Das Virus und die Betriebe

Eingestellt, 6.5.21

06.05.2021
von Jürgen Reusch

Nun sollen es also „Bundes-Notbremse“ und neues Infektionsschutzgesetz richten. Mehr vom Selben, während die dritte Welle der Corona-Pandemie weiter anschwoll. Das staatliche Krisenmanagement blieb wie bisher fixiert auf Einschränkungen des öffentlichen Lebens und des privaten Bereichs. Die Schieflagen neoliberaler Krisenpolitik wurden eher noch schiefer: Gesundheitssystem, Kitas, Schulen, Unis, Kultur, große Teile von Handel und Kleingewerbe konnten sehen wo sie blieben. Nur „die Wirtschaft“ blieb unbehelligt.

Die Chance, die aufbrandende dritte Welle durch einen harten, auch die großen Unternehmen einschließenden Lockdown frühzeitig zu brechen, war wahrscheinlich schon im Herbst 2020 vertan worden. Bis heute hält das staatliche Krisenmanagement eisern daran fest, dass vor allem das produzierende und verarbeitende Gewerbe – auch das nicht systemrelevante[1] - von Eingriffen und Beschränkungen ausgenommen bleiben müsse, zumal die Konjunktur wieder angezogen hat. Nachts Ausgangssperre, morgens in vollen Bahnen zur Arbeit, tagsüber im Betrieb, abends fernsehen oder ein bisschen spazieren gehen – soll das im Ernst die Lösung sein? Ohne Gesundheitsschutz in den Betrieben kann die dritte Welle schwerlich gebrochen werden. Und da ist es nicht damit getan, dass Betriebe Homeoffice und Tests verpflichtend anbieten müssen. Dazu gehört sehr viel mehr.

Ohne „berufliche und private Kontakte“ einzuschränken gehe es nicht, versichert die Bundesregierung in ihren Erläuterungen zum Infektionsschutzgesetz. Nur welche beruflichen Kontakte sind gemeint? Noch immer gilt der Beschluss der Bund-Länder-Konferenz vom 28. Oktober 2020, der Industrie solle „sicheres Arbeiten möglichst umfassend“ ermöglicht werden. Auch die Novelle des Infektionsschutzgesetzes hat die größeren und großen Unternehmen der Industrie nicht im Blick. Immerhin arbeiten rund 13,5 Millionen Menschen im produzierenden und verarbeitenden Gewerbe. Sie tun das vor Ort, im Betrieb.

Nach Informationen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ist die Zahl der Betriebe, die vom Lockdown betroffen sind, in diesem Jahr sogar leicht rückläufig. Im Januar betraf das 28% der Betriebe, Anfang April waren es noch 23%. Betroffen war aber vor allem das Gastgewerbe (87%), daneben Handel und personennahe Dienstleistungen, Unterhaltung und Erholung.[2] Der Kernbereich der exportorientierten Wirtschaft bleibt ausgenommen und genießt weiter Sonderrechte. Und verteidigt sie eisern. Selbst der schwache Versuch der Bundesregierung, vor Ostern zwei zusätzliche „Ruhetage“ – also einen Mini-Lockdown – für die Industrie einzuführen, scheiterte am Widerstand der Automobilindustrie und des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI).[3] Die Kanzlerin musste öffentlich zurückrudern.

Zankapfel Testpflicht

Lediglich der Konflikt um die Testpflicht in den Betrieben trübte im Frühjahr die gute Laune der großen Konzerne – aber nur ein bisschen. Eher galt hier das Motto „Lerne klagen, ohne zu leiden“. In Anbetracht der zugespitzten Infektionslage, der deprimierenden Aussicht auf weiteren Dauerlockdown und des wachsenden Unmuts in der Bevölkerung kam das staatliche Krisenmanagement im April dann doch nicht umhin, die Unternehmen wenigstens in diesem einem Punkt etwas mehr in die Pflicht zu nehmen.

Das war neu. Bisher hatte sich das staatliche Krisenmanagement in diesem Punkt lediglich zu Appellen und Bitten an die Wirtschaft durchringen können. So in den Bund-Länder-Beschlüssen vom 3. März und beim virtuellen Treffen von Bund und Ländern am 22. März. Nur Sachsen und Berlin schrieben Tests verbindlich vor. Das Wirtschaftsministerium machte sich zum Fürsprecher der Unternehmen, es blieb zunächst bei einer freiwilligen Selbstverpflichtung.

Erst als die Unternehmen durch eine Ergänzung der Corona-Arbeitsschutzverordnung und dann auch im neuen Infektionsschutzgesetz nun doch zu Tests verpflichtet werden sollten, stimmten deren Verbänden das große Wehklagen an. Die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI), der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) und der Zentralverband des deutschen Handwerks (ZDH) traten dem Vorhaben gemeinsam entgegen. Es kursierten Behauptungen wie, es handele sich um ein „Misstrauensvotum“ gegen die Wirtschaft, um „Staatsversagen“ und eine „politische Verzweiflungstat“. Erst mal sollte die Politik den öffentlichen Dienst in die Pflicht nehmen. Und wenn schon verpflichtende Tests, müsse der Staat die bezahlen. Es handele sich immerhin um 7,2 Milliarden Euro. Das Bundesarbeitsministerium rechnete dagegen vor, es seien nicht mehr als 3,9 Milliarden bis Ende Juni[4].

Der Protest mutete umso kurioser an, als „die Wirtschaft“ gleichzeitig behauptete, man habe doch längst auf freiwilliger Basis und Flächen deckend alles Nötige getan. Eilig wurden Erfolgsmeldungen präsentiert: Die BDA legte im März – allerdings nicht wirklich nachprüfbare – Zahlen vor, wonach schon 80 bis 90% der Unternehmen Tests anböten oder dies zumindest vorbereiteten. Das beweise, dass eine Testpflicht unnötig sei. Das Bundeswirtschaftsministerium sekundierte: Rund 70% der Betriebe böten bereits Tests an, und es würden immer mehr. Die Gewerkschaften, vor allem DGB und ver.di, die Partei Die Linke und sogar die christlich-demokratische Arbeitnehmerschaft äußerten Zweifel und beharrten auf einer Testpflicht. Ver.di stützte sich auf Zahlen des Bundesarbeitsministeriums, wonach 40% aller Betriebe ihren Beschäftigten Testangebote verweigerten, meist mit Hinweis auf zu hohe Kosten.

Wie notwendig eine Testpflicht für die Betriebe war, erwies schließlich die Auswertung von knapp 3000 Daten von Beschäftigten, die das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) bei der Hans-Böckler-Stiftung in der zweiten März-Hälfte vorgenommen hatte. Nur 23% der Befragten hatten zu dieser Zeit die Möglichkeit zu einem wöchentlichen Schnelltest erhalten. 6% hatten Tests in geringerem Umfang wahrnehmen können, weiteren 17% war er angeboten, aber noch nicht realisiert worden. Für die Mehrheit (54%) gab es keine Tests und wurden auch keine in Aussicht gestellt.[5]

Schließlich mussten Kapital und Wirtschaftsministerium in diesem Punkt nachgeben. Die Corona-Arbeitsschutzverordnung vom Januar 2021 wurde im April um einen Passus erweitert, der die Unternehmen verpflichtet, den Beschäftigten, die im Betrieb präsent sein müssen, mindestens einmal wöchentlich einen Test anzubieten, bei Tätigkeiten mit intensivem Kund*innenkontakt und hohen Infektionsrisiken zweimal pro Woche.[6] Das im April novellierte Infektionsschutzgesetz schärfte noch nach: Generell seien zwei Testangebote pro Woche notwendig. Die zum Testen benötigte Zeit gilt als Arbeitszeit. Die Kosten tragen die Unternehmen. Das ist völlig im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes, das den Unternehmen die Kosten des Arbeitsschutzes auferlegt. Für Kontrollen sind die Arbeitsschutzbehörden der Länder zuständig. Die dazu wegen jahrzehntelanger personeller Auszehrung allerdings gar nicht in der Lage sein werden.

Infektionsherd Betrieb

Der Konflikt um verpflichtende Tests hat die öffentliche Aufmerksamkeit auch auf die Frage gelenkt, welchen Anteil die Arbeitswelt eigentlich am Infektionsgeschehen hat. Die Seite des Kapitals behauptet: so gut wie gar keinen. Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf wagte mit Berufung auf das Robert-Koch-Institut (RKI) die kühne Behauptung: Nur „2 bis 4%“ aller Corona-Infektionen ereigneten sich in den Betrieben, in den privaten Haushalten dagegen 25% – die Unternehmen seien also „vorbildlich“ im Arbeits- und Infektionsschutz.[7]

Solche Legendenbildung ist auch deshalb möglich, weil die amtlichen Daten auch nach weit übereinem Jahr Pandemie das Infektionsgeschehen im „beruflichen Umfeld“ kaum abbilden können. Das liegt u.a. an der personellen Ausdünnung der rund 200 kommunalen Gesundheitsämter, die die Infektionsdaten an das RKI weitergeben. Es liegt auch an der mangelnden Kontrolltätigkeit der Arbeitsschutz-Aufsichtsbehörden der Länder, die den wirklichen Stand des Arbeits- und Infektionsschutzes in den Betrieben zu wenig überblicken. Betriebsräte, die Detje und Sauer im Rahmen ihrer Interviews zur „Corona-Krise im Betrieb“ befragten, bestätigten das.[8]

Inzwischen beziffert das RKI in seinen regelmäßigen Lageberichten den Anteil des „beruflichen Umfelds“ am Infektionsgeschehen derzeit auf etwa 11%.[9] Infektionen in weiteren beruflichen Bereichen wie Krankenhäuser, Pflegeheime und Gemeinschaftsunterkünfte – die ja auch Arbeitswelt sind und in denen sich auch Beschäftigte anstecken - sind hinzuzurechnen. Das RKI verweist zudem auf die Wechselwirkungen: Hohe Fallzahlen in privaten Haushalten (laut RKI 54%) hängen zusammen mit dem Infektionsgeschehen in Kitas, Schulen und eben auch Betrieben. Infektionen aus Betrieben werden in andere private und öffentliche Bereiche weitergetragen und umgekehrt.

Indizien für Ansteckungsrisiken in der Arbeitswelt liefert eine weitere Datenauswertung des WSI.[10] In den Belegschaften ist die Sorge vor Ansteckung nach der trügerischen Entspannung des vergangenen Sommers wieder gewachsen und inzwischen wieder genauso hoch wie zu Beginn des ersten Lockdowns. Zu Beginn dieses Jahres befürchtete jede/r dritte Befragte (35%), sich bei der Arbeit oder auf dem Weg dorthin infizieren zu können – erheblich mehr als im Juni/Juli 2020 (jeweils 25%) – dies vor allem wegen des als mangelhaft empfundenen Arbeitsschutzes in den Betrieben.

Besonders verbreitet ist diese Sorge verständlicherweise bei Beschäftigten, die im Beruf engen Kontakt mit anderen Menschen haben – vor allem in den Bereichen Erziehung und Soziales (57%) und bei den medizinischen Gesundheitsberufen (52%). Auch die Verkaufsberufe und die nichtmedizinischen Gesundheitsberufe (zu denen die Altenpflege gehört) haben ausgeprägte Infektionsängste (47 bzw. 46%). Doch auch viele Beschäftigte in Produktion und Fertigung fürchten sich vor Ansteckung (31%), ähnlich auch in den klassischen Bürotätigkeiten (29%).

Viel Industrie, viele Infektionen

Da, wo die amtlichen Daten keine solide Auskunft geben zum Infektionsgeschehen im beruflichen Umfeld, können wissenschaftliche Studien helfen, die Lücken teilweise zu füllen. Nico Dragano und Morten Wahrendorf, Medizinsoziologen an der medizinischen Fakultät und am Klinikum der Uni Düsseldorf, kommen in einer neuen Untersuchung regionaler Meldedaten zu dem Ergebnis: „Kreise mit einem hohen Anteil Erwerbstätiger in der Produktion hatten und haben im Durchschnitt höhere Inzidenzen im Vergleich zu Kreisen mit einem weniger ausgeprägten Produktionssektor. In Regionen mit hohen Anteilen stiegen die Inzidenzen zu Beginn aller drei Wellen früher und schneller an und erreichten ein höheres Niveau. Zusätzlich zeigt sich, dass die Inzidenzen nach Einführung von Interventionsmaßnahmen (Lockdown 1 und Lockdown ‚light‘) später zurückgingen als in Regionen mit geringerem Anteil an Erwerbstätigen in der Produktion. Aktuell sind die Inzidenzen in Regionen mit einem hohen Anteil von Produktionsarbeit wieder deutlich erhöht.“[11] Die Wissenschaftler haben im Februar/März 2021 die Covid-Infektionen in der Bevölkerung im Erwerbsalter in 401 Kreisen mit den Daten zur Erwerbstätigkeit nach Wirtschaftszweigen abgeglichen. Die Ergebnisse müssten zwar vorsichtig interpretiert werden, und es sei weitere Forschung notwendig. Aber auch in der dritten Welle zeige sich der Zusammenhang deutlich: „Das Muster höherer Infektionszahlen in Regionen mit einem hohen Anteil von Menschen in Erwerbsarbeit ist aktuell auch zu Beginn der dritten Infektionswelle zu erkennen.“ Also: Wo viel Industrie, dort auch viele Infektionen. Das spreche für Kontakt beschränkende Maßnahmen, wie sie in den aktuellen Corona-Arbeitsschutzregelungen vorgesehen seien, darunter auch „technische Maßnahmen zur Vermeidung von Kontakten“, Tests in den Betrieben und „Entzerrung“ von Kontakten beim Weg zur Arbeit.

Durchwachsenes Bild in den Betrieben

Betriebe haben also beträchtlichen Anteil am Infektionsgeschehen. Das wirft die Frage auf: Wie gut oder schlecht steht es denn um den Arbeits- und Infektionsschutz in diesem Bereich nach fast anderthalb Jahren Pandemie? Tests, Impfungen, Homeoffice – das alles kann Risiken mindern. Aber das reicht bei Weitem nicht, um die Infektionsketten rasch und wirksam zu brechen und um diejenigen zu schützen, die Tag für Tag in den Betrieb müssen. Die Daten belegen auch: Ein konsequenter Lockdown auch der Industrie würde beitragen, die hohen Inzidenz-Zahlen nach unten zu bewegen. Das war auch im Frühjahr und Frühsommer 2020 so. Allerdings nicht aufgrund konsequenter politischer Entscheidungen, sondern weil die unterbrochenen Lieferketten keine andere Wahl gelassen hatten.[12]

So haben Homeoffice, Testpflicht und Impfungen nicht nur einen eigenständigen Stellenwert im Schutz vor der Pandemie, sondern werden von der Industrie auch genutzt, um weitergehende Verpflichtungen abzuwehren. Denn im geltenden Arbeitsschutzrecht findet sich ein großer Instrumentenkasten, um die Beschäftigten in den Betrieben vor dem Covid-Infektionsrisiko zu schützen. Er wird allerdings kaum genutzt. Und die Unternehmer und ihre Verbände ziehen es vor, darüber auch wenig zu reden. Die Grundlage bilden hier das Arbeitsschutzgesetz aus dem Jahr 1996 und die zahlreichen Arbeitsschutzverordnungen, die das Gesetz konkretisieren. Einige dieser Verordnungen werden durch ein ganzes System von Regeln unterbaut, die zwar nicht unmittelbar verbindlich sind, aber den Unternehmern praktikable Wege zum Schutz der Belegschaften zeigen. Das Grundprinzip des Arbeitsschutzrechts ist die Prävention. Das gilt auch für die Zeit der Pandemie. Gesundheitsrisiken und Gefährdungen sollen frühzeitig erkannt und ausgeschlossen oder minimiert werden. Die Arbeitsbedingungen müssen so gestaltet werden, dass die körperliche und psychische Gesundheit der Beschäftigten nicht beeinträchtigt wird. Verhältnisprävention geht vor Verhaltensprävention.

Eine Besonderheit des Arbeitsschutzrechts ist, dass es selten abschließende Ge- und Verbote enthält, sondern zumeist allgemeine Schutzziele vorgibt, die in den Betrieben mit ihren unterschiedlichen Bedingungen konkretisiert werden müssen, um wirksam zu werden. Hier greifen dann Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte nach dem Betriebsverfassungsgesetz – soweit es in den Betrieben welche gibt. Diese Konkretisierung muss mit dem Instrument der so genannten Gefährdungsbeurteilung geschehen, die das Arbeitsschutzgesetz vorschreibt. Das hat bisher schon extrem schlecht funktioniert. Und auch in der Pandemie, also im inzwischen 25. Jahr des Arbeitsschutzgesetzes und der verpflichtenden Gefährdungsbeurteilung ist dieses Instrument für viele Unternehmen und Unternehmer unbekannt.[13] Gut die Hälfte aller Betriebe entzieht sich hartnäckig dieser Aufgabe, am meisten kleinere und mittlere Betriebe. Kontrollen und Sanktionen haben sie kaum zu befürchten.

Es liegt in der Logik neoliberalen kapitalistischen Wirtschaftens, betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz als eher lästige Pflicht zu betrachten und den damit verbundenen finanziellen und organisatorischen Aufwand so gering wie möglich zu halten. Schon lange bekannte und oftmals kritisierte Defizite und Mängel des Arbeitsschutzsystems sind nun in der Pandemie noch deutlicher offengelegt und verschärft worden. Innerhalb der EU rangiert Deutschland im Arbeitsschutz auf den hinteren Rängen.[14]

Das alles ließ seit Beginn der Pandemie für den potenziellen Infektionsherd Betrieb nichts Gutes ahnen. Zwar sind mit dem SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard und der gleichnamigen Arbeitsschutzregel im vergangenen Jahr neue Instrumente zur Eindämmung der Pandemie in den Betrieben hinzugekommen. Im Januar 2021 kam die SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung hinzu[15]. Und das am 1. Januar in Kraft getretene Arbeitsschutzkontrollgesetz soll dafür sorgen, dass die Einhaltung solcher Regelungen durch die Arbeitsschutzbehörden auch überprüft wird. In diesem Sinne ist in manchen Betrieben auch einiges getan worden. Schon allein die Furcht vor Betriebsschließungen bei Infektionsausbrüchen – wie bei der Schlachtfabrik Tönnies - hat dafür gesorgt. Aber das ist längst nicht überall so.

Das belegt z. B. eine Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion vom Dezember 2020. Ihr liegen Daten aus einer Betriebsbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zugrunde. In ihr gaben – bereits im vergangenen Spätsommer -– knapp 1600 Geschäftsleitungen Auskunft über ihre Arbeits- und Infektionsschutzmaßnahmen in der Pandemie.[16]

In der Tat gaben dort rund 80% der befragten Betriebe bzw. Betriebsleitungen an, sie hätten – zumindest einige -– einschlägige Maßnahmen umgesetzt. Mittlere und große Betriebe schneiden dabei besser ab als kleine und Kleinstbetriebe. Das bedeutet auch: Keine Maßnahmen in jedem fünften Betrieb. Und wo es sie gibt, überwiegt die Verhaltensprävention. Die Beschäftigten werden zu vorsichtigem Verhalten ermahnt, aber die Arbeitsbedingungen bleiben wie sie sind, auch wenn sie Kontaktminderungen erschweren. Die Belegschaften selbst sehen das kritisch. Laut einer aktuellen Beschäftigtenbefragung des WSI attestieren sie zwar zu 54% ihrem Arbeitgeber, seit Beginn des zweiten Lockdowns ausreichend aktiv geworden zu sein. Jede/r dritte Befragte (33%) sieht das aber nur mit Einschränkungen so, jede/r Achte gar nicht.[17]

Weg des geringsten Aufwands

Die SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregelungen unterstreichen die Verbindlichkeit der im Arbeitsschutzrecht üblichen Rangfolge der Schutzmaßnahmen: An erster Stelle technische, dann organisatorische und dann erst persönliche Schutzmaßnahmen. Das entspricht dem präventiven Ansatz des Arbeitsschutzrechts. Nicht die Menschen sollen sich an die Arbeit anpassen (müssen), etwa durch das Tragen von Schutzmasken, sondern die Arbeit muss an die Menschen angepasst werden, etwa durch größere Abstände, Trennwände, Entzerrung von Arbeitszeiten usw. Die Verantwortung dafür liegt bei den Unternehmen. Die dadurch entstehenden Kosten dürfen sie laut Arbeitsschutzgesetz nicht auf die Beschäftigten abwälzen.

Die Daten der BAuA zeigen aber, dass in den allermeisten Betrieben die persönlichen Schutzmaßnahmen im Vordergrund stehen, und hier wiederum oft nur in der Form von Verhaltensempfehlungen. So verwiesen nach der genannten Befragung 81% der Betriebe auf die Nies- und Hustenetikette, 75% empfahlen vermehrtes Lüften. Verbindliches Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen gab es schon seltener, durchschnittlich in 66% der Betriebe, in Großbetrieben aber auch nur zu 85%. Die Interviews von Detje/Sauer mit Betriebsräten und Gewerkschafter*innen kommen zu ähnlichen Befunden.[18]

Organisatorische Schutzmaßnahmen wurden schon deutlich seltener genannt: 58% der befragten Betriebe verkürzten die Reinigungsintervalle, mehr als ein Viertel der Betriebe tat das nicht, in den Großbetrieben unterließen das immer noch 15%. Lediglich 34% der Betriebe organisierten eine neue Arbeitszeit- und Pausengestaltung, um die Kontakte zwischen den Beschäftigten zu verringern. Risikogruppen wurden nur in knapp einem Drittel der Betriebe (29%) besonders geschützt; auch in Großbetrieben war das nur zu 66% der Fall. Insgesamt überwog die einfachste und billigste Maßnahme: 88% gaben an, sie hätten eine bessere Handhygiene ermöglicht, etwa durch mehr Handwaschgelegenheiten.[19]

Ganz am Ende der Skala rangierten die technischen Schutzmaßnahmen, die eigentlich Priorität haben müssten. In nur 34% der Betriebe wurden Schutzscheiben eingebaut, und lediglich die Hälfte der Betriebe, die Klima- und Lüftungsanlagen hatten, hatten diese auch überprüft. Insgesamt zeigt sich: „Das Krisenreaktionsmuster folgt damit leider einem grundlegenden Muster im Arbeitsschutz, nämlich der Dominanz verhaltenspräventiver Maßnahmen“.[20]

Auch eine weitere Befragung der genannten Arbeitsschutzbehörde unter über 700 betrieblichen und überbetrieblichen Arbeitsschutzakteur*innen zeigte ähnliche Ergebnisse.[21] Auch hier wurde vorwiegend berichtet von persönlichen Schutzmaßnahmen und Mahnungen zur Verhaltensprävention. Möglicherweise sind auch gar keine anderen Ergebnisse zu erwarten, wenn man Unternehmensleitungen fragt, ob sie in der Pandemie ihren Job gemacht haben.

Das WSI, das bei seiner Beschäftigtenbefragung die gleiche Tendenz feststellte, kritisierte diese falsche Rangfolge. Viele Betriebe setzten zu einseitig auf verhaltensorientierte Maßnahmen, ohne selbst die Arbeitsabläufe und die Arbeitsorganisation an die Bedingungen der Corona-Pandemie anzupassen. So beschränkten sich viele Unternehmen darauf, von ihren Beschäftigten die Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln oder das Tragen von Masken anzumahnen – passten aber die Leistungsanforderungen nicht an die veränderten Umstände an, die vor allem bei körperlich anstrengenden Tätigkeiten durch das dauerhaft erschwerte Atmen beim Tragen einer Maske entstehen können.[22]

Fazit

Ähnlich wie im Bildungs- und Gesundheitssystem hat der Crash-Test Corona-Krise die Widersprüche und strukturellen Defizite auch des Arbeitsschutzsystems deutlicher hervortreten lassen. Das neoliberale Dogma, dass der Staat das freie Unternehmertum und die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft von lästigen sozialen Beschränkungen so weit wie möglich freihalten muss, gilt weiter. Der Staat als ideeller Gesamtkapitalist hat sich gegenüber der „Wirtschaft“ mit Minimallösungen begnügt, um die Funktionsfähigkeit des kapitalistischen Reproduktionsprozesses einigermaßen zu sichern. Das Beispiel Testpflicht in den Betrieben hat gezeigt, dass aber auch das nur gegen heftigen Widerstand bestimmter Kapitalfraktionen durchgesetzt werden konnte. Das alles lässt zudem erahnen, welche Widerstände vom großen Kapital und seinen Unternehmensverbänden zu erwarten sein werden, wenn sie tatsächlich in die Bewältigung der Pandemie-Krisenfolgen einbezogen werden sollten.

[1] Carsten Bätzold, Betriebsratsvorsitzender im VW-Werk Kassel, des zweitgrößten VW-Werks in Deutschland, erklärte unumwunden, wenn acht oder zwölf Wochen lang keine Autos gebaut würden in Deutschland, passiere „gar nichts“. Es handele sich als nicht um ein „systemrelevantes Produkt“. S. das Interview mit ihm in: Die Autoindustrie am Scheideweg“. Denknetz-Working Paper 11/2020, S. 4; www.denknetz.ch.

[2] https://www.iab.de/de/informationsservice/presse/presseinformationen/becovidwelle11.aspx.

[3] https://www.automobilwoche.de/article/20210324/AGENTURMELDUNGEN/303239924/corona-bekaempfung-autoindustrie-warnt-vor-den-folgen-der-oster-ruhetage.

[4] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 4. und 14. 4. 2021.

[5] https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-schleppender-start-fur-wochentliche-corona-schnelltests-am-arbeitsplatz-31982.htm.

[6] https://www.bmas.de/DE/Service/Gesetze-und-Gesetzesvorhaben/sars-cov-2-arbeitsschutzverordnung.html.

[7] Neue Osnabrücker Zeitung, 13. 1. 2021.

[8] Richard Detje/Dieter Sauer: Corona-Krise im Betrieb. Empirische Erfahrungen aus Industrie und Dienstleistungen, Hamburg2021, z. B. S. 60.

[9] So etwa im RKI-Lagebericht vom 6. April 2021; https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Apr_2021/Archiv_Apr_2021.html.

[10] https://www.wsi.de/de/pressemitteilungen-15991-sorge-unter-beschaftigten-vor-corona-bleibt-unverandert-hoch-30611.htm.

[11] Nico Dragano/Morten Wahrendorf: Zusammenhänge zwischen dem Verlauf der Covid-19 Inzidenzen auf regionaler Ebene und Indikatoren zur Erwerbstätigkeit. Universitätsklinikum Düsseldorf/Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, 14. 4. 2021; https://www.uniklinik-duesseldorf.de/fileadmin/Fuer-Patienten-und-Besucher/Kliniken-Zentren-Institute/Institute/Institut_fuer_Medizinische_Soziologie/Forschung/Covid-19/210414_Report_Inzidenzverlaeufe_nach_regionalen_Indikatoren_zu_Wirtschaft_und_Beruf.pdf.

[12] Jörg Goldberg/André Leisewitz/Gerd Wiegel/Michael Zander: Lockdown light? Corona-Krise und Kapitalismus (IV), in: Z – Zeitschrift Marxistische Erneuerung, 125, März 2021, S. 92f.

[13] Ausführlich dazu: Christoph Schmitz/Hans-Jürgen Urban (Hrsg.): Demokratie in der Arbeit. Eine vergessene Dimension der Arbeitspolitik, Frankfurt/Main 2021, Datenanhang, S. 371ff. S.a. Andrea Fergen/Dirk Neumann: Corona-Prävention im Betrieb. Neue Herausforderungen für eine demokratische Arbeitsschutzpolitik, ebd., S. 163f.

[14] European Agency for Safety and Health at Work (EU-OSHA) 2019: European Survey of Enterprises on New and Emerging Risks (ESENER 3); https://osha.europa.eu/en/publications/third-european-survey-enterprises-new-and-emerging-risks-esener-3/view.

[15] S. ausführlich: Fergen/Neumann, a.a.O., S. 158ff.

[16] Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Fraktion Die Linke, Bundestagsdrucksache 19/25013, 2020. Die dem zugrundliegende Betriebsbefragung ist ausgewertet unter: BauA-Kompakt, Oktober 2020, www.baua.de.

[17] Auswertung des WSI-Portals Lohnspiegel.de mit Ergebnissen der Beschäftigtenbefragung zu Arbeitsschutzmaßnahmen der Arbeitgeber gegen Corona; www.wsi.de (Pressedienst 11.02.2021).

[18] Detje/Sauer, a.a.O., S. 59ff.

[19] S. Fußnote 16.

[20] Andrea Fergen/Dirk Neumann: Corona-Prävention im Betrieb, in: Christoph Schmitz/Hans-Jürgen Urban (Hrsg.): Demokratie in der Arbeit. Jahrbuch Gute Arbeit, Frankfurt/Main 2021, S. 165.

[21] SARS-CoV-2-Arbeits- und Infektionsschutzmaßnahmen in deutschen Betrieben. BAuA-Fokus, Februar 2021; www.baua.de.

[22] WSI, s. Fußnote 17.

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