im Jahr 2015, um Grund- und Bürgerechte über längere Zeit außer Kraft zu setzen. Politischer Widerstand werde so durch staatliche Gewalt obstruiert.

Der dritte Teil widmet sich geopolitischen Strategien des Westens. So charakterisiert Rainer Rupp die Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit auf die Wahl Trumps als Bedenken, die neoliberale Weltordnung könne angetastet werden. Jörg Becker akzentuiert u.a. in diesem Kontext die manipulierende Vorgehensweise von PR-Agenturen sowie meinungsbildenden Presseinstituten und Hannes Hofbauer die Stilisierung Russlands als Feindbild zur Legitimierung geostrategischer Interessen des Westens. Daniele Ganser stellt in diesem Zusammenhang Beispiele militärischer und terroristischer Aktionen des Westens vor. Hinsichtlich der Kriegspolitik einiger EU-Mitgliedsstaaten fordert Jürgen Rose eine zur Neutralität verpflichtete gemeinsame EU-Außen- und Sicherheitspolitik.

Die Leistung des Sammelbandes liegt v.a. in dem Anstoß, die Terminologie und Zusammenhänge des „Tiefen Staates“ im deutschsprachigen Raum voranzutreiben. Kritische Demokratietheorie kann sich ggf. anhand dieser Terminologie daran versuchen, die Funktionsweisen der politischen Arena fernab der demokratischen Kontrolle und Legitimation zu beleuchten. Einen Anschluss an demokratietheoretische Debatten hätte sich das Buch erleichtert, wenn es die bereits vorliegenden Krisendiagnosen verarbeitet und diskutiert hätte. Marxistische Analysekriterien, welche die Wirkungsweise des Kapitalismus auf die bürgerlich-liberalen Demokratie darlegen, sind kaum anzutreffen. Außerdem stoßen die nur bedingt wissenschaftlichen Kriterien genügenden Aufsätze, die eher essayistischen Stil vorweisen, mit Sicherheit nicht nur kontroverse Auseinandersetzungen an, weil sie im Wesentlichen die politischen Kräfte der USA als maßgeblich für den Niedergang der westlichen Demokratien herausstellen. Auch die Forderung Rainer Rupps, dass die gesellschaftliche Linke die „positiven Ansätze von Trump wahrzunehmen“ habe, oder das Plädoyer Roses für eine De-Militarisierung der EU werden nicht in allen Lagern Anschluss finden.

Dominik Feldmann

Westlicher Expansionismus und Kriegsgefahr

Michael Lüders, Die den Sturm ernten. Wie der Westen Syrien ins Chaos stürzte. Verlag C. H. Beck. München 2017, 176 S., 14,95 Euro

Jürgen Wagner, NATO Aufmarsch gegen Russland oder wie ein neuer Kalter Krieg entfacht wird. 2. aktualisierte Auflage, edition berolina, Berlin 2017, 224 S., 9,99 Euro

Es handelt sich hier um zwei Bücher, die vom Titel und dem Focus ihrer Untersuchungen auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Dennoch besteht ein Zusammenhang: Das Vorrücken des seit Ende des Kalten Krieges von 16 auf 28 Mitgliedstaaten gewachsenen westlichen Militärbündnisses und die wachsende Konfrontation zwischen dem Westen und Russland im Krieg in und um Syrien bergen das Potenzial einer in militärische Konfrontation abgleitenden Eskalation. Treffend nennt Lüders (167) den Konflikt in Syrien einen Stellvertreterkrieg zwischen Washington und Moskau und verweist darauf, dass die wachsende Feindseligkeit der USA gegen Russland vordergründig zwar nichts mit Syrien zu tun zu haben scheint, dass aber hier durchaus ein Zusammenhang zu bestehen scheint. Auch Wagner sieht in der außenpolitischen Strategie der neuen US-Administration keineswegs jene hinter dem Slogan „America first“ vermutete isolationistische Tendenz, sondern schließt aus Grundsatzerklärungen der engsten Berater des Präsidenten, dass ein neuerlicher großer Krieg im Nahen Osten in das Planungsspektrum einbezogen wird (191 -193). In beiden Fällen wäre Russland der Hauptgegner.

Das hier thematisierte Buch von Michael Lüders ist zu verstehen als die konsequente, auch im Titel deutlich werdende Fortsetzung einer Analyse, die unter dem Titel „Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet“ (München 2015) erschien. Ganz in diesem Sinne sieht er vor allem in der Politik der USA eine Kontinuität. Diese Politik des Westens, damals betrieben von Großbritannien und Frankreich, beginnt für ihn – zutreffend – schon im 19. Jh. und findet ihren Höhepunkt in der Aufteilung des osmanischen Reiches nach dem 1. Weltkrieg durch die imperialistischen Mächte. Nach dem 2. Weltkrieg begannen die USA ihre massive Einmischung in die inneren Angelegenheiten der ölreichen nahöstlichen Staaten, organisierten und unterstützten oder bekämpften die dortigen meist aus Militärputschen resultierenden Regime.

Aufgrund seiner geostrategische Lage und des (teilweise über Planungen nicht hinausgekommenen) Baus von Pipelines aus Iran und Qatar geriet Syrien schon früh ins Fadenkreuz der US-Interessen. Dass zumindest von Hillary Clinton der Sturz Assads auch als Hilfsleistung an Israel verstanden wurde, mag ein weiteres Motiv für den Willen zum regime change in Damaskus gewesen sein. Lüders belegt, wie die Revolten des „Arabischen Frühlings“ schon sehr früh benutzt wurden, um einen solchen Prozess einzuleiten. Er bestand darin, aufständische Gruppen zu unterstützen, egal welcher Provenienz sie waren. Der Schulterschluss mit den Despotien am Golf führte schon 2011 dazu, dass Waffen und Gerät ebenso an diese Banden geliefert wurden, wie auch viele tausend Djihadisten großen Teils aus Libyen über die Türkei geschleust wurden. All dies bestätigt die von der Assad-Regierung von Anfang an vertretene These, dass es sich in Syrien weniger um einen Volksaufstand, als um den Kampf vom Ausland finanzierter Terroristen handele. Konsequent kommt Lüders zu dem Schluss: „Die Alternative zu Assad lautet nicht ‚Zivilgesellschaft’, sondern Machübernahme der Dschihadisten.“ (143). Die von Lüders recherchierten Fakten und Zusammenhänge belegen auch, dass die wieder und wieder dem Regime Assads zugeschriebenen Giftgasangriffe wohl eher terroristischen Gruppen wie der mit al-Qa’eda verbundenen Nusra-Front zuzuschreiben sind, wie überhaupt die Berichterstattung zu diesem Krieg einseitig und propagandistisch gegen das Regime in Damaskus ausgerichtet ist, den Krieg selbst und die dahinter liegenden Interessen nicht thematisiert, die offenen und verdeckten Operationen des Westens verschweigt oder beschönigt und die von außen finanzierten und gesteuerten Gewaltakteure keusch unter dem Begriff „Rebellen“ zusammenfasst.

Jürgen Wagner verfolgt konsequent einen polit-ökonomischen Ansatz, indem er die Untersuchung des „Aufmarschs der NATO gegen Russland“ nicht auf seine politische und militärische Dimension beschränkt, sondern ökonomische Interessen auch als Motive für militärisches Handelns bei der globalen Durchsetzung des Neoliberalismus benennt. Dies exemplifiziert er am (völkerrechtswidrigen) Krieg gegen Jugoslawien (32), in der Analyse der Zusammenhänge zwischen dem geopolitischen Sinn des transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP und dessen letztlich militärischer Absicherung (184ff.). Die Analyse dieser Zusammenhänge gipfelt in einer Diskussion über die konkurrierenden weltwirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen, die sich aus den Herausforderungen des dezidiert gegen den Neoliberalismus gerichteten Zusammenschlusses der BRICS-Staaten ergeben.

Sicher haften der Analyse Wagners Unwägbarkeiten an, ist das Buch doch gewissermaßen auch als der Versuch zu sehen, die bestimmenden Faktoren der US-Außenpolitik unter dem neuen, oft erratisch erscheinenden Präsidenten Trump zu analysieren. So ist es dann wenig erstaunlich, dass diese Untersuchung eher die Kontinuitäten US-amerikanischer Politik unterstreicht, statt auf die möglicherweise mit der Person des neuen Präsidenten verbundenen Unwägbarkeiten einzugehen – und die seit dem Erscheinen des Buches verflossene Zeit gibt ihm Recht.

Systematisch arbeitet der Verfasser die Regionen und Ebenen der neuen, durch die expansive Strategie der NATO entstandenen Konfrontationsebenen ab, an deren erster Stelle die Ukraine-Krise steht, zu denen jedoch auch die NATO-Südflanke gehört – ebenso wie die ressourcenreiche Arktis und neue Formen der Kriegsführung wie der Cyber-War. Eine besondere Stärke dieses Buches liegt darin, dass es sich nicht auf die NATO und ihre Drohpolitik gegen Russland beschränkt, sondern detailliert auf die Verschiebung der Kräfteverhältnisse im neoliberalen Westen eingeht. Hier ist es besonders verdienstvoll, dass Wagner den Aufstieg der EU und in dieser vor allem Deutschlands thematisiert, das als stärkste ökonomische Macht immer deutlicher an deren Spitze agiert. Auch darf nicht übersehen werden, dass die EU selbst sich (Art. 42 Lissabon-Vertrag) als Militärmacht definiert. Hier kommt deutscher Politik der Brexit voll entgegen, verstand sich doch Großbritannien immer als Sachwalter US-amerikanischer Interessen, die mit denen des aufsteigenden Deutschlands zunehmend divergieren. Der deutsche Applaus für die auf dem NATO-Gipfel in Wales 2014 beschlossene Erhöhung des Rüstungsetats der Mitgliedstaaten auf 2 Prozent des BIP wird so mehr als verständlich: Deutschland wird nicht nur in der NATO wichtiger, es sichert auch seine (auch militärische) Führungsposition in der EU. Die jüngst vom französischen Präsidenten Macron vorgelegten diesbezüglichen Reformvorschläge für die EU dürften in Berlin auf begeisterte Zustimmung stoßen.

Wagner belegt seine Analyse mit einer Vielzahl von Zitaten aus den Studien von einschlägigen Think-Tanks und hochrangigen Politikberatern. Dabei erfolgt die deutsche militärpolitische Offensive unter dem so demütig erscheinenden Begriff der „Verantwortung“, wie er vom damaligen Bundespräsidenten Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz vorgetragen wurde. Das Tanzen auf zwei Hochzeiten – der NATO und der sich militarisierenden EU – erscheint so durchaus nicht als Widerspruch, sondern als komplementäre Strategie, die für Deutschland eine win-win-Situation als gestärkte Macht in der NATO und als Führungsmacht in der EU ergibt. Dass sich dahinter die große Gefahr der Schaffung einer neuen Kalte-Kriegs-Situation verbirgt, ist das geradezu zwangsläufige Ergebnis solcher Politik.

So verbindet die beiden hier kurz vorgestellten Studien ein weiteres: Jede zeigt auf ihrem jeweils sehr unterschiedlichen Feld, wie sehr die Durchsetzung kurzfristiger Machtinteressen unter Verwendung aller möglichen und zunehmend völkerrechtwidrigen Mittel eines vor allem nicht zu erreichen mag: friedlichere Verhältnisse zu schaffen. Interventionismus, auch wenn er durch Subunternehmer betrieben wird, die stets die Gefahr bergen, außer Kontrolle zu geraten, wachsende Aufrüstung und der Aufbau militärischer Drohkulissen führen genau zum Gegenteil der stets behaupteten Sicherheit: Kriminelle Gewaltakteure (von denen der „Islamische Staat“ nur einer ist), Osterweiterung, Aufrüstung der NATO und ihr Aufmarsch an den russischen Grenzen, aber auch die Militarisierung der EU tragen eben nicht zu mehr Sicherheit bei, sondern verstärken Unsicherheit und machen Kriege einschließlich ihrer immer unabsehbareren Folgen wahrscheinlicher, wie sie auch zur Globalisierung des Terrorismus beitragen.

Werner Ruf

Migration in Lateinamerika

Raina Zimmering, Lateinamerikanische Migration und der Blick nach Europa, Potsdam, WeltTrends Verlag 2017, 140 S., 16,90 Euro

Im Kontext der aktuell gewachsenen Aufmerksamkeit gegenüber dem weltweiten Phänomen der massiven – auch internationalen – Migration und der heftigen Ausfälle (und der ersten Maßnahmen) des US-Präsidenten Donald Trump gegen lateinamerikanische (und muslimische) Migranten scheint die neue Studie von R. Zimmering hochwillkommen zu sein.

Sie konzentriert sich nach der knappen Berührung einiger theoretischer Interpretationsansätze des Phänomens „Migration“ auf die Darstellung unterschiedlicher Dimensionen und Schauplätze der lateinamerikanischen Migration nach Norden, die – wie sie unterstreicht – „als Massenerscheinung schon länger dauert als diejenige nach Europa, größere Dimensionen aufweist und deshalb für die europäische Migrationsentwicklung … Schlussfolgerungen bereithalten kann.“(15)

Im ersten größeren Kapitel (31-58) beschreibt und analysiert die Verfasserin die Fluchtursachen der Migrations- und Flüchtlingsbewegungen (wegen der großen sachlichen Überschneidungszonen nimmt sie zwischen beiden keine Differenzierung vor) aus bestimmten lateinamerikanischen Ländern bzw. Regionen, so aus Mexiko, Guatemala, Honduras, El Salvador (das sog. „Norddreieck“ Zentralamerikas) sowie aus Kolumbien recht detailliert und unterfüttert dies mit beträchtlichem empirischem und statistischem Material. Ohne die Armut großer Bevölkerungsteile, die krasse Ungleichheit und die zunehmende Umweltzerstörung als – von der neoliberalen Politik verstärkten – „Push-Faktoren“ gering zu schätzen (es werden dieser Verursachungsdimension eigene Subkapitel gewidmet), geht sie davon aus, dass staatliche und nicht-staatliche Gewalt und „Nekropolitik“ (ein Terminus, den sie vom kamerunischen Politikwissenschaftler A. Mbembe übernimmt, und der Macht über Leben und Tod gegenüber bestimmten Bevölkerungsteilen meint) der übergeordnete Faktor für Flucht und Migration aus diesen Regionen sei. Zu Recht stellt sie dazu fest, dass in einigen Ländern Lateinamerikas (wie gerade in den hier im Vordergrund stehenden) das Übermaß an Gewalt, an organisiertem Verbrechen (Drogenmafia mit Einfluss in alle Wirtschaftsbereiche), an Militarisierung gesellschaftlicher Verhältnisse sowie die weitgehende Straflosigkeit auf die enge Verflechtung von „Politikern, Drogenmafia, Wirtschaftselite, Militär und Paramilitärs“, die „zu einem Amalgam zusammengewachsen“ (sind), zurückzuführen sei, und daher „Migration und Flucht“ … „oft die einzige Überlebenschance der Betroffenen“ (32) bilde.

In einem weiteren Hauptkapitel (59-109) widmet sie sich der US-amerikanischen und der mexikanischen Flüchtlingspolitik. Sie sieht insbesondere bei der erstgenannten eine grundsätzliche Ambivalenz zwischen teilweiser Förderung der Immigration einerseits und einer restriktiven bzw. total ablehnenden Haltung gegenüber Einwanderern oder Saisonarbeitern andererseits; was durch zahlreiche Einzelfaktoren (z.B. Interesse an billiger und rechtloser Arbeitskraft versus Reservierung von Arbeitsplätzen für die einheimische Bevölkerung, politische Überlegungen, z.B. bei Kuba-Flüchtlingen u. v. a. mehr) bestimmt wird. Gleichwohl scheint die allgemeine Tendenz seit dem 11. September 2001 in einer Unterordnung der Migrationspolitik unter die angeblichen Erfordernisse der „nationalen Sicherheit“ und einer weitgehenden Militarisierung der Grenzpolitik zu bestehen. Von einer wirklichen Bekämpfung der Fluchtursachen, die verbal von Politikern postuliert wird, könne dagegen keine Rede sein.

Auch Mexikos Migrationspolitik wird – in einem anderen Sinne – als „ambivalent“ charakterisiert: insofern, als sie sich einerseits gegenüber den US-Regierungen als überaus kooperativ zeigt bei der Abschreckung und Abschottung gegenüber Migranten aus dem Süden von Mexiko (vor allem aus Zentralamerika), andererseits aber damit eine wohlwollendere Haltung der USA gegenüber mexikanischen Migranten in den USA „zu erkaufen“ trachtet. (91) Von staatlicher lateinamerikanischer Solidarität kann ebenso wenig die Rede sein wie von einer solchen bei Migranten untereinander, die z.B. in die USA gelangt sind; auch hier spielen Zeitpunkt der Migration, erreichter sozio-ökonomischer Status, Länderherkunft etc. eine oft dissoziierende Rolle.

In kurzen abschließenden Kapiteln (111-122; 122-128) stellt Zimmering Reflexionen über Widerstands- und Änderungschancen gegenüber diesen Zuständen an und verweist auf transnationale soziale Bereiche (im Grenzraum zwischen Mexiko und den USA), wo es zur „Bildung autonomer, alternativer Räume“ gekommen sei, welche „Grenzen … überwinden“ (111) und basisdemokratische und tolerante Zustände erreicht werden konnten. Hier setzt die Verfasserin auf entsprechende soziale Bewegungen, die sich von den mexikanischen „Zapatisten“ inspirieren lassen könnten. Eine alternative politisch-staatliche Entwicklung infolge einer Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Kräfteverhältnisse scheint sie dagegen nicht für möglich zu halten.

Auch wenn man mit manchen Einschätzungen nicht völlig konform gehen sollte (z.B. scheint die Aussage, dass China die „wirtschaftliche Vorherrschaft der USA in Südamerika“ übernommen habe, übertrieben und nicht zutreffend zu sein, 87f.), ist der zentrale analytische Teil in der Hauptargumentation sehr überzeugend; manche Passagen hätte man sich etwas tiefgreifender und mit genaueren Quellenangaben gewünscht, was auch für einige wenige Zahlenangaben gilt. Ungeachtet solch kleiner Schwächen ist die – die ersten Monate der Trump-Regierung einbeziehende – Studie überaus gut gelungen, informativ und sehr gut zu lesen, so dass sie für jeden/jede mit der Migration und Fluchtursachen befassten Zeitgenossen zu einer wichtigen Lektüre werden dürfte.

Dieter Boris

Psychotherapie als Lösung sozialer Probleme?

Angelika Grubner, Die Macht der Psychotherapie im Neoliberalismus – Eine Streitschrift, mandelbaum, Wien 2017, 385 S., 20,00 Euro

Heute werden alle Sphären der Existenz zunehmend wirtschaftlichen Gesichtspunkten unterworfen und entsprechend vermessen. Das neue Ideal ist der homo oeconomicus, der sich als Humankapital versteht und seine Wettbewerbsfähigkeit ständig verbessert. Damit verändert sich letztendlich das gesamte Verhältnis zwischen Normalem und Pathologischem. „Im medialen und gesellschaftlichen Mainstream (wird) jegliches menschliche, krisenhafte Geschehen, unabhängig von seiner Definition, zunehmend als psychisches Problem erklärt und in Folge einer psychotherapeutischen Behandlung zugeführt.“(8)

Ihre praktische Alltagserfahrung als Therapeutin und die staatlichen Regelungen der Gesundheitsvorsorge in Österreich lassen Grubner befürchten, dass die Psychotherapie „als institutionalisierte Lösung sozialer Probleme insgesamt installiert zu werden droht“ (11), weil „die neoliberale Ideologie in der Psychotherapie eine kompatible Partnerin gefunden hat“ (10). Mit ihrer Kritik der „eindimensionale(n) Sichtweise eines unschuldigen, machtfreien psychotherapeutischen Raumes“ (357) rennt aber die Autorin im Prinzip schon lange offenstehende Türen ein. Was sie von anderen Kritikern unterscheidet, ist ihr Ansatz, „die Psychotherapie in ihrer Verschmelzung mit dem Neoliberalismus unter einer machttheoretischen Perspektive zu beleuchten“ (356). Konkret bedeutet das: „Foucaults in ihrer Aktualität einzigartige und provokante Thesen werden dargestellt und für die Auseinandersetzung mit der Psychotherapie aufbereitet.“ (25) Mit seinem „Denken soll derart zur Auseinandersetzung eingeladen und angestachelt werden, um den Denk- und Vorstellungsraum des Psychotherapeutischen zu verschieben, zu transformieren und zu erweitern.“ (27)

Im letzten Kapitel ihrer Monographie vollzieht die Autorin dann „Denkbewegungen ..., die als Diskussions- und Streitimpulse dienen sollen. Diese sich überschneidenden und aufeinander verweisenden Überlegungen verstehen sich als Ansatzpunkte einer emanzipatorischen Psychotherapie, die über die neoliberalen Verhältnisse hinauszuweisen versucht. Vielleicht ermöglicht sie die eine oder andere Form des Widerstandes – sei es in der Generierung und Streuung von Gegenwissen oder in der Verweigerung, fragwürdige Dienstleistungen anzubieten ...“ (358)

Karl Unger

[1] Der Band enthält Beiträge des 1985 von den Zentralinstituten für Literatur und Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR in Zusammenarbeit mit den Instituten der Budapester und Moskauer Akademien der Wissenschaften veranstalteten internationalen Symposiums in Berlin. 1985 erschien auch der Verdinglichungsessay erstmals in der DDR.

[2] Es ist zu hoffen, dass der breite internationale Protest, die Aktivitäten der Lukács-Stiftung und auch das Engagement linker Bundestagsabgeordneter das Schlimmste verhindern können. Aktuell gibt es aber kaum Anlass zu großem Optimismus, obwohl Bundesaußenminister S. Gabriel in einem Schreiben vom 29. Juli 2017 an D. Dehm schreibt: „Ich teile Ihre Einschätzung, dass es sich bei dem Archiv um einen wichtigen Bestandteil der europäischen Geistesgeschichte handelt.“ Und weiterhin bekräftigt er: „Die deutsche Botschaft in Budapest steht in regelmäßigem Kontakt mit der ungarischen Akademie der Wissenschaften und bietet Unterstützung an. Die weiteren Entwicklungen werden wir selbstverständlich aufmerksam verfolgen.“

[3] Und er fügt noch hinzu: „Eine der hervorstechendsten Kontinuitätslinien im Denken von Lukács war der geschichtsphilosophische Ansatz.“ (36)

[4] Auch Jürgen Habermas und Axel Honneth und einige ihrer Schüler wie Titus Stahl haben stets die Qualität und Relevanz von Lukács‘ im Verdinglichungsessay formulierter Zeitdiagnose betont.

[5] Eine Neuausgabe des Verdinglichungsessays ist 2016 erschienen, die auch erstmals die handschriftlichen Korrekturen des Verfassers aus dem Jahr 1967 berücksichtigt (Georg Lukács, Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats. Aistheisis Verlag Bielefeld. 2016).

[6] Gegen eine reduktionistische Lukács-Rezeption hat in den letzten Jahren zumal Konstantinos Kavoulakos seine sorgsamen Rekonstruktionen von Lukács’ Frühwerk in Stellung gebracht (vgl. dazu R. Dannemann, Muss Georg Lukács’ Frühwerk neu gelesen werden? DZPhil 2015; 63. Jg.(H. 6): 1158–1168). 2018 soll seine neue Studie „Georg Lukács’s Philosophy of Praxis. Understanding his Early Marxist Work Anew, bei Bloomsbury: London und New York erscheinen. Man darf gespannt sein.

[7] Anders als inzwischen Usus lässt Hahn seinen Autor häufig selbst zu Wort kommen und überschreibt dessen Ausführungen nicht durch das Überstülpen mit aktuell beliebten Terminologien, die nicht selten die an sich sinnvolle Bemühung um die Anschließbarkeit seines Werks an gegenwärtige theoretische Diskurse dadurch erkaufen, dass der originäre Denkansatz kaum noch erkennbar wird.

[8] In Anlehnung an H.H. Holz bestimmt Hahn die Begriffe Abbildung und Widerspiegelung in präzisierender Absicht. Letztere hält gegen einen statischen Begriff von Welt an der Selbstbewegung der Materie als deren grundlegender Eigenschaft fest, was zur Folge hat, dass „auch das Mögliche als ‚Modus des realen Seins‘ (Holz)“ aufzufassen ist (112).

[9] Lukács’ mutige und gehaltvolle Verteidigung in seiner erst postum erschienen Schrift Chvostismus und Dialektik demonstriert eindrucksvoll, welche Motive er mit GuK verfolgte und auf welchem Problemniveau er in den 20er Jahren zu argumentieren verstand.

[10] L. Sziklai, Georg Lukács und seine Zeit, Budapest 1985.

[11] Zu Adornos mehr als polemischer „Würdigung“ von Lukács‘ Hegelbuch, das unter schwierigen Umständen erst 1948 in der Schweiz erscheinen konnte, vgl. D. Braunstein, S. Duckheim, Adornos Lukács. Ein Lektürebericht, in: R. Dannemann (Hg.), Lukács 2014/15, Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft, 14./ 15. Jg, Bielefeld 2015, v.a. 50ff.

[12] N. Tertulian hat 2016 eine eindrucksvolle Sammlung seiner in Rumänien begonnenen, im Exil fortgesetzten, viele Jahrzehnte währenden Lukács-Studien unter diesem Titel in den Éditions de la Maison des sciences de l‘homme publiziert.

[13] Im April dieses Jahres fand, organisiert von Michael J. Thompson und János Kelemen, in Budapest die internationale Konferenz „The Legacy of Georg Lukács“ statt, deren Größe und Qualität hinter den Veranstaltungen zum 100jährigen Jubiläum (1985) kaum zurückblieb – trotz fehlender Unterstützung von Seiten der im Heimatland des Philosophen heute hegemonialen politischen und institutionellen Autoritäten; eine Bestätigung des kanonischen Status von Lukács’ Werk innerhalb der an Weltveränderung interessierten Intellektuellen.

1 Peters Aufsatz entspricht in vielen Hinsichten den Ausführungen des der Bourdieuschen Herrschaftssoziologie gewidmeten Beitrags „Das Schweigen der Doxa“ von Gerd Wayand in dem von Peter Imbusch herausgegebenen Sammelband „Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftliche Konzeptionen und Theorien“ (1998). Ein Dialog mit diesem Aufsatz, der Bourdieus Überlegungen zur „symbolischen Gewalt“ theoriegeschichtlich bezieht auf die Traditionen des Denkens von Marx, Gramsci, Althusser und Foucault, könnte mit Sicherheit interessant sein für die weitere Konzeptualisierung des Begriffs der symbolischen Gewalt. Dass der äußerst luzide Aufsatz Wayands in der Neuauflage (2012) jenes Sammelbandes verschwunden ist und durch einen anderen ersetzt wurde, entbehrt keiner Ironie. Dies sollte nicht zuletzt erwähnt werden angesichts der lobenswerten Intention der Herausgeber, die Schriften Peters neu herauszugeben, um sie als vorbildhafte Textproduktion in der Tradition des kritischen Gesellschaftsdenkens „einem (möglicherweise eintretenden) Schatten des Vergessens zu entreißen“ (V).