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Zeitbudgets russischer Industriearbeiter 1923/24

von Gert Meyer
Juni 2018

Dieter Boris zum 75. Geburtstag

Die Geschichte der Sozialstrukturforschung reicht mit einigen ihrer zahlreichen und weitverzweigten Wurzeln weit zurück in das zaristische Russland. So hat der prominente russische Ökonom Sergej Prokopovič, im Jahr 1917 zeitweilig Minister der Provisorischen Regierung, vor dem Ersten Weltkrieg eine genaue Analyse der Haushaltsbudgets, der Einnahmen und Ausgaben, der Wohn-, Familien-, Ernährungs- und Bildungsverhältnisse sowie der Landbindungen der Industriearbeiter in der russischen Hauptstadt vorgelegt, die auch Vergleiche mit den Lebenslagen Berliner Arbeiter ermöglichte. Die Studie stellt bis heute eine wichtige historische Quelle dar (Prokopovič 1910).

Nach der Revolution hat der Arbeitsstatistiker Stanislav Gustavovič Strumilin einen originellen Forschungsweg beschritten, der weitere und tiefere Einblicke in die Strukturen und Dimensionen der Lebensweise (byt) ermöglichte als die Analyse der materiellen Faktoren der Haushaltbudgets. Strumilin erforschte das Verhältnis von Sozialstruktur und Zeitstruktur. Jeder Mensch und jede Gruppe von Menschen hinterlassen einen spezifischen Zeitabdruck, wenn sie das vorgegebene und nicht vermehrbare Zeitquantum von 24 Stunden am Tag in qualitativ unterschiedlichen Tätigkeiten verausgaben. Und die realisierten Zeitmuster wirken auf die sozialen Positionen und Rollen zurück. Sozialstruktur und Zeitstruktur beeinflussen, verändern, verschieben, variieren und spiegeln sich wechselseitig. Für Strumilin ist die Untersuchung der temporalen Muster ein Mittel zur Erforschung der gesellschaftlichen Veränderungen nach der Revolution.

Die erste Zeitbudgetstudie wurde 1922 durchgeführt. Strumilins kurzer Lexikonartikel über die monatlichen Zeitbudgets von Industriearbeiterfamilien 1923/24, der hier vorgestellt wird, erschien 1927 in dem Band 8 der Großen Sowjet-Enzyklopädie (BSE), der von bekannten Wissenschaftlern und Politikern, wie N. I. Bucharin, M. N. Pokrovskij, L. N. Kricman, Ju. Larin, V. P. Miljutin, N. Osinskij, E. A. Preobraženskij, K. Radek, G. M. Kržižanovskij, redaktionell betreut wurde (nicht wenige von ihnen überlebten die 1930er Jahre nicht).

Strumilins Analyse liegen 625 Zeitbudgets zugrunde. Über die Methoden der Befragung und der Zeitaufzeichnungen sowie die Kriterien für die Auswahl der Industriearbeiterfamilien liegen keine Informationen vor.

Das Zeittableau zeigt die monatlichen Zeitverausgabungen (30 Tage = 720 Stunden) von Arbeitern und Arbeiterinnen in der Industrie, weiter von Hausfrauen in den Arbeiterfamilien sowie von helfenden Familienangehörigen (Männer und Frauen); offen bleiben muss, ob es sich hier um Jugendliche oder Ältere gehandelt hat. Drei große Zeitausgabenblöcke werden unterschieden: Arbeit – Erholung – Schlaf. Am stärksten ist der Bereich Arbeit aufgefächert, nämlich in: obligatorische Arbeit (Produktionsarbeit, Hausarbeit, Gang zur Arbeit und zum Einkaufen auf dem Markt) sowie freie Arbeit (Selbstbildung und gesellschaftliche Tätigkeit). Der zweite Zeitblock Erholung wird u.a. unterteilt in: Essen, Zerstreuung/Vergnügen, religiöse Bedürfnisse, Muße/Nichtstun. Die dritte Abteilung Schlaf wird aufgeteilt in: Nacht- und Tagschlaf.

Die Zeitbilanz zeigt, dass die Hauptlast der Produktions- (Lohn-)arbeit bei Arbeitern und Arbeiterinnen liegt, die hierfür 213-215 Monatsstunden oder gut 7 Stunden täglich aufwandten. Die Revolution von 1917 hatte die Arbeitszeit erheblich verkürzt und den Achtstundentag, das alte Ziel der Arbeiterbewegung, durchgesetzt. Die Hausarbeit fiel vor allem auf die Hausfrauen, die hier deutlich länger arbeiteten als die Arbeiter und Arbeiterinnen in der Produktion. Ein besonders zeitaufwendiger Bereich war die Essenszubereitung; der Ausbau von öffentlichen Speiseeinrichtungen wurde in Sowjetrussland erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre intensiviert. Die Zeitsumme aller obligatorischer Arbeiten war bei den berufstätigen Frauen größer als bei den Hausfrauen, bei diesen mit Abstand größer als bei den berufstätigen Männern. In der Kategorie „Freie Arbeit“ (Selbstbildung plus gesellschaftliche Tätigkeit) waren die Männer deutlich bessergestellt als die Arbeiterinnen und die Hausfrauen. Die helfenden Familienangehörigen wiesen hohe Anteile für Selbstbildung/Lernen auf. Hausfrauen und Familienhelferinnen wandten, anders als die Arbeiter, nur minimale Zeitpartikel für gesellschaftliche Tätigkeit auf.

Die insgesamt für Erholung verausgabte Zeit war bei den Arbeitern größer als bei den Hausfrauen und Arbeiterinnen; die helfenden Familienangehörigen hatten aber weitaus größere Zeitquanten zur Verfügung. Die für religiöse Bedürfnisse ausgewiesene Zeit war in der Bilanz der Arbeiterfamilien insgesamt eine eher marginale Größe und betrug bei den Arbeitern 1,5, bei Arbeiterinnen 3,1 und bei Hausfrauen 5,9 Monatsstunden; aber bei den weiblichen helfenden Familienangehörigen war sie mit 17,3 Stunden ungewöhnlich hoch. Arbeiter und Arbeiterinnen sowie männliche und weibliche Familienhelfer verwandten mehr Zeit auf Selbstbildung/Lernen als auf Religion; aber bei den Hausfrauen war es umgekehrt. Am größten war die Differenz zwischen den Zeitausgaben für Bildung und für Religion bei den männlichen Arbeitern und Familienhelfern.

Die insgesamt für den Schlaf aufgewandten Stunden waren für alle Gruppen offenbar ausreichend. Die weiblichen helfenden Familienmitglieder schienen besonders vom Mittagsschlaf angetan. Insgesamt schliefen diese über 9 Stunden täglich; die Arbeiter schliefen länger als die Hausfrauen; diese länger als die Arbeiterinnen, die nur auf etwas mehr als 7 Stunden Schlaf pro Tag kamen.

Strumilin zeigte, dass die 720 Monatsstunden innerhalb der Arbeiterfamilien sehr unterschiedlich ausgegeben wurden. Die großen Zeitungleichheiten zwischen den Geschlechtern verwiesen auf das Fortbestehen traditioneller Arbeitsteilungen und Alltagsroutinen sowie auf mangelnde öffentliche Einrichtungen, wie Kantinen, Kindergärten und Waschanstalten. Die Zeitbudgetforschung wollte diese Probleme öffentlich machen und der Politik entsprechende Impulse geben.

In den 1920er Jahren wurden in der UdSSR weiterreichende Fragen der Zeitforschung anvisiert. Wie strukturieren sich die Zeitbudgets an Arbeits- und an Feiertagen, wie unterscheiden sich die Zeitbilanzen von Jüngeren, Älteren und Alten, von gesellschaftlich Aktiven und Nichtaktiven, von Parteimitgliedern und Parteilosen, von Stadt- und Landbevölkerung, von Lesekundigen und Analphabeten, von Russen und Nichtrussen, von qualifizierten und unqualifizierten Arbeitern, von Arbeitern, Angestellten, Studenten und Intelligenz? Wie unterscheiden sie sich bei Bauern in der Sommer- und Wintersaison sowie in den verschiedenen Regionen des großen Landes? Wie verändern sich Zeitmuster im Laufe der Zeit? Wie und wodurch schleppen sich alte Lebensgewohnheiten und Zeitroutinen in einer Gesellschaft fort, die den Sozialismus anvisiert – existieren Ungleichzeitigkeiten von Zeitmustern? Wie könnten Konturen eines „sozialistischen Zeitbudgets“ aussehen? Zeichnen sich bereits erste Spuren eines „neuen Alltagslebens“ (novyj byt) ab? Sind internationale Zeitvergleichungen möglich? Einige dieser Fragen sind in den folgenden Jahren von sowjetischen Soziologen, Ethnologen, Ökonomen und Statistikern diskutiert und in Ansätzen untersucht worden. Strumilin selbst hat in diesen Richtungen weiter geforscht und publiziert.

Hier noch knappe Hinweise auf die Biographie des Nestors der Zeitbudgetforschung. S. G. Strumilin wurde 1877 in einem Dorf in der Nähe von Vinnica, südwestlich von Kiev, geboren und war seit 1897 in der revolutionären Bewegung aktiv. Er trat 1899 in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) ein. Strumilin wurde dreimal (1901, 1903, 1905) verhaftet und floh zweimal (1902, 1905) aus der Verbannung. Er war Delegierter des IV. (Stockholmer) und des V. (Londoner) Parteitags der SDAPR (1906 und 1907) und schloss sich 1906 bis 1920 ihrem menschewistischen Flügel an. Mitglied der Kommunistischen Partei wurde er erst 1923. Nach 1900 begann seine weitverzweigte wissenschaftliche und publizistische Arbeit mit Schriften wie „Reichtum und Arbeit“ und „Ein Wort an die Dorfarmut“. Nach der Oktoberrevolution leitete er die Statistische Abteilung des Petrograder Gebietskommissariats für Arbeit (1918-1919) sowie des Volkskommissariats für Arbeit und des Gesamtrussischen Zentralrats der Gewerkschaften (1919-1923). Von 1921-1937 arbeitete er in leitenden Funktionen der Staatlichen Plankommission (Gosplan). 1931 wurde er in die Akademie der Wissenschaften der UdSSR aufgenommen. 1931-1957 war er Mitglied des Rats zur Erforschung der Produktivkräfte der UdSSR und 1948-1952 Leiter des Sektors Wirtschaftsgeschichte des Instituts für Ökonomie der Akademie der Wissenschaften. Er entwickelte einen neuen Index zur Messung der Arbeitsproduktivität („Strumilin-Index“). Zugleich lehrte er an verschiedenen sowjetischen Hochschulen. Strumilin hinterließ über 700 wissenschaftliche Arbeiten zu verschiedenen Themen der Statistik, Planungsökonomik, Wirtschaftsgeschichte, Demographie und Sozialstruktur. Er erhielt zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen („Held der sozialistischen Arbeit“ 1967 und gleich dreimal den Lenin-Orden) und starb 1974 in Moskau. Dem Zeitforscher war eine lange Lebenszeit vergönnt.

In den Jahren 1963-1965 wurden in Moskau seine „Gesammelten Werke“ in fünf Bänden gedruckt. In der DDR ist ein Sammelband seiner Arbeiten erschienen, in der alten Bundesrepublik nur eine schmale Broschüre über den Arbeitslohn in der russischen Industrie nach 1913. Weitere Übersetzungen und Neuausgaben wären wünschenswert. Vielleicht könnten sie auch für die Sozialstrukturforschung im heutigen, wieder kapitalistisch gewordenen Russland, in den westlichen Ländern und auch in der Lateinamerikaforschung fruchtbar gemacht werden?

Monatliches Zeitbudget in der Arbeiterfamilie 1923/24 (pro Person in Stunden)

Tabelle siehe PDF!

Quelle: S. G. Strumilin 1927: 383-384

Literatur

Artiščev, R. T. (1925): Bjudžety samarskich rabočich (Budgets der Arbeiter von Samara), Samara

Lipkes, I. (1926): Godovye bjudžety kievskich rabočich 1925-1926 (Jahresbudgets Kiever Arbeiter 1925-1926), Kiev

Prokopovič, S. N. (1909): Bjudžety peterburgskich rabočich (Budgets Petersburger Arbeiter), Petersburg

Prokopovič, S. N. (1910): Haushalts-Budgets Petersburger Arbeiter, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 30, Jg. 1910: 66-99

Staryj i novyj byt. Sbornik (1924): (Alte und neue Lebensweise, Sammelband), Leningrad

Strumilin, S. G. (1924): Bjudžet vremeni russkogo rabočego i krest`janina v 1922-1923 godu (Das Zeitbudget des russischen Arbeiters und Bauern im Jahre 1922-1923), Moskau-Leningrad

Strumilin, S. G. (1925): Problemy ekonomiki truda (Probleme der Ökonomie der Arbeit), Moskau

Strumilin, S. G. (1926): Rabočij byt v cifrach (Arbeiteralltag in Zahlen), Moskau-Leningrad

Strumilin, S. G. (1927): Bjudžet vremeni (Zeitbudget). In : Bol`šaja Sovetskaja Enciklopedija (BSE), Band 8 : 382-385, Moskau

Strumilin, S. G. (1977): Sozialismus und Planung, Berlin

Strumilin, S. G. (1985): Der Arbeitslohn in der russischen Industrie in den Jahren 1913-1922, Marburg

Trotzki, L. D. (1923): Fragen des Alltagslebens, Hamburg