Diskussion, Kritik, Zuschriften

Der Einzige und sein Eigentum

von Hans-Gert Gräbe
September 2018

Wie konstituieren sich Handlungsräume in einer technisierten Welt, in der gesellschaftlich verfügbares Verfahrenswissen, institutionalisierte Verfahrensweisen und privates Verfahrenskönnen an Bedeutung gewinnen? In welchem Verhältnis stehen dabei die äußeren Gegebenheiten und die inneren Gestaltungsoptionen?

Mit ihrer „Selbstverständigung“ (MEW 13, S. 10) in der Deutschen Ideologie sind Marx und Engels anerkanntermaßen einen großen Schritt in der prinzipiellen Herangehensweise an diese Frage vorangekommen, indem sie die Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen – jener „äußeren Gegebenheiten“ – der Religion entreißen und konsequent als von Menschen gemacht und damit historisch relativierend fassen. „Die historische Relativität der philosophischen Systeme hatte Hegel als erster nachgewiesen, allerdings mit der Inkonsequenz, sein eigenes System außerhalb dieser historischen Relativität zu belassen. Marx führt den Hegelschen Gedanken der durchgängigen historischen Relativität philosophischer Systeme konsequent zum Ende. Die Lösung der aus den philosophischen Erkenntnissen entspringenden theoretischen und praktischen Aufgaben ist gleichbedeutend mit der Aufhebung des jeweiligen philosophischen Systems. Ist das Verhältnis von Philosophie und Wirklichkeit aber dergestalt durchschaut, so folgt notwendig der Schluss, dass es sich nicht mehr darum handeln kann, der Wirklichkeit ein abstraktes philosophisches System entgegenzustellen, sondern dass ihre eigentliche Aufgabe darin besteht, das Praxis-Theorie-Verhältnis zum Gegenstand ihrer Untersuchungen zu machen.“ (Seidel 1966, S. 250)

Es ist allerdings immer wieder nur das Feuerbachkapitel, das in diesem Zusammenhang Erwähnung und Erörterung erfährt. So auch bei Winfried Schwarz in Z 113, der über Arbeiten an einer neuen Edition der Deutschen Ideologie berichtet. Was aber ist mit der Auseinandersetzung mit „St. Max“, die zwei Drittel des Textes ausmacht? Dagegen ist selbst „St. Bruno“ thematisch nicht mehr als eine Fußnote. Ist dies wirklich allein Sparringmaterial, um zu den Schlussfolgerungen im Feuerbachkapitel zu kommen, wie auch Schwarz noch einmal mit Verweis auf neuere Forschungen behauptet?

Wer also ist dieser „St. Max“ und das „Leipziger Konzil“ und was hat jener Aufregendes mitzuteilen, dass ihm Marx und Engels ebenda mehr als 300 Seiten widmen? Den Furor löste ein Buch deutlich geringeren Umfangs aus – Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum, das 20 Jahre vor dem Kapital ebenfalls bei Otto Wigand in Leipzig gedruckt wurde. „Was soll nicht alles meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit [...] Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein. ‚Pfui über den Egoisten, der nur an sich denkt!‘“ Stirner hält sein glühendes Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung der inneren Verfasstheit einzelner Menschen und damit einer anderen Wichtung von Gestaltungsmacht gegen­über Disziplinarmacht der neu gewonnenen Erkenntnis von Marx, Engels und Feuerbach entgegen, dass sich jene Disziplinarmacht im Ergebnis menschlicher Praxen herausbildet. „Der Mensch ist dem Menschen das höchste Wesen, sagt Feuerbach. Der Mensch ist nun erst gefunden, sagt Bruno Bauer. Sehen Wir Uns denn dieses höchste Wesen und diesen neuen Fund genauer an.“ (Stirner 1846)

Sind mit der Deutschen Ideologie die Fragen des St. Max erschöpfend beantwortet? Welche Rolle spielen die institutionelle Ausprägung von Verfahrensweisen oder gar privates Verfahrenskönnen, der „individuelle Faktor“, in einer technisch immer potenteren Welt? Wie funktioniert technischer Fortschritt, für den Ernst Bloch „Verluste im Vorwärtsschreiten“ konstatierte? Hat Stirners Aufschrei etwas mit derartigen Verlusten zu tun? Fragen über Fragen, auf die Marx jenseits der bekannten Stellen im Maschinenfragment nie wieder zurückkam. So wenigstens Goldberg und Leisewitz in Z 108.

Welche Konsequenzen haben derartige Fehlstellen in der marxistischen Rezeptionsgeschichte? Wie umgehen mit der Widersprüchlichkeit der „Multitude“ der inneren Triebe/Antriebe und der Einheit/Einzigkeit der äußeren Welt? Wie eine soziologische Außensicht mit den praxisgetriebenen Reflexions- und Erfahrungshorizonten der Akteure selbst in Einklang bringen und eine angemessene zivilisierte „Konfliktkultur“ im zwischenmenschlichen Bereich (weiter) entwickeln? Die Spur der Ausgrenzung und Gewalt in dieser Frage gegenüber „Andersdenkenden“, insbesondere gegenüber anarchistischem Gedankengut, reicht vom „Präanarchisten“ Stirner[1] über Bakunins Ausschluss aus der Ersten Internationale, den Marx selbst noch aktiv mit betrieben hat, über die Tragödien von Kronstadt und der spanischen Republik der 1930er Jahre bis weit in die heutige Zeit, wie in Heft 2/2018 der Berliner Debatte Initial noch einmal genauer dargestellt wird. Auch die praxisphilosophischen Untersuchungen des Leipziger Philosophen Helmut Seidel wie etwa seine von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2011 neu aufgelegte Habilitationsschrift (Seidel 1966) waren Anlass nicht zu Debatte, sondern zu Repression in der „poststalinistischen, dogmatischen Welt des Realsozialismus“ (Hans-Martin Gerlach, ebenda, S. 7).

Hat das Ganze heute noch eine Bedeutung angesichts des „digitalen Wandels“? Aktuelle Analysen konstatieren zunehmende gesellschaftliche Entflechtungstendenzen, wachsende Bedeutung differenzierter Lebensentwürfe (Stalder 2016) und von „Alleinstellungsmerkmalen“ – der Einzigkeit des Einzelnen. Entscheidend seien die „Humanressourcen“ mit ihrem „Wissenskapital“[2]. Damit steht aber der Wissensbegriff selbst auf dem Prüfstand, der sich in den letzten Jahren über „content“ und „knowledge“ bis hin zu „valuable data“ im aktuellen Big Data Hype verschoben hat. Wenn dieses „Wissenskapital“ aber privates Verfahrenskönnen sein sollte, dann wären wir wieder bei Stirners Einzigem und seinem Eigentum, denn privates Verfahrenskönnen ist Quelle von Einzigartigkeit. Stirners Eigentumsbegriff bezieht sich genau auf diese faktische Ungleichheit rechtlich gleicher Individuen und damit auf die kulturelle Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft, die zu jener Zeit gegen die feudale Restauration in Deutschland zu verteidigen war (Seidel 1966). Stirner hält Marx, Engels und Feuerbach letztlich eine spezifische Beschränktheit ihres „neu gewonnenen Stand­punkts“ vor. Wäre darüber neu nachzudenken? Reinhard Mocek forderte jedenfalls (Mocek 2003) „noch einen (Luxemburg)-Preis für Wilhelm Weitling“ und Eben Moglensah (Moglen 1999) die Bewegung um Freie Software als „Triumph des Anarchismus“.

Die Virulenz einer derartigen Widersprüchlichkeit von Innen- und Außensichten wird immer wieder deutlich – nicht zuletzt in der Auseinandersetzung zwischen Wikipedianern und Wikipedisten auf der CPOV 2010 in Leipzig[3]. Die Innensichten praktischer Erfahrung (Wikipedianer) und die Außensicht soziologischer Analyse (Wikipedisten) geraten dabei hart aneinander. Ob ihre Selbstreflexio­nen nicht etwas simpel gestrickt seien, fragen die Wikipedisten die Wikipedianer wie seinerzeit Marx mit einem gehörigen Schuss Polemik den St. Max. Aus welchen praktischen Erfahrungen sie denn ihre Weisheiten nehmen würden, und ob sie nicht von wohlfeilen Theorien ausgingen, deren Grundlagen und Begrifflichkeiten von der technischen Entwicklung längst überholt seien, fragen die Wikipedianer zurück. Ein fruchtbarer Dialog zu diesen Fragen braucht sehr langen Atem, aber er findet an vielen Stellen – jenseits des Mainstreams „marxistischer Erneuerung“ – durchaus statt.

Welt als Wirklichkeit für uns ist stets auch Wirklichkeit im Prozess begrifflicher Erfassung. Dieser höchst widersprüchliche Prozess schreitet mit den Praxen der Menschen voran. Das „menschliche Wesen“ als Subjekt dieses Prozesses ist dabei nicht nur „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (6. Feuerbachthese), sondern selbst Schöpfer und Modifikator von Begrifflichkeiten und damit Verhältnissen. „Es kann aber sowohl vom historischen als auch vom logischen Standpunkt aus keinen dialektischen ohne historischen Materialismus geben, wie es keinen historischen ohne dialektischen Materialismus geben kann. Beide haben ihre letzte Quelle im Begreifen (meine Hervorhebung) der gesellschaftlichen Praxis“ (Seidel 1966, S. 91).

Ein tragfähiger Technikbegriff muss sich auf diesen Prozess des Fortschreitens begrifflicher Erfassung beziehen. Fortschritt, so Karl Steinbuch (Steinbuch 1966, S. 7), könne man präzise erklären: „Er besteht darin, dass im fortgeschritteneren Zustand nicht nur die. früheren Einsichten vorhanden sind und die früheren technischen Leistungen vollbracht werden können, sondern darüber hinaus auch noch neue, zusätzliche. In der Geschichte der Naturwissenschaft und Technik ist der Fortschritt nicht eine bestreitbare Fiktion, sondern die Vermehrung registrierbarer Leistungen.“ So einfach ist es allerdings nicht, denn Entwicklung verläuft nicht linear und die kumulativen Wissensmodelle des „linguistic turn“ der 1970er Jahre stoßen im „digitalen Wandel“ und im Zuge kooperativer Begriffsbildungsprozesse der Praxen einer „Semantifizierung der Welt“ längst an ihre Grenzen.

Literatur

Reinhard Mocek (2003): Verleiht noch einen Preis an Wilhelm Weitling! In: Christoph Spehr (Hrsg.), Gleicher als andere. Eine Grundlegung der freien Kooperation. Reihe Texte der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Bd. 9. S. 279–287.

Eben Moglen (1999): Anarchism Triumphant: Free Software and the Death of Copyright. First Monday, vol. 4/8.

Helmut Seidel (1966): Philosophie und Wirklichkeit. Habilitationsschrift, Leipzig 1966. Zitiert nach der Neuauflage durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen (Hrsg. von Volker Caysa), Leipzig 2011.

Felix Stalder (2016): Kultur der Digitalität. Frankfurt/M.

Karl Steinbuch (1966): Die informierte Gesellschaft. Stuttgart.

Max Stirner (1846): Der Einzige und sein Eigentum. Zitiert nach der Reclamausgabe Stuttgart 1981.

Hans-Gert Gräbe

[1] So der Leipziger Philosoph Siegfried Bönisch über Max Stirner im Freud-Jahr 2006, siehe http://www.leipzig-netz.de/index.php5/WAK:2006-11-28

[2] http://wissenskapital.info/tag/humankapital/

[3] http://www.cpov.de. Siehe hierzu auch http://www.nandostoecklin.ch/2010/09/wikipedisten-und-wikipedianer-forscher.html.