Entfremdung aus Sicht der Lukácsschen Ontologie

Materialistische Ethik diesseits von Religion und Glauben (Teil I)

September 2012

Der nachfolgende Artikel stellt sich die Aufgabe, einen groben Überblick über die Entfremdungskonzeption in der Lukácsschen Ontologie des gesellschaftlichen Seins[1][1] zu geben, mit besonderer Berücksichtigung der Religion als dem Archetyp aller vorwiegend ideologisch vermittelten Entfremdungserscheinungen. Dies kann umso weniger umfassend geschehen, da gleichzeitig die Gesamtanlage der Lukácsschen Ontologie als Erneuerungsprojekt des Marxismus vorgestellt werden soll, in welche sich das Lukácssche Verständnis der Phänomene Entfremdung, Religion und Glauben einordnet. Die Spezifik des Lukácsschen ontologischen Ansatzes wird dabei in Abgrenzung zu anderen Erneuerungsversuchen des Marxismus herausgestellt.

Projekt materialistische Ethik

Zu Anfang sei in Erinnerung gerufen, dass die Ontologie des gesellschaftlichen Seins von Lukács als Vorarbeit zu einer materialistischen Ethik konzipiert wurde, und er darin seinen wichtigsten Beitrag zur schon damals als unabdingbar eingeschätzten Erneuerung des Marxismus sah (vgl. Benseler, Jung 2005. 483). Eigentlich hatte Lukács im Anschluss an die so genannte „große“ Ästhetik[2][2] vorgehabt, eine materialistische Ethik zu entwerfen, d.h. eine Philosophie der menschlichen Werte und Normen auf materialistischer Grundlage. Es ist ein ambitioniertes Projekt, aus dem, was ist, bzw. genauer: aus dem, wie es geworden ist, dasjenige, was werden soll, ableiten zu wollen. Lukács wendet sich damit gegen Ansätze, ethisches Verhalten entweder mit Bezug auf eine transzendente (göttliche) Macht oder über einen subjektiv-intuitiven bzw. gefühlsmäßigen Zugang zu begründen. Dem stellt er sein Konzept entgegen, Ethik entwicklungsgeschichtlich als Produkt der menschlichen Selbsterschaffung aufzufassen. Auf dem Weg dorthin ist bei Lukács die Ontologie des gesellschaftlichen Seins entstanden, da er während der Ausarbeitung feststellte, dass eine materialistische Ethik eine ontologische Grundlegung erfordert (vgl. Benseler 1986. 731 f.).

Der Aufbau der Ontologie

Die sich in Anlehnung an Nicolai Hartmann kritisch, als „Philosophia Ultima“[3][3], verstehende Ontologie von Lukács ist das Projekt einer umfassenden Kategorienlehre, welche den Aufbau des Seins in drei Sphären erfasst: Anorganik, Organik und gesellschaftliches Sein (s. neben dem Kapitel zur Ontologie von Hartmann vor allem die Prolegomena, vgl. Lukács 1984. 8 ff. u. 421 ff.; zur Lukásschen kritischen Rezeption von Hartmanns Ontologie vgl. Vellay 2012b). Selbst wenn sein eigentliches Projekt in der Ausarbeitung einer Gesellschaftsontologie mit Zielrichtung auf eine materialistische Ethik bestand, so stellte sich doch zumindest eine grobe Behandlung aller Seinssphären (einschließlich der Naturdialektik) als nötig heraus, allein schon für das Verständnis des Zusammenhangs (dies wird beispielsweise heute besonders deutlich an der Ökologiefrage) und insbesondere der entwicklungsgeschichtlichen Herleitung.[4][4]

Dabei beansprucht Lukács eigentlich „nur“ die Ausarbeitung der im Grunde genommen schon bei Marx implizit vorhandenen Ontologie, einschließlich der materialistischen Naturontologie, der geschichtlichen Verfasstheit und der Prozesshaftigkeit des Seins sowie der dialektischen Widersprüchlichkeit etc. (vgl. Lukács 1984. 566, s. auch: Lukács 1995. 32). Lukács will die Möglichkeiten und Bedingungen menschlichen Handelns allgemein bestimmen und, abgeleitet daraus, diejenigen der menschlichen Emanzipation aufzeigen.[5][5]

Marxismus wird hier nicht nur als (ökonomische) Kapitalismusanalyse verstanden, auch nicht nur als aus der Kritik der Religion zu schlussfolgernder kategorischer Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, verlassenes oder verächtliches Wesen ist“ (Marx 1839-1844. 385, Hervorhebung im Original), sondern als umfassende Weltanschauung, d.h. als ein geschichtsphilosophisches System der Welterklärung, welches das große Projekt des bürgerlichen Humanismus der Befreiung und Emanzipation der Menschheit auf eine materialistische Grundlage stellt.

Aufgrund dieses Anspruchs des geschichtsphilosophischen Systems, so urteilt der Pariser Philosoph Nicolas Tertulian (vgl. Tertulian 2006. 30–33; dt.: Tertulian 2008), wird das Alterswerk von Lukács weitgehend übergangen bzw. abgelehnt – so beispielsweise bei Vertretern der Frankfurter Schule, z.B. Habermas (vgl. Benseler 1986. 747) oder auch bei Lukács’ ehemaligen, postmodern gewendeten Schülern Ferenc Fehér, Agnes Heller, György Márkus, Mihály Vajda (vgl. Fehér et al. 1986a u. Fehér et al. 1986b). Deren Kritik lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass die Zeit der Utopien und „großen Erzählungen“ in der Tradition des Historischen Materialismus vorbei sei (vgl. Fehér 1994), ganz im Sinne des später von Fukuyama postulierten „Endes der Geschichte“ (Fukuyama 1992)[6][6]. Abgesehen davon, dass selbst der 1989 erfolgte Zusammenbruch des Projekts Sozialismus ja nicht das Ende von sozialen Kämpfen bedeutete, welches fortan den Kapitalismus als letztes Stadium der menschlichen Entwicklung bestimmt hätte[7][7], abgesehen davon also hätte Lukács seinen Kritikern wohl geantwortet, dass die Aufgabe einer integrierten, rationalen Weltanschauung dem Irrationalismus bzw. der „unreinen Vernunft“ Tür und Tor öffne.

Die von Lukács initiierte „ontologische Wende“ im Marxismus (Benseler 1995) versucht insbesondere den Platz des Subjektiven und des Individuums zu rehabilitieren. Im ersten Band der Ontologie des gesellschaftlichen Seins widmet sich Lukács im Rahmen des Aufbaus seiner Kategorienlehre im Wesentlichen der Artikulation der Gesellschaftsontologie mit einer allgemeinen Naturontologie (ihre Schnittstelle bilden die jeweiligen Zentralkategorien Teleologie und Kausalität; s. insbesondere die Ausführungen in den Prolegomena, vgl. Lukács 1984. 7 ff.) und der philosophiegeschichtlichen Herleitung einer materialistischen Ontologie (in Abgrenzung zur erkenntnistheoretisch-logisch dominierten Philosophie mit der Notwendigkeit als Zentralkategorie und im Nachvollzug der Herausbildung der Ontologie von Hartmann und Hegel bis zu Marx, mit dem Sein als Zentralkategorie). Im zweiten Band geht der Argumentationsgang zu den „wichtigsten Problemkomplexen“, von der Arbeit „als Urphänomen, als Modell des gesellschaftlichen Seins“ (Lukács 1986. 10), über die Reproduktion, zur Ideologie und mündet schließlich – als „krönender Abschluß“ (Tertulian 2006. 30) – in das Entfremdungskapitel. Wobei nach Lukács die religiöse Entfremdung den Archetyp aller vorwiegend ideologisch vermittelten Entfremdungserscheinungen bildet (vgl. Lukács 1986. 605)[8][8].

Drei Beispiele kontroverser Diskussion des Entfremdungsbegriffs

Allerdings ist der Entfremdungsbegriff keineswegs unumstritten in der marxistischen Diskussion, wovon im Nachfolgenden drei Theoriestränge lediglich benannt seien: Erstens die in der Tradition des theoretischen Anti-Humanismus und Anti-Historismus von Althusser[9][9] stehende völlige Ablehnung des Entfremdungsbegriffs (vgl. Althusser, Balibar 1972. 158, eine Wiederaufnahme der strukturalistischen Ablehnung der Entfremdung findet sich in Heinrich 2006 und in abgeschwächter Form, wonach die Entfremdung ein undeutlicher Begriff sei, „dem man nicht trauen sollte“, im Kritischen Wörterbuch des Marxismus, vgl. Labica 1984. 300)[10][10]. Zweitens die Reduktion der Entfremdungsphänomene auf vorsozialistische Verhältnisse in den Ländern des Realsozialismus[11][11], und drittens die Traditionslinie des „westlichen Marxismus“, welche in Lukács‘ einflussreichem Frühwerk Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) eines ihrer Gründungsdokumente sieht[12][12]. Gemeint sind insbesondere Vertreter der Frankfurter Schule, wie Habermas, oder des Existentialismus, wie beispielsweise Sartre (zur Rezeptionsgeschichte vgl. Tertulian 2005a u. Tertulian 2005b). Handelt es sich bei den ersten beiden Interpretationen des Entfremdungsbegriffs um eine Marginalisierung der Entfremdungsphänomene, so zeichnet sich letztere im Gegenteil durch ihre Überdimensionierung aus: Entfremdung wird zur ewigen ‚condition humaine’ überhöht.

Der Entfremdungsbegriff: von Hegel zum jungen Lukács

Zwar hebt der reife Lukács die „ausschlaggebende Bedeutung“ seines Jugendwerks Geschichte und Klassenbewußtsein gerade in Bezug auf die Kategorie der Entfremdung hervor, welche „zum erstenmal seit Marx als Zentralfrage der revolutionären Kritik des Kapitalismus behandelt wird“ (vgl. Lukács 1968b. 24, s. auch Eörsi 2005. 112)[13][13]. In dieser Schrift bleibe jedoch das Verständnis der Entfremdung „rein im Hegelschen Geist“ idealistisch, denn ihre „letzte philosophische Grundlage“ bilde „das im Geschichtsprozeß sich realisierende identische Subjekt-Objekt“ des Proletariats. Diese „rein metaphysische Konstruktion“ des identischen Subjekt-Objekts stelle ein „Überhegeln Hegels“ dar, welche „an kühner gedanklicher Erhebung über jede Wirklichkeit objektiv den Meister selbst zu übertreffen“ beabsichtige (vgl. Lukács 1968b. 25).

Bei Hegel ist der Entfremdungsprozess in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes seine Entäußerung in der Vergegenständlichung sowie die Aufhebung der Entfremdung durch die Subjekt-Objekt-Identität in Religion (der Vorstellung) und Philosophie (dem Begriff) (vgl. Lukács 1986. 557). Beim jungen Lukács wurde daraus die Entfremdungsüberwindung durch die – fiktive, wie der späte Lukács zu Recht sagen wird – Subjekt-Objekt-Einheit in der Partei und der Revolution. Fiktiv deshalb, da es einerseits in der realen Welt – im Unterschied zur idealistischen Welt des absoluten Geistes bei Hegel – keine bzw. bestenfalls eine metaphorische Verschmelzung von Subjekt und Objekt geben kann, und andererseits eine mit Vergegenständlichung gleichgesetzte Entfremdung nicht aus der Welt zu schaffen ist – es sei denn, man schafft den Menschen selbst ab. Insbesondere dieser „fundamentale und grobe Irrtum“ der Gleichsetzung von Entfremdung mit Vergegenständlichung „habe sicherlich vieles zum Erfolg“ seines berühmten Jugendwerkes beigetragen (vgl. Lukács 1968b. 26), urteilte Lukács selbst in seinem weithin ignorierten Vorwort von 1967 zur lange verzögerten Neuauflage von Geschichte und Klassenbewußtsein.

Rückblickend wertet Lukács das Werk als Ausdruck seiner „Lehrjahre des Marxismus“ (vgl. Lukács 1968b. 11), in welchen er dem Idealismus verhaftet bleibe, da die Analyse ökonomisch-gesellschaftlicher Phänomene nicht in der Arbeit ihren Ausgangspunkt genommen hätte (vgl. Lukács 1968b. 21). Lukács’ vollständige Hinwendung zum Materialismus vollzieht sich erst während seines Aufenthalts am Marx-Engels-Institut in Moskau Anfang der 30er Jahre unter dem „umwälzenden Eindruck“ – Lukács spricht gar von einem „Schock“ (Lukács 1968b. 38) –, welchen die wiederentdeckten und zu diesem Zeitpunkt gerade vollständig entzifferten Marxschen Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844 (Marx 1837-1844) auf ihn ausgeübt hatten. Diese neue Marx-Lektüre ließ „alle idealistischen Vorurteile“ von Geschichte und Klassenbewußtsein zusammenbrechen (vgl. Lukács 1968b. 38) und begründete seine Hinwendung zur Ontologie, welche mehr als 30 Jahre später in sein philosophisches Hauptwerk, die Ontologie des gesellschaftlichen Seins, mündete.

Vergegenständlichung und Entfremdung

Vor allem die Marxsche Auffassung der „Gegenständlichkeit als primär materielle Eigenschaft aller Dinge und Beziehungen“ (Lukács 1968b. 38) und der Vergegenständlichung, des gegenständlichen Schaffens, als „natürliche … Art der menschlichen Bewältigung der Welt“ (Lukács 1968b. 38) erschütterten die theoretischen Fundamente von Geschichte und Klassenbewußtsein. Während Vergegenständlichung also untrennbar zum Menschen gehört und insofern tatsächlich als eine „ewige“ condition humaine angesehen werden kann, stellt die Entfremdung „eine spezielle Abart“ (Lukács 1968b. 38) dar, welche der reife Lukács (im Anschluß an Marx) als eine sowohl historisch auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Arbeitsteilung erst entstehende (vgl. Lukács 1986. 509) als auch für den Menschen prinzipiell überwindbare und an bestimmte sozio-historische Bedingungen geknüpfte Erscheinung analysiert.

In Anknüpfung an Geschichte und Klassenbewußtsein lässt sich hingegen bei Vertretern der Frankfurter Schule sowie bei Sartre und anderen Existentialisten eine Tendenz ausmachen, die Entfremdung als ewige Existenzbedingung des Menschen, als dunkle condition humaine, aufzufassen (vgl. Lukács 1968b. 26), welche (bestenfalls) einer fortwährenden Ideologiekritik zu unterziehen sei.[14][14] Lukács sieht darin die Fortsetzung der schon von Marx kritisierten Haltung der Linkshegelianer der 1840er Jahre, der zufolge Einsicht, Durchschauen, Entlarven etc. in Bezug auf die Entfremdung gleichbedeutend mit ihrer Aufhebung seien, während es tatsächlich ihrer praktischen Überwindung bedürfe.[15][15] Für Lukács erscheint die gleiche Haltung der „Suprematie des rein Theoretischen“ im 20. Jahrhundert in Begriffen wie „Geworfenheit, Entideologisierung, Provokation, Happening“ etc. (vgl. Lukács 1986. 563 f.).

In Abgrenzung zu solchen, den Oberflächensymptomen verhafteten Anschauungen beharrt Lukács auf der Kapitalismuskritik von Marx und seiner Perspektive der universellen Befreiung der Menschheit. Der Marxismus bietet nicht nur eine tiefgründige Analyse der gesellschaftlichen Ursachen von Ausbeutung und Unterdrückung, sondern setzt sich darüber hinaus das Ziel der Überwindung der Entfremdung durch die allseitige Emanzipation der menschlichen Persönlichkeit: Der Kommunismus, verstanden als der Beginn der eigentlichen Menschheitsgeschichte, wird im Kommunistischen Manifest als eine Gesellschaft proklamiert, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (Marx, Engels 1846-1848. 482).

Von der Religionskritik zur Kritik der entfremdenden Verhältnisse

Für Marx beginnt jede Kritik mit der Religionskritik und zwar nicht nur im Sinne eines Verständnisses von Religion als kurzschließende „Erklärung“ von Unverstandenem, wie Blitz, Tod usw. – dies ist die vorherrschende Richtung der materialistischen Tradition seit dem Altertum – sondern sie wird als Selbstverwirklichungsersatz kritisiert: Die Menschen flüchten sich in eine phantastische Form der Selbstverwirklichung, da die bestehenden Verhältnisse eine reale Selbstverwirklichung nicht zulassen (vgl. Marx 1839-1844. 378). Lukács zeigt auf, dass Marx über die Feuerbachsche Kritik, wonach der Mensch die Religion erschaffe und nicht umgekehrt Gott den Menschen, hinausgeht: Die Kritik der religiösen Entfremdung als „verkehrtes Weltbewußtsein“ müsse um die Kritik der verkehrten gesellschaftlichen Verhältnisse ergänzt werden. Die tatsächliche Selbstverwirklichung ist nur jenseits des Rahmens der kapitalistischen Moderne möglich. Deren ontologischer Bezugspunkt ist nicht der idealistische ‚citoyen’, sondern der real gesellschaftliche ‚homme’, der bürgerlich egoistische Mensch: der Andere, die Gesellschaft, das Gattungswesen stellt nicht eine Möglichkeit der Selbstverwirklichung dar, sondern ist Schranke, Hindernis und Konkurrent (vgl. Lukács 1986. 561).

Marx sieht in der a-geschichtlichen Haltung Feuerbachs (vgl. Marx, Engels 1845-1846. 45) einen wesentlichen Grund dafür, dass er die gesellschaftlichen Bedingungen der Überwindung der Entfremdung allgemein, ebenso wie der religiösen Entfremdung, nicht erkennen konnte. Für Marx wird letztlich nur die praktische Erfahrung des menschlichen Wesens im Kommunismus die theoretische Frage nach dem jenseitigen Wesen überflüssig machen. Wobei für ihn die Erkenntnis der Geschichte des Menschen als Selbsterschaffung durch Arbeit die theoretische Basis der Aufhebung der Religion darstellt. Marx hat daher auch nicht etwa die Religion zum Hauptfeind erklärt, welchen es mittels des anti-religiösen Kampfes aus der Welt zu schaffen gelte.[16][16] Statt sie zu überwinden, bleibe dieser bürgerliche Atheismus als letzte „Stufe des Theismus, der negativen Anerkennung Gottes“ (Marx, Engels 1844-1846. 116) noch im Dunstkreis der religiösen Entfremdung befangen.

Lukács’ Entfremdungsbegriff

Lukács übernimmt von Marx die strikt historische Herangehensweise an alle Phänomene der Wirklichkeit. Er erinnert des Öfteren an den Ausspruch von Marx, dass es im Grunde nur eine Wissenschaft gäbe, nämlich diejenige der Geschichte (vgl. Marx, Engels 1845-1846. 18) und dass man ein Phänomen, zumal ein gesellschaftliches, nur verstehen könne, wenn und insofern man seine Genesis, also sein Gewordensein, begreife (vgl. beispielsweise Lukács 1984. 35 f. u. 562, s. auch Benseler, Jung 2005. 483).[17][17] Diese historisierende Herangehensweise prägt ebenfalls seinen Entfremdungsbegriff. Der prozesshafte Charakter des gesellschaftlichen Seins tritt deutlich hervor, wenn er die Entfremdung u.a. als Widerspruch zwischen der Vervielfältigung der Eigenschaften sowie der Fähigkeiten und ihrer Zusammenführung in der synthetischen Einheit der Persönlichkeit beschreibt (vgl. Lukács 1986. 504 ff. u. 641 f.).[18][18] Obwohl auch Lukács beispielsweise schon von Teamspezialisten spricht, „bei denen die raffiniert gezüchteten Spezialgeschicklichkeiten in höchstem Grad als persönlichkeitszerstörend wirken“ (Lukács 1986. 504), ist dieses Phänomen heute wohl noch häufiger zu beobachten als vor 40 Jahren. Während das Tempo der Fähigkeitsaneignung im Computerzeitalter, der Erwartung der technischen Beherrschung seiner Umwelt an jeden Einzelnen[19][19], extrem zunimmt, stagniert gleichzeitig – bestenfalls – das Niveau der ethischen Sinngebung verbunden mit entsprechenden gesellschaftspolitischen Perspektiven.

Es ist die strikt historisch-dynamische Dimension des Entfremdungsbegriffs von Lukács, welche den Standardeinwand gegen die Entfremdung, verstanden als Abweichung von einem immer schon vorausgesetzten, metaphysischen Wesen unveränderlicher Substanz (vgl. Jaeggi 2004), ins Leere laufen lässt. Referenzpunkt eines solchen Entfremdungsverständnisses wäre eine dem (einzelnen) Menschen innewohnende Natur bzw. ein festes Menschenbild.[20][20] Eine solche Vorstellung eines festen Menschbildes hätte Lukács wohl eindeutig als Verdinglichung, als einen die eigentlich dynamische Entwicklung des gesellschaftlichen Menschen erstarrenden Fetischismus zurückgewiesen, ebenso wie die isolierende Betrachtung des Individuums. In seiner (umfassenden) Kategorienlehre behandelt er weder Sein und Werden noch Gattung und Exemplar als logische Gegensatzpaare, sondern als gedankliche Ausdrücke von real koexistierenden universellen Seinsbestimmungen (vgl. Lukács 1984. 40 f.).

Bei ihm sind daher auch die Entfremdungsphänomene ebenso wie die menschliche Gattungsmäßigkeit und Persönlichkeit gleichermaßen Produkte der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, die sich mit dieser ständig fortentwickeln. Er lehnt dabei einerseits einen naiv-mechanischen Fortschrittsbegriff ab, welcher die technische Weiterentwicklung der Produktivkräfte als alleinigen Maßstab des Fortschritts vergöttert und dabei die unaufhebbaren, natürlichen Grundlagen des Menschen aus den Augen verliert und zu zerstören droht.[21][21] Desgleichen argumentiert er andererseits gegen eine romantische Verklärung früherer, vermeintlich goldener Zustände, wobei er bei deren Vertretern vielfach eine durchaus hellsichtige und beißende Kritik der modernen Entfremdungsphänomene ausmacht (vgl. Lukács 1986. 586 f.).

So ist mit der fortschreitenden gesellschaftlichen Entwicklung ein durchaus steigender Grad der Entfremdung vereinbar, insbesondere in der Form der relativ neuzeitigen Selbstentfremdung (vgl. Lukács 1984. 194): Denken wir nur an das Phänomen weitgehend intrinsischer Motivation und Selbststeuerung im Arbeitsprozess, von Ingenieuren etwa, mittels derer ein höheres Ausbeutungsniveau angestrebt wird. Der höhere Ausbeutungsgrad ist tatsächlich der ökonomische Ausdruck einer gesteigerten Selbstentfremdung. Diese funktioniert dabei umso reibungsloser, je überzeugter der betroffene Ingenieur daran glaubt, seine selbstgesteuerte Produktivitätssteigerung diene eigentlich seiner individuellen Selbstverwirklichung.[22][22] Von neoliberalen Herrschaftsideologen wie Richard Florida werden entsprechende Schichten zur neuen, angeblich hegemonialen „kreativen Klasse“ stilisiert (vgl. Florida 2006). Die Steigerung des Grades der Selbstentfremdung im oberen Segment der Lohnabhängigen geht dabei einher mit der Ausbreitung von zum Teil überwunden geglaubten primitiven Entfremdungsformen im unteren Segment prekarisierter Lohnarbeit (vgl. Altvater, Mahnkopf 2002. 81 ff.). Die beiden gegenläufigen Entwicklungen, welche im Übrigen ein gegenwärtiges Beispiel für die Lukácssche These von der Ungleichmäßigkeit als typische Form sozial-historischer Prozesse (vgl. Lukács 1984. 178) darstellen, dienen dabei letztlich der Steigerung des Ausbeutungsgrades.

Notwendigkeit existiert nur bedingt, niemals absolut

Lukács’ Fortschrittskonzeption ist auf die mögliche Entfaltung der individuellen Persönlichkeit als Horizont der gesellschaftlichen Entwicklung ausgerichtet. Allerdings dürfe man die historische Tendenz zur Höherentwicklung des menschlichen Wesens nicht mit einer irgendwie gearteten Garantie oder gar absolut innewohnenden Notwendigkeit verwechseln. Für Lukács ist der mechanische Materialismus der absoluten Notwendigkeit in der Stalin-Periode – ebenso wie derjenige der zweiten Internationale – selbst eine erstarrende Verdinglichung des Marxismus, welche eine wesentliche Ursache für seinen (vorläufigen) Niedergang bilde (vgl. Lukács 1986. 548). Bei Marx habe es überhaupt keine absolute Notwendigkeit gegeben, sondern nur eine bedingte Wenn-Dann-Notwendigkeit (zur ontologischen Entwicklung dieser Kategorie vgl. Lukács 1984. 103 f. u. 151 ff.), und immer nur das Denken in möglichen Alternativen. Lukács erinnert in diesem Zusammenhang (vgl. Lukács 1984. 179) an die Stelle im Kommunistischen Manifest, nach der im Klassenkampf die unterdrückte Klasse letztlich siegreich sein könne – es sei denn, der Kampf ende mit dem Untergang beider Klassen (vgl. Marx, Engels 1846-1848. 463). So gibt es für Lukács letztlich eine Zukunft für die Menschheit zwar nur in einer kommunistischen Gesellschaft, aber diese mögliche Entwicklungsperspektive beinhalte keinen Automatismus, keine den Erfolg dieser Entwicklung absolut garantierende Macht.[23][23] In diesem Sinne wandte sich Lukács schon lange vor 1989 gegen die gebetsmühlenartig vorgetragene Formel vom „unumkehrbaren Sieg des Sozialismus“. Eine aufgeklärte ontologische Analyse der Wirklichkeit kann Lukács zufolge grundsätzlich nur bedingte Gesetzmäßigkeiten feststellen, absolute Notwendigkeiten gehören für ihn einer verdinglichenden Sichtweise an.[24][24]

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[1][25] Als Bd 13 (Lukács 1984) einschließlich der Prolegomena und Bd 14 (Lukács 1986) der Lukács-Werkausgabe veröffentlicht.

[2][26] Als Bd 11 Ästhetik 1. Die Eigenart des Ästhetischen. 1. Halbband (Lukács 1963a) und Bd 12 Ästhetik 2. Die Eigenart des Ästhetischen. 2. Halbband (Lukács 1963b) der Lukács-Werkausgabe veröffentlicht.

[3][27] „Philosophia Ultima“ meint hier, dass sie sich die Ergebnisse der Wissenschaften kritisch aneignet und dabei der auf das Sein gerichteten „intentio recta“ in der Linie „Alltag-Wissenschaft-Ontologie“ folgt (vgl. Lukács 1984. 425 u. 429), statt als klassische (idealistische) „Philosophia Prima“ dogmatisch postuliert zu werden. Davon unbeschadet versteht sich die kritische Ontologie von Lukács – wie diejenige von Hartmann – als grundlegende und insofern erste Philosophie, auf der beispielsweise die Ethik aufzubauen hat (vgl. Tertulian 2005b. 78).

[4][28] Mit dem Verwerfen der Dialektik der Natur eigentlich nur das gesellschaftliche Sein als Sein anerkannt zu haben, bezeichnet Lukács als den „grundlegenden ontologischen Fehler“ seines wohl einflussreichsten Jugendwerks Geschichte und Klassenbewußtsein von 1923 (als Band 2 der Lukács-Werkausgabe im Jahr 1968 veröffentlicht, s. Lukács 1968a), da dadurch „jene Universalität des Marxismus vollkommen fehlt, die aus der anorganischen Natur die organische ableitet und aus der organischen Natur über die Arbeit die Gesellschaft“. (Vgl. Eörsi 2005. 112) Auf weitere folgenschwere Schwächen von Geschichte und Klassenbewußtsein wird im Folgenden noch zurückzukommen sein.

[5][29] Einen knappen aber präzisen Überblick über das „Programm“ der Lukácsschen Ontologie findet sich in Benseler, Jung 2005. 483 ff., sowie etwas ausführlichere deutschsprachige Präsentationen in Tertulian 1986 und Hahn 2001. Darüber hinaus sei verwiesen auf die zahlreichen Beiträge in Dannemann, Jung 1995.

[6][30] Allerdings bedurfte es nicht erst des Endes des realsozialistischen Experiments, damit die Apologeten der kapitalistischen Gesellschaft das „Ende der Geschichte“ verkündeten. Lukács selbst hat sich wiederholt mit solchen Positionen, insbesondere neopositivistischer Provenienz, auseinandergesetzt (vgl. beispielsweise Lukács 1986. 586).

[7][31] Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Lukács meinte, noch der schlechteste Sozialismus sei besser als der beste Kapitalismus (vgl. Lukács 1969, zitiert nach Eörsi 1981. 10 f.). Trotz aller Einschränkungen sah er den Sozialismus als historisch einen Schritt voraus an, weil in ihm die ökonomische Grundlage der Ausbeutung weitgehend abgeschafft war – womit jedoch nur sehr bedingt etwas ausgesagt ist über den Grad fortdauernder Entfremdung.

[8][32] Mit der Untersuchung der Entfremdung und insbesondere der Religion als Entfremdungsphänomen setzt sich Lukács aus ontologischer Perspektive an mehreren Stellen sowohl in der Ontologie als auch in der Ästhetik auseinander (vgl. insbesondere Lukács 1963b. 675 ff. u. 775 ff., Lukács 1984. 193 ff. u. 398 ff. u. Lukács 1986. 501 ff.).

[9][33] Lukács polemisiert selbst noch gegen die, auch ohne namentliche Nennung, unschwer auszumachenden Anhänger des Althusserschen Strukturalismus, welche „das Problem der Entfremdung für eine Spezialfrage des jungen (noch philosophischen) Marx halten, über die der reife ‚Ökonom’ hinweggeschritten sei“ (Lukács 1986. 503). Beispielsweise zitiert er aus den Marxschen Theorien über den Mehrwert zur Höherentwicklung der Individualität und der Gattung Mensch unter Aufopferung von Individuen (vgl. Marx 1863. 111), welche in seinen Augen auch den vorgeblich „rein ökonomisch-wissenschaftlichen“ Marx als Theoretiker der Entfremdung ausweisen, die in der fortschreitenden Entwicklung der objektiven bei gleichzeitiger Vergewaltigung der subjektiven Seite bestehe (vgl. Lukács 1984. 193). Tertulian wagt gar die These, dass auf der Grundlage weiterer Bezüge (z.B. zur „Gattungsmäßigkeit für sich“ im Kapital) dem „epistemologischen Bruch“ des Althusserschen Marxismus ein gehöriger Schlag versetzt wird, von dem er sich schwerlich erholen werde (vgl. Tertulian 2006. 36 f.; für eine ausführliche Kritik der Reduktion des Entfremdungsbegriffs auf das Marxsche Frühwerk vgl. auch Sève 1974).

[10][34] Bei Michael Heinrich stützt sich seine Wiederaufnahme der die Entfremdungsproblematik ablehnenden Theorie des konzeptionellen Bruchs bei Marx auf seine zentrale These, wonach (auch die Marxsche) Wesensphilosophie auf dem theoretischen Felde des „Individualismus“ der bürgerlichen Ökonomie verbleibe. Dem Paradigma des „Individualismus“ zufolge leiten sich die Gesellschaftstrukturen aus dem inneren Wesen der Individuen ab (z.B. könnte eine Lesart sein, die Konkurrenzgesellschaft aus dem – jedem Menschen innewohnenden – Egoismus herzuleiten). Marx’ Wesensphilosophie, so sie denn überhaupt noch beim reifen Marx aufscheine, bleibe nun – ambivalent – diesem „Individualismus“ verpflichtet, welchen er doch gerade angetreten sei, mittels seiner Kritik der politischen Ökonomie in einer Kuhnschen wissenschaftlichen Revolution zu überwinden (vgl. Heinrich 2002. 31 ff.).

Aus Sicht von Lakatos versucht Heinrich mit seiner These der Ambivalenz der Marxschen Grundkategorien – legitimer Weise – den „harten Kern seines Forschungsprogramms“ mit starken Hilfshypothesen abzusichern (vgl. Lakatos 1982), während Popper ihm vermutlich vorgeworfen hätte, eine illegitime Immunisierungsstrategie für seine Theorie zu verfolgen (vgl. Popper, Hansen 1994). Heinrichs Ambivalenzthese zufolge wäre Marx auch nach seinem „revolutionären“ Bruch dem theoretischen Feld der (neo-)klassischen Ökonomie noch an vielen Stellen verbunden geblieben: Wenn sich also beim reifen Ökonomen Marx noch „Überbleibsel“ eines Entfremdungsdiskurses bzw. einer menschlichen Gattung(smäßigkeit) ausfindig machen lassen, so belegen (in dieser Theorieanlage) solche Beispiele angesichts der Marxschen Inkonsequenz nur Heinrichs (vorausgesetzte) Ambivalenzthese, keinesfalls aber die von Lukács (und anderen) behauptete Kontinuität des Entfremdungstopos im Oeuvre von Marx. Wichtiger aber – und hier herrscht sicherlich Einigkeit mit Heinrich – als die Frage der korrekten Marx-Exegese, ist diejenige nach der angemessenen Gesellschaftsanalyse, wozu die Ontologie des gesellschaftlichen Seins von Lukács einen tiefgehenden und umfassenden Erklärungsansatz bietet. Weit entfernt vom „methodischen Individualismus“ des Mainstreams bürgerlicher Sozialwissenschaft – von deren zentralem Paradigma des „homo oeconomicus“ man sich etwa soviel Realitätsgehalt versprechen sollte wie vom christlichen Abendmahlmythos – leitet der reife Lukács weder die Gesellschaftsstrukturen allgemein noch die in wechselseitiger Bedingtheit sich historisch entwickelnden Kategorien wie Entfremdung, (sich entfaltende) Persönlichkeit und menschliche Gattungsmäßigkeit etc. aus der (gegebenen) inneren Verfasstheit der Individuen ab. Allerdings stellt sich die Ontologie die Aufgabe, eine materialistische Subjekttheorie zu entwickeln, welche das teleologische Handeln der menschlichen Individuen zum Zentralpunkt des (selbsterschaffenen) gesellschaftlichen Seins macht.

[11][35] Lukács wandte sich gegen die „stalinistische“ Haltung, der zufolge die bloße Einführung des Sozialismus die Entfremdungen überwinde (vgl. Lukács 1986. 551). So wurde im Philosophischen Wörterbuch der DDR die Entfremdung auf ein rein kapitalistisches Phänomen reduziert (vgl. Buhr et al. 1975. 326), deren Übertragung auf sozialistische Verhältnisse sie in eine „abstrakte, unhistorische Kategorie“ (Buhr et al. 1975. 330) verwandele. Der Begriff der Verdinglichung hingegen, bei Lukács eine zentrale Vermittlungskategorie der Entfremdung, wurde gar nicht erst aufgeführt.

[12][36] Insofern irrt Heinrich, wenn er meint feststellen zu können, dass vor der Veröffentlichung der Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte in den 1930er Jahren „niemand auf die Idee [kam,] im Kapital nach einer Theorie des menschlichen Wesens und der Entfremdung zu suchen“ (vgl. Heinrich 2002. 34). Für Lukács als einem der, wenn nicht gar dem „Gründungsvater“ (1923) des nach-Marxschen Entfremdungsdiskurses ist die Lektüre dieser Manuskripte in den 30ern dagegen der katalytische Ausgangspunkt seiner Hinwendung zur Ontologie (s. nachfolgend) und damit insbesondere zur materialistischen Fassung des Entfremdungskonzepts (vgl. Lukács 1968b. 38).

[13][37] Tertulian nennt zusammenfassend in seiner Einleitung zur französischen Ausgabe von Lukács’ Schrift Dialectique et spontanéité (2001) als weitere wichtige Leistungen des berühmten Jugendwerks, welche Lukács dauerhaft, wenn auch auf neuer ontologischer Basis, zu bewahren trachtete, u.a. den nachhaltigen Anti-Naturalismus bei der Interpretation des gesellschaftlichen Seins, die mächtige Wiederaufwertung der Hegelschen Dialektik, die ausgeprägte Geschichtlichkeit der Kategorien und die Irreduktibilität der Praxis (vgl. Tertulian 2001. 16 f.). Die lange Zeit in Archiven verschollene Schrift Chvostismus und Dialektik (1925), in welcher Lukács Geschichte und Klassenbewußtsein gegen die unmittelbaren Angriffe der 3. Internationale, insbesondere von Deborin und Rudas in der Zeitschrift Arbeiterliteratur, verteidigte, wurde zwar 1996 in Budapest veröffentlicht (eine engl. Übersetzung folgte im Jahr 2000), aber in Deutschland steht ihre vollständige Publikation noch aus. In Z 31 (September 1997) erschien der einleitende Abschnitt des ersten Teils dieser Studie (vgl. Lukács 1997) und im Lukács-Jahrbuch 1998/99 das 2. Kapitel (vgl. Lukács 1999).

[14][38] In ähnlichem Zusammenhang kritisiert Lukács auch die den Tod Gottes proklamierende Position Nietzsches und des Existentialismus im Anschluss an Heidegger als einen „zu nichts verpflichtende(n) religiöse(n) Atheismus“ (Lukács 1986. 655) – welcher zwar ohne Gott auskomme, aber ansonsten Züge einer quasi-religiösen Vorbestimmtheit zu ewiger menschlicher Entfremdung trage.

[15][39] Lukács weist die Reduktion von Entfremdung und Verdinglichung auf bloße Bewusstseinsphänomene bzw. lediglich unrichtiges Denken über den Menschen zurück (vgl. Lukács 1986. 642 f.). Auch diese Kategorien sind erst in zweiter Linie – richtige oder falsche – Bewusstseinsspiegelungen, primär jedoch real seiende Prozesse. Ähnlich zeigt Heinrich, warum die Auffassung des Fetisch-Begriffs bei Marx als bloß falsches, verschleierndes Bewusstsein der wirklichen Verhältnisse zu kurz greife (vgl. Heinrich 2004. 71 f.). Dass es Heinrich ebenfalls unter dem Bewusstseinsaspekt ablehnt, Ideologie mit „falschem Bewusstsein“ gleichzusetzen (vgl. Heinrich 2004. 71 f.), wie es beispielsweise von der Frankfurter Schule praktiziert wird, ist dagegen problematisch. Ohne hier in gebührender Ausführlichkeit darauf eingehen zu können, sei die grundsätzliche Position von Lukács zum Ideologiebegriff doch kurz benannt (vgl. Lukács 1986. 397 ff.): Zwar handele es sich bei Ideologien tatsächlich um Bewusstseinsphänomene; die lediglich abschätzige Verwendung des Ideologiebegriffs als eine die Wirklichkeit verfälschende Auffassung verkürze jedoch die Marxsche Sichtweise, da grundsätzlich jede menschliche Äußerung ideologiefähig sei. Wie Lukács in Auseinandersetzung mit dem Ideologiebegriff von Gramsci zeigt, bestimmt sich der Ideologiecharakter nicht vom bloßen Inhalt eines beliebigen Gedankenkomplexes her, sondern von seiner Funktion in gegebenen sozialen Konflikten.

[16][40] Insofern ist dem evangelischen Theologen Meyer beizupflichten, dass die Marxsche Kritik der Religion nicht ihre „platte Abschaffung“ meine und man den in ihr ausgedrückten ‚Seufzer der bedrängten Kreatur’ (Marx) nicht „wissenschaftlich weginterpretieren oder gar staatlich verbieten“ könne (vgl. Meyer 2007. 87 f.). Seiner eigenwilligen Interpretation jedoch, wonach die „materialistische Untersuchung“ von Marx „auch eine kritische Theologie“ sei (vgl. Meyer 2007. 89), lässt sich dagegen kaum zustimmen – nicht nur aufgrund der scheinbar den theologischen Ansatz belegenden, gelinde gesagt großzügigen Auslegung einer Fußnote im Marxschen Kapital. Bei der ideologischen Auseinandersetzung zwischen (idealistischer) Religion und (materialistischem) Marxismus handelt sich eben nicht um eine nur „angebliche“, wie Meyer meint (vgl. Meyer 2007. 87), sondern um eine tatsächliche „Unvereinbarkeit im Weltanschaulichen“, bei der Lukács keinen Spielraum für Konvergenz sah (vgl. Lukács 1987. 26) – welche aber durchaus mit der von dem Befreiungstheologen Meyer geforderten „unbedingte(n) Solidarität“ (vgl. Meyer 2007. 87) zwischen Marxisten und fortschrittlichen Christen in den politischen Alltagskämpfen vereinbar ist (vgl. auch Lukács 1987. 41).

[17][41] Die a-historische Herangehensweise verhindere dagegen ein wahrhaftes Verständnis des gesellschaftlichen, wie letztlich überhaupt jeden Seins, und rufe verdinglichende Vorstellungen bzw. – in der Marxschen Terminologie – Fetischisierungen hervor. Schon in Geschichte und Klassenbewußtsein sei allerdings Verdinglichung fälschlicherweise als Synonym für Entfremdung verwandt worden (vgl. Lukács 1968b. 27) – auch dies ein Irrtum von einiger Wirkmächtigkeit. Lange vor der Entstehung der Entfremdungsphänomene – gebunden an die geschichtliche Herausbildung der menschlichen Persönlichkeit (vgl. Lukács 1986. 639) –, gehören „unschuldige“ Verdinglichungen, wie beispielsweise in der sprachlichen Benennung, zur menschlichen Aneignungsform der Wirklichkeit, welche auch auf einem höheren menschlichen Entwicklungsniveau nicht notwendig in entfremdende Verdinglichungen münden (vgl. Lukács 1986. 579). Entgegen den ebenfalls stark durch Lukács’ Jugendwerk beeinflussten tragisch-mystifizierenden Verdinglichungstheorien verortet der reife Lukács jedoch in der fixierenden, dinghaften Auffassung der tatsächlich universal prozesshaften Welt das Kernelement der Verdinglichung. Dieser schon im Alltagsbewusstsein (notwendig) vollzogenen Reduktion der Objekte auf ihre Erscheinungsebene der „erstarrenden Dinghaftigkeit“ setzt er den ontologischen Begriff der „prozessierenden Gegenständlichkeit“ alles Bestehenden entgegen (vgl. Lukács 1984. 89 ff. u. Lukács 1986. 576 ff.).

[18][42] Lukács betont, dass die Entfremdung eine vielfältige, plurale gesellschaftliche Erscheinung sei, deren Momente in ein und demselben Menschen relativ selbstständig nebeneinander existieren, ja sogar im Konflikt miteinander stehen können. Er nennt beispielsweise den in der Arbeiterbewegung häufig zu beobachtenden Fall, dass (männliche) Arbeiter ihre Entfremdung als solche bekämpfen, gleichzeitig ihre Frauen tyrannisch entfremden und sich damit zusätzlich auch einer Selbstentfremdung aussetzen (vgl. Lukács 1986. 528 f.).

[19][43] Die gängige Modernisierungskritik stellt dagegen, oft treffend die Schattenseiten moderner Gesellschaft ausleuchtend, eher auf die technisch-sachliche Fremdbestimmung und Entfremdung des Menschen ab, im Sinne einer Entkopplung von System und Lebenswelt, welche das Unbehagen in der Moderne hervorruft (vgl. Vellay 2012a). Dieses aus Geschichte und Klassenbewußtsein abgeleitete Entfremdungs- und Verdinglichungsverständnis (vgl. Dannemann 1997. 108 ff.) prägt nicht nur die Tradition der Frankfurter Schule (Habermas 1981) bis heute (Honneth 2005 u. Jaeggi 2005), sondern ist auch weit darüber hinaus zum einen in der Wissenschaft anzutreffen, beispielsweise bei Richard Sennett (Sennett 1998), dessen intellektueller Werdegang ebenfalls von der Auseinandersetzung mit Lukács geprägt ist (vgl. Sennett 1982), und zum andern in Literatur und Film, beispielsweise im Roman Der Wert des Menschen (Emmanuel 2000), welcher 2007 von Nicolas Klotz unter dem Titel La Question humaine verfilmt wurde. Allerdings führen diese sich auf den jungen Lukács stützenden „Traditionsstränge kritischer Theorie, die Modernisierungsprozesse ökonomischer und nichtökonomischer Art als Rationalitätszuwachs und Passionsgeschichte beschreiben“ (Dannemann 1997. 110), auch die Schwächen seines Jugendwerks fort, insbesondere die schon 1923 fehlende Unterscheidung von Vergegenständlichung und Entfremdung. Sie legen daher den Akzent auf die Fremdbestimmung des Menschen durch die „von der instrumentellen Vernunft“ geschaffenen Strukturen. Hinter einer oft (an Rousseau anknüpfenden) romantisierenden und technikzentrierten Modernitätskritik gerät die entscheidende Dimension des Entfremdungsbegriffs als kapitalismuskritisches Topos aus dem Blick und wird – bestenfalls – bis zur Unkenntlichkeit in den Hintergrund gedrängt.

[20][44] Die Vorstellung einer „menschlichen Natur“ und aus ihr abgeleiteter „menschlicher Grundbedürfnisse“ als notwendigem Referenzpunkt für die Erneuerung des marxistischen Entfremdungskonzepts reklamieren derzeit ausdrücklich einige Autoren der Zeitschrift Actuel Marx in Frankreich, wie Yvon Quiniou und Tony Andréani (vgl. Quiniou 2006. 79 ff.). Bei Quiniou geht dieses Element einer – voluntaristisch gesetzten – „marxistischen“ Ethik einher mit dem Versuch einer biologistischen Herleitung menschlicher Werte und Moralvorstellungen. Damit meint er, unter Bezugnahme auf Darwin, die Vereinbarkeit von Materialismus und Moral sicherzustellen (vgl. Quiniou 2002). Aus der Sicht von Lukács verfehlt er damit ein wesentliches Merkmal des spezifisch Neuen am gesellschaftlichen Sein. Dagegen analysiert Lukács in seiner Ontologie – sich von mechanisch-materialistischen ebenso wie idealistischen Vorstellungen abgrenzend – die Entstehung von Werten (bis hin zu Moral und Ethik) als einen auf der Arbeit basierenden gesellschaftlichen Prozess der menschlichen Selbsterschaffung (vgl. u.a. Eörsi 2005. 196).

[21][45] So lässt sich der rücksichtslose Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen, welcher unter dem Primat der Handlungsmaxime „Augen zu und durch zum ... global warming“ zu stehen scheint, durchaus auch als Topos der Lukácsschen Entfremdungstheorie interpretieren. Allerdings hätte Lukács vermutlich die spezifische Prägung der ökologischen Frage durch die kapitalistische Profitmaximierung hervorgehoben.

[22][46] Wenn auch subjektive Bewusstseinsprozesse eine wichtige Rolle in den Entfremdungserscheinungen spielen, insbesondere bei den Versuchen ihrer Überwindung, so können die Entfremdungsphänomene doch keineswegs auf das subjektive Empfinden allein reduziert werden, ja Phänomen und Empfindung stehen sogar oft in einem konträren Verhältnis zueinander: die objektiven Lebenssituationen eines Sklaven, Prostituierten, Proletariers, Ingenieurs oder auch Kapitalisten beispielsweise geben noch keine unmittelbare Auskunft über das subjektive Erleben der jeweiligen sozialen Stellung, wohl aber entsprechen ihnen jeweils spezifische, historisch geprägte Entfremdungsverhältnisse.

[23][47] Diese Ablehnung der Auffassungen von absoluter Notwendigkeit und der einheitlichen und direkt gradlinigen Fortschrittlichkeit ist ein Korrelat der Ablehnung jeglicher Geschichtsteleologie und der ihren Verlauf garantierenden, transzendenten Mächte. Obschon die gesellschaftliche Entwicklung eine Vielzahl von teleologischen Einzelakten der Individuen zur Grundlage hat, gibt es nur einen „ausschließlich kausalen Ablauf eines jeden historischen Geschehens, das in seiner Ganzheit nichts Teleologisches kennt“ (Lukács 1984. 189).

[24][48] Eines der Grundmotive in der Ontologie von Lukács ist die Ablehnung der metaphysischen Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit im menschlichen Handeln (vgl. Lukács 1984. 328), wie sie sowohl im Idealismus als auch im mechanischen Materialismus anzutreffen ist. Im Rahmen der Entwicklung seiner universellen Kategorienlehre, darunter der Modalkategorien, widmet er sich wiederholt ausführlich der Notwendigkeit (insbesondere da sie die – verabsolutierte – Zentralkategorie sowohl der religiösen Ontologien als auch der erkenntnistheoretisch bestimmten idealistischen Philosophie bis hin zum mechanischen Materialismus im „Vulgärmarxismus“ ist) und begründet sowohl für die Natur als auch verstärkt für die Gesellschaft die Konzeption einer Wenn-Dann-Notwendigkeit (vgl. dazu Lukács 1984, insbesondere in den Prolegomena: 74 f., 98 f., 103 f. u. 151 ff., sowie zur Rolle des Zufalls: 145 ff., aber auch im Hartman-Kapitel: 462 ff.). So ist beispielsweise der menschliche Zivilisationsprozeß (Zurückweichen der Naturschranke in der Entwicklung der menschlichen Gattungsmäßigkeit) durch die universelle Entfaltung des Zufallsmoments im gesellschaftlichen Sein geprägt (vgl. Lukács 1984. 157). Die Herausarbeitung des widersprüchlichen Wechselspiels zwischen der ökonomischen Determiniertheit „bei Strafe des Untergangs“, welche nie völlig eindeutig und absolut „notwendig“, sondern immer nur bedingt ist, und den beständigen, unausweichlichen Alternativentscheidungen der Individuen in der menschlichen Praxis bildet eine der wesentlichen Stärken der Lukácsschen Ontologie (vgl. beispielsweise Lukács 1986. 512f. sowie in Kritik der dualistischen Lesart des Marxismus Lukács 1986. 298 f.).

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