Wahlen 2018: Erosion und Neuformierung des Parteiensystems

23.11.2018
von Redaktion

Unter dem Druck der kapitalistischen Modernisierung, des seit den 1990er Jahren auch politisch „entfesselten“ Neoliberalismus und der Herrschaft der globalisierten Finanzmärkte erodiert das bundesrepublikanische Parteiensystem immer schneller und vollzieht dabei eine Entwicklung nach, die in zahlreichen europäischen Nachbarländern schon in vollem Gange ist.

Sozioökonomische und kulturelle Verunsicherungen, die den Alltag von immer mehr Menschen bestimmen, bilden den Hintergrund politischer Erosionen: wachsende soziale Ungleichheit bei geradezu obszönem Reichtum, Deregulierung und Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen bei Ausweitung der Lohnabhängigkeit, geschwächte Gewerkschaften, Internationalisierung der Kapitalverhältnisse und Krisenerfahrungen, zunehmende internationale Konflikte, zugleich wachsender Druck zu Ökologisierung, Aufbrechen traditioneller Geschlechterrollen, Digitalisierung, ethnische und kulturelle Pluralisierung der Gesellschaft unter dem Druck von Einwanderung und Migration. Den durch ausufernde globalisierte Wirtschaftskriminalität, Skandale in Kirchen, Sportverbänden, Parteien usw. delegitimierten „Eliten“ wird immer weniger zugetraut, die mit den erwähnten Veränderungen und Verunsicherungen verbundenen Probleme lösen zu können. Während das politische System von den Bürgern einerseits mehr Flexibilität, den Verzicht auf Sicherheit und ständige ‚Reformen‘ einfordert, ist es selbst nicht in der Lage, sich selbst zu reformieren. Die Probleme werden verwaltet, es herrscht die Logik des ‚weiter so‘. Dieser Prozess hat seit den Bundestagswahlen 2017 rasant an Fahrt aufgenommen und zeigte sich eindrucksvoll bei den Landtagswahlen dieses Jahres in Bayern und Hessen.

Er äußert sich zum einen im Hochkommen der AfD – dem Aufstieg des konservativ-reaktionären, rassistischen und gegenüber dem Neofaschismus offenen Flügels der Rechten, der als Drohpotential gegenüber dem politischen Establishment Anziehungspunkt für Protestwähler aus allen sozialen Schichten geworden ist. Wahlpolitisch geht dies hauptsächlich auf Kosten der traditionellen Rechten, die immer mehr als Teil einer globalen Elite wahrgenommen wird und teilweise (vergeblich) den Erfolg der AfD mit weiterer Rechtsentwicklung aufzuhalten versucht. (CDU/CSU). Zum zweiten zeigt er sich in dem atem-beraubenden Niedergang des traditionellen Sozialreformismus, der SPD, die ihr „Klientel“ nicht mehr binden kann, weil sie sich an den herrschenden Neoliberalismus gebunden hat und keine glaubwürdige Alternative zum „weiter so“ bietet. Der dritte Prozess ist der weitere politische Aufstieg der bürgerlichen Modernisierer – von Grünen und FDP und auch Teilen der CDU – die den Modernisierungszwängen des Kapitalismus politischen Ausdruck geben und in den aufsteigenden sozialen Schichten mit Qualifikationsanspruch, Eigentumsinstinkt und kulturell-liberaler Orientierung verankert sind. Schließlich zeigt sich viertens eine Belebung sozialer Bewegungen: Dazu gehört eine große punktuelle Mobilisierungsfähigkeit in bestimmten Konfliktsituationen und zu einzelnen Themen, wobei dem betrieblich-gewerkschaftlichen Bereich nach wie vor große Bedeutung zukommt (wie der in dieser Zeitschrift erscheinende „Streikmonitor“ belegt). Wahlpolitisch profitiert die in diesen Bewegungen aktive Linkspartei nur sehr begrenzt, vor allem die Grünen werden als Bastion gegen die Rechtsentwicklung wahrgenommen.

Bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen hat es auf der einen Seite – wenn man vom traditionellen rechts-links-Schema ausgeht – scheinbar keine großen Verschiebungen zwischen dem ‚linken‘ (SPD, Grüne, Linke) und dem ‚rechten‘ Lager (CDU, CSU, FDP, AfD) gegeben. Innerhalb dieser Lager aber hat es bedeutende Verschiebungen (insgesamt nach rechts) gegeben, was sich in den Verlusten von CDU/CSU und dem sich hieraus speisenden Zuwachs der AfD einerseits und dem Zuwachs der „Modernisierer“ (Grüne und FDP) auf Kosten der Sozialdemokraten andererseits ausdrückt. Insgesamt hat die Bindekraft der Parteien abgenommen, ob z.B. der Boom der Grünen dauerhaft sein wird ist durchaus unsicher.

Derzeit ist nicht absehbar, ob diese Verschiebungen zum vorzeitigen Ende der aktuellen GroKo führen werden. Bei Redaktionsschluss dieses Heftes (Anfang November) war noch völlig offen, wohin die heftigen Debatten und Konflikte innerhalb der Koalitionsparteien führen werden. Allein dieser Tatbestand verweist auf das Ausmaß der Erosionsprozesse.

Dies wird in Verbindung mit der Rolle linker Bewegungen eines der Themen in Z 117 (März 2019) sein.

Redaktion