Verschiebungen im Weltsystem II

Die VR China und die chinesisch-amerikanischen Beziehungen

März 2011

Mit den Veränderungen des internationalen Kräfteverhältnisses während des vergangenen Jahrzehnts sind die chinesisch-amerikanischen Beziehungen in den Brennpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Das ist verständlich, denn ihre strategische Ausrichtung und Gestaltung gewinnt zunehmende Bedeutung für die Lösung der brennenden globalen Probleme. In kaum noch zu zählenden wissenschaftlichen und politischen Veröffentlichungen wird versucht, dazu relevante dauerhafte Aussagen zu gewinnen. Das setzt jedoch auch ein wirklichkeitsgetreues Verständnis für die gesellschaftlichen Bedingungen, die nationalen Interessen und strategischen Ziele beider Staaten und ihre Berücksichtigung voraus. Während dies unter den hiesigen Linken für die USA mehr oder weniger gegeben scheint, trifft das auf die Volksrepublik China nicht zu. Das veranlasst mich, mich von dieser Seite der Einschätzung der chinesisch-amerikanischen Beziehungen zu nähern.

Nicht „alle Wege führen nach Rom“

Es sind vor allem die gesellschaftlichen Gegebenheiten Chinas, seine nationalen Interessen und seine Entwicklungsmöglichkeiten unter den gegebenen internationalen Bedingungen, die ich entweder unzureichend berücksichtigt oder umstritten sehe.

In der linken China-Literatur begegnen wir häufig zwei grundlegenden Sichtweisen, die in meinem Verständnis nicht dazu angetan sind, ein reales Bild über die Volksrepublik zu gewinnen. Beiden gemeinsam ist, dass sie jede auf ihre Weise erstens die historische Spezifik und die objektiven Bedingungen nicht zum Ausgangspunkt der Betrachtung nehmen und zweitens allgemeine Gesetzmäßigkeiten bzw. Gesetze historischer und gesellschaftlicher Entwicklung unberücksichtigt bleiben. Das betrifft z. B. die Schaffung materieller und geistiger Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus in vorkapitalistischen Gesellschaften und die Berücksichtigung der Dialektik zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen.

Ein typisches Beispiel ist die eurozentristische Herangehensweise. Dabei bleibt die Erkenntnis Lenins weiter vergessen, dass jedes Land aufgrund seiner Geschichte, seiner Traditionen und Erfahrungen seine eigenen Weg zum Sozialismus finden und gehen muss. Mit anderen Worten: Die Entwicklung zum Sozialismus in der Welt verläuft objektiv auf unterschiedlichen Wegen und äußert sich in vielfältigen Erscheinungsformen. So schließt unser Kampf gegen die „Barbarei“ des Kapitalismus hierzulande nicht aus, dass China in der gleichen Zeit Kapital und Marktwirtschaft für seine beschleunigte Modernisierung nutzt.

Eine andere typische Sichtweise ist die Verklärung der gesellschaftlichen Verhältnisse der chinesischen Volksrepublik im Sinne eines sich planmäßig entwickelnden bzw. bereits bestehenden Sozialismus. Charakteristisch scheint mir dafür der Beitrag von Theodor Bergmann „Gedanken zur Politökonomie des sozialistischen Entwicklungslandes – ein erster Versuch“ zu sein, der im vorangegangenen Heft dieser Zeitschrift veröffentlicht worden ist.[1] Der Autor ist solidarisch mit der Volksrepublik, als Kommunist ist China seine große Hoffnung. Offenbar trägt das dazu bei, dass er die Entwicklung Chinas stark überhöht und geschönt zeichnet. Das Bild wird vom Autor auch noch „bearbeitet“. Es wird gewissermaßen seinen politischen Erkenntnissen und Erfahrungen „angepasst“. Neben strittigen theoretischen und methodologischen Problemen (Staatskapitalismus, Anwendung von Begriffen wie Klasse und Ausbeutung auf das heutige China) werden Aussagen getroffen, die der chinesischen Realität nicht entsprechen. Der Autor interpretiert beispielsweise die Entwicklung Chinas unbeirrt als Planwirtschaft, obwohl die KP Chinas seit zwei Jahrzehnten eine Art staatlich kontrollierter und gelenkter Marktwirtschaft nutzt. Unbesehen trifft er Aussagen wie die, die Volksrepublik habe das technische Niveau der „Industrieländer“ erreicht, verfüge bereits generell über die „Fähigkeit zur selbständigen Innovation“ und bestimme bereits die „Regeln des Weltmarktes“ mit. Die Volksrepublik wäre weltgeschichtlich halbwegs „über den Berg“, wenn das alles zutreffen würde. Seine Darstellung chinesischer Verhältnisse und Entwicklung ist für mich einfach nicht stimmig.

VR China: Gesellschaftliche Verhältnisse, Probleme und Politik

Auffassungen, wie sie Theodor Bergmann vertritt, sind auch der KP Chinas geschuldet. Die Partei folgt nach wie vor der Einschätzung Mao Zedongs, dass 1956 in China (auf der Grundlage im Wesen unveränderter vorkapitalistischer Produktivkräfte – H.P.) bereits eine sozialistische Gesellschaft entstanden wäre. Auf dieser Grundlage konstatierte sie 1987 nach dem gescheiterten Versuch Mao Zedongs, mit den Volkskommunen einen bäuerlich-utopischen Sozialismus einzuführen: China befindet sich in einem Anfangsstadium des Sozialismus. Diese Auffassungen beruhen auf der These von der Möglichkeit eines direkten Übergangs Chinas aus „halbfeudalen Verhältnissen“ zum Sozialismus.[2] Die ersten 30 Jahre in der Entwicklung der Volksrepublik haben diese Annahme widerlegt.

Das relative Zurückbleiben Chinas in seiner ökonomischen Entwicklung hinter seiner kapitalistischen Umwelt in diesem Zeitraum zwang die KP Chinas Anfang der 1990er Jahre zu einem radikalen Wechsel ihrer Entwicklungsstrategie. Die Partei begann mit der Einführung der Marktwirtschaft, eine staatlich kontrollierte kapitalistische Produktionsweise für die beschleunigte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte zu nutzen, ohne „das Kind beim Namen zu nennen“. Unter Führung des zwar reduzierten, aber weiterhin dominierenden und starken staatlichen Sektors entstanden kapitalistische Eigentumssektoren, in denen heute die weit überwiegende Mehrzahl der städtischen Lohnabhängigen einschließlich der Wanderarbeiter („Bauernarbeiter“) tätig ist. Dieser Eigentumsstruktur entspricht eine neue Klassen- und Sozialstruktur, die die soziale Schicht der nationalen Bourgeoisie einschließt. Mit der ökonomischen ist auch die politische und militärische Macht fest in den Händen der KP Chinas.

Damit ist in der Volksrepublik im Unterschied zur Entwicklung ihrer ersten dreißig Jahre ein Art Staatskapitalismus entstanden, der durch den Widerspruch zwischen ökonomischer Basis und politischem Überbau gekennzeichnet ist. Im Rahmen der staatskapitalistischen Entwicklung ist die KP Chinas bestrebt, sich den materiellen und geistigen Fortschritt der Menschheit im Kapitalismus anzueignen. Objektiv schließt das die Schaffung von Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus ein. Darin besteht neben der ökonomischen Absicherung der nationalen Souveränität und territorialen Integrität die Funktion des Staatskapitalismus im heutigen China.

Diese Strategie hat sich als überaus erfolgreich erwiesen, sie birgt aber auch große Risiken in sich. So ist nicht zu übersehen, dass die kapitalistische ökonomische Basis und die ihr entsprechende Teile der Klassen- und Sozialstruktur inzwischen im geistigen Überbau ernst zu nehmende anti- und nichtsozialistische Positionen befördern. Das beschwört die latente Gefahr einer Zersetzung des Partei- und Staatsapparats herauf. Abzuwarten ist, ob die seit einigen Jahren verstärkten Maßnahmen der Parteiführung gegen die Korruption und für eine saubere Regierung sowie ihre Schritte zur Festigung und zum Ausbau der theoretisch-ideologischen Position des Marxismus in Partei und Gesellschaft die progressive Richtung in der Entwicklung des Landes grundlegend stabilisieren werden. Trotz der seit Anfang der 90er Jahre veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse ist die Partei bei ihrer Feststellung geblieben, in China existiere bereits eine sozialistische Gesellschaft.. Ihren Worten nach wird heute in China ein „Sozialismus chinesischer Prägung“ aufgebaut. Der nach wie vor relativ autoritäre und damit auch relativ starke bürokratische Charakter der politischen Macht dürfte seine Erklärung auch in den tatsächlichen gesellschaftlichen Gegebenheiten finden. Die chinesischen Erfahrungen zeigen aber auch, dass die imperialistische „Politik der Kontakte“ (eine Variante der „Politik des Wandels durch Annäherung“) vor allem in diesem chinesischen Widerspruchsfeld im Trüben zu fischen versucht.

Die Hinwendung der KP Chinas zur Nutzung des Kapitals und seiner Produktionsweise war alternativlos; denn es existiert bis heute keine sozialistische Produktionsweise, die der kapitalistischen in ihrer Effektivität überlegen wäre. Die Bedingungen, sie in dieser Qualität zu entwickeln, waren und sind bisher in China nicht gegeben.

Die umfassende Nutzung der Vorzüge der kapitalistischen Produktionsweise in China bedingt die Integration des Landes in die ökonomische und politische Weltordnung des Kapitalismus mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. Dieser Schritt erfolgte mit dem Beitritt des Landes zur WTO. China wurde Akteur in diesem Weltsystem. Aus einer konfrontativen Kraft, die ein neues antikapitalistisches Weltsystem angestrebt hatte, wurde ein Akteur „mit Vorbehalten“ in diesem System, der danach strebt, das Bestehende von innen her allmählich zu reformieren, d. h. „ihre unvernünftigen und ungerechten Stellen korrigieren und umgestalten, damit sie die gemeinsamen Interessen der großen Mehrzahl der Staaten und Völker widerspiegeln kann“.[3] Die Auswirkungen dieser Politik lassen sich bereits in den Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit den anderen Entwicklungsländern erkennen.

Das China von Heute hat das China zu Beginn des Übergangs zur Marktwirtschaft weit hinter sich gelassen. Es sieht sich dabei neuen großen Problemen und Herausforderungen gegenüber. Zu bewältigen ist ein außerordentlich schwieriger Übergang zu einer kapital- und technischintensiven und ökologisch verträglichen Produktionsweise. Die soziale Spaltung muss, um die gesellschaftliche Stabilität nicht zu gefährden, in nächster Zeit zumindest erheblich gemindert werden. Schließlich steht die KP Chinas vor der Frage, die Beziehungen zwischen dem bisher übermächtigen Staat und dem aufkommenden Bürgertum (Citoyen) bei Wahrung progressiver Machtverhältnisse zu regeln. Der Tenor bei der Mobilisierung der Gesellschaft liegt heute zweifelsohne auf der Bündelung aller nationalen Kräfte für die weiterhin beschleunigte Modernisierung des Landes. Darin eingeschlossen ist auch die soziale Schicht der Bourgeoisie, die offiziell als eine Art „werktätiger“ Privatunternehmer fungiert. Soll in diesem Prozess die langfristige Perspektive des Sozialismus gesichert bleiben, wird die Partei jedoch über ihre bisherige Politik gegenüber der Arbeiterklasse und den anderen Werktätigen und damit über die Festigung ihrer eigentlichen Klassenbasis ernsthaft nachdenken müssen.

Nationale Interessen Chinas und seine Strategie des
„friedlichen Aufstiegs“ zur Weltmacht

Die strategischen Interessen Chinas für die kommenden Jahrzehnte lassen sich unter drei Aspekten zusammenfassen: Herstellung einer neuen Weltordnung und Aufstieg Chinas zu einer allseits entwickelten Weltmacht, Wohlstand des Volkes und Vollendung der nationalen Einheit.

Neue oder „harmonische“ Weltordnung bedeutet im Verständnis der KP Chinas, dass sich eine internationale Kräftebalance herausgebildet hat, die Herrschaft der kapitalistischen Großmächte überwunden ist, die friedliche Koexistenz durchgesetzt wurde und alle Länder, ob groß oder klein, in allen Fragen gleichberechtigt und zu gegenseitigem Nutzen an der Regelung der globalen Probleme beteiligt sind.[4] Darin eingeschlossen wird das gesicherte Recht für jedes Volk, seine Gesellschaftsordnung und seinen Entwicklungsweg selbst zu wählen. Die hier anvisierten Ziele bedeuten, dass die KP Chinas eine ihrem Wesen nach demokratisierte kapitalistische Weltordnung anstrebt, die nach vorn offen ist. Sie setzt dabei auf die objektiven Prozesse zunehmender gegenseitiger Abhängigkeit der Länder im Zuge fortschreitender ökonomischer Globalisierung und politischer Multipolarisierung. „Friedlicher Aufstieg“ Chinas drückt die Absicht der KP Chinas aus, die heutige Weltordnung unter Wahrung des Weltfriedens zu verändern. Im Zentrum dieser Strategie steht die Wirtschaftsdiplomatie. Sie ist darauf gerichtet, nach dem Prinzip gleichberechtigter und gegenseitig vorteilhafter ökonomischer Zusammenarbeit und gemeinsamer Entwicklung die materiellen Bedingungen für eine friedliche und stabile Entwicklung der Welt zu schaffen.

Die Partei weiß, dass ein harter und auf- und abwogender Kampf von einigen Jahrzehnten zwischen den Kräften der alten und den Kräften der neuen Ordnung bevorsteht, der in Kriege münden kann. Sie ist deshalb bestrebt, militärischen Aggressionen vorzubeugen, ohne sich nach dem Beispiel der früheren Sowjetunion in einen Rüstungswettlauf einzulassen.

Den Aufstieg des Landes zur Weltmacht macht die KP Chinas von der Herausbildung der neuen internationalen Ordnung abhängig. Die globale Kraft, die diese Veränderung herbeiführen soll, sieht sie in den Entwicklungsländern.[5] Nehmen wir das Ziel Beijings, „die nationale Renaissance zu verwirklichen“, wortwörtlich, dann bedeutet das, China soll wieder, wie bis zum ausgehenden Mittelalter, entsprechend seiner Größe und seinen Ressourcen die größte und stärkste Weltmacht werden. Beijing sieht sich dennoch nicht als neue Supermacht, die die Welt des 21. Jahrhunderts beherrschen will. Seine These ist, dass im Ergebnis der fortschreitenden Globalisierung und Multipolarisierung die Beherrschung der Welt durch Supermächte der Vergangenheit angehören wird.[6]

Mit der Entwicklung Chinas zur Weltmacht im 21. Jahrhundert soll die chinesische Gesellschaft auf der Grundlage der bestehenden (staatskapitalistischen H.P.) Eigentumsverhältnisse eine Gesellschaft des „allgemeinen Wohlstands“ werden. Das zu erreichen, sei Ziel des sozialistischen Aufbaus in den kommenden Jahrzehnten.[7] Abgesehen von dieser allgemeinen und klassenindifferenten Zielsetzung[8], dürften meiner Meinung nach die ökonomische Basis der Volksrepublik, der Charakter und das Anliegen der nationalen Bündnispolitik und die Einbindung Chinas in die ökonomische und politische Weltordnung des Kapitalismus keinen Raum für den unmittelbaren Aufbau des Sozialismus in China bieten. Das ist jedoch nicht der Punkt. Aus den eigenen historischen Erfahrungen heraus der Entwicklung des Landes zu einer starken und sicheren nationalen Macht den Vorzug zu geben, scheint mir auch die einzig reale Strategie zu sein, die sozialistische Perspektive des Landes zu sichern. In diesem Sinne korrespondiert in der gegenwärtigen Entwicklungsphase die Schaffung einer „Gesellschaft des allgemeinen Wohlstands“ mit dem Ziel, die bestehende kapitalistische Weltordnung zu demokratisieren.

Die nationale Wiedervereinigung Taiwans mit dem chinesischen Festland hat sich als wesentlich schwieriger erwiesen, als ursprünglich von der KP China gedacht. Zurückzuführen ist diese Tatsache auf die anhaltende Einmischung der USA in die inneren Angelegenheiten Chinas und auf den großen Vorsprung Taiwans in der Entwicklung von Wirtschaft, Rechtsordnung und Lebensstandard. Die im Laufe der zurückliegenden Jahrzehnte gesammelten Erfahrungen veranlassten die KP Chinas, ihre Strategie der Wiedervereinigung mit Taiwan neu zu fassen. Im Mittelpunkt stehen die Entwicklung einer auf lange Sicht angelegten allseitigen Zusammenarbeit und die Einbeziehung Taiwans in den Wirtschaftsboom der Volksrepublik. Die Wiederwahl der Guomindang in die Regierung Taiwans hat diesem Prozess neue Möglichkeiten eröffnet. Augenscheinlich sieht die KP Chinas heute den Zeitpunkt der Herstellung der nationalen Einheit mit Taiwan dann gekommen, wenn das Entwicklungsniveau auf dem Festland für die Masse der Bevölkerung Taiwans attraktiv geworden ist. Dieser Zeitpunkt dürfte sich damit weit in das 21. Jahrhundert verlagern.

Erfahrungen mit der Chinapolitik der USA

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde im Pentagon beschlossen, nun keinen neuen Konkurrenten um die globale Macht mehr zu dulden: „Wir müssen unsere Strategie jetzt darauf konzentrieren, dem Aufstieg jedes möglichen Konkurrenten globaler Dimension zuvorzukommen.“[9] Auch um den Militärhaushalt annähernd auf dem Niveau des Kalten Krieges halten zu können, wurde ein neuer Feind gesucht und gefunden: China rückte ins Visier der internationalen Politik der USA. Von diesem Zeitpunkt an wird im Weißen Haus über den Kongress bis in den Pentagon darüber heftig gestritten, wie im Rahmen der globalen Hegemoniepolitik Washingtons mit China umzugehen ist.[10] Der Streit geht hauptsächlich um zwei Varianten in der Chinapolitik der USA:

- eine Politik des „Engagements“(Vereinnahmung), um China hauptsächlich über Entwicklung kooperativer Beziehungen in das von den USA dominierte regionale bzw. globale System wirksam einzubinden, und

- die Politik des „Containment“(Eindämmung), mit der China offen zum Gegner und Feind der USA erklärt wird, der vornehmlich mit militärischen und ökonomischen Mitteln durch ein von den USA geführtes Machtsystem direkt eingedämmt werden soll. Diese Variante bedeutet die unverhüllte Fortsetzung des Denkens, der Psychologie und des Handelns in den Kategorien des Kalten Krieges.

Stehen sich hier in zwei verschiedene Strategien gegenüber oder handelt es sich um zwei verschiedene Taktiken ein und derselben Strategie? Die Antwort ist von erheblicher Bedeutung. Sie fällt in der chinesischen Literatur unterschiedlich aus. Prof. Yuan Peng, einer der führenden chinesischen USA-Experten, vertritt den ersten Standpunkt. So sieht er z. B. die erste Ursache für die rasche Verschlechterung der chinesisch-amerikanischen Beziehungen im letzten Jahr gegenüber dem Vorjahr, als die Beziehungen „so gut waren, dass uns viele Länder darum beneideten“, in einer Korrektur der China-Strategie der USA.[11]

Unter allen USA-Präsidenten der letzten 20 Jahre gehörten immer, wenn auch mit unterschiedlichem Gewicht, beide Varianten zur Chinapolitik der USA. Diese Kombination ist von den Amerikanern mit dem Gebrauch „der zwei Hände“ verglichen worden. Dafür wurde sogar eine neues Wort erfunden: Containment Engagement gleich „Congagement“. Diese sprachliche Erfindung hat etwas für sich; denn auf beiden Wegen wurde und wird bisher immer das gleiche Ziel verfolgt: die Verhinderung des Aufstiegs Chinas zur Weltmacht und die Verteidigung des globalen Führungsanspruchs der USA. Sie haben folglich den gleichen Bezugspunkt. Sie sind beide, obgleich in unterschiedlicher Weise, gegen die Kerninteressen der Volksrepublik, ihre staatliche Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität, und damit auch gegen die friedliche Koexistenz gerichtet. Ich halte es deshalb für zweckmäßig, von zwei Politiken, von zwei Taktiken ein und derselben Strategie zu sprechen. Dieses Herangehen schützt nicht zuletzt davor, in der „Vereinnahmungs“-Taktik der amerikanischen Chinastrategie den Weg zur Lösung der „strukturellen Widersprüche“[12] in den beiderseitigen Beziehungen zu sehen. Die Gefahr einer solchen Fehleinschätzung sah wohl auch schon Deng Xiaoping. So hielt er es auf einer Beratung des Ständigen Ausschusses des Politbüros des ZK der KP Chinas im Jahre 1981 für notwendig zu betonen, in den Beziehungen zu den USA „müssen wir unbedingt vom Schlimmsten ausgehen“.[13]

In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten waren es der industriell-militärische Komplex der USA und das Pentagon, die Washington – auch aus eigenem ökonomischen Interesse – immer wieder auf die harte Linie der militärisch geprägten „Eindämmung“ Chinas festzulegen suchten. Der Großteil der amerikanischen Großunternehmen hingegen realisiert seine Profitinteressen über den Handel mit China und ihre Investitionen in China. Deshalb drängt dieser Teil der amerikanischen Wirtschaft generell darauf, dass Washington der ökonomischen Zusammenarbeit den Vorzug zugibt. Mit dem sich abzeichnenden Wirtschaftsboom in China setzten sie z. B. 1994 durch, dass die USA im Handel mit China die Gewährung des Rechts auf Meistbegünstigung nicht mehr an die Frage der „Menschenrechte“ knüpfte. Ihrer Ansicht nach kann China durch die wirtschaftliche Zusammenarbeit im Unterschied zur Politik der „Eindämmung“ auch unauffällig und wirksam in die von den USA geprägte globale Entwicklung eingebunden werden. In diesem Sinne erklärte Außenminister W. Christopher am 27. Mai 1993, dieser Schritt Washingtons würde China inspirieren, sich am Aufbau einer neuen regionalen Ordnung in der asiatisch-pazifischen Region und in der Welt aktiv zu beteiligen. Die USA hofften, so Christopher weiter, durch die Strategie der „allseitigen Kontakte“ die Entwicklung Chinas beeinflussen zu können.[14] Diese Vereinnahmungs-Taktik hat China bisher durch eine Politik der Zusammenarbeit und Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Kapital zu nutzen versucht.

Die Chinapolitik der USA blieb jedoch in ihren Wesen immer eine „Politik der zwei Hände“ und damit grundsätzlich dem Denken und Handeln des Kalten Krieges verhaftet. In den letzten zwei Jahrzehnten hat Washington in keiner Phase der Beziehung zu China längere Zeit ausschließlich auf die Politik der „Eindämmung“ bzw. der „Vereinnahmung“ gesetzt. In dem Maße, in dem sich mit der Veränderung des internationalen Kräfteverhältnisses die Entwicklung Chinas nicht mehr eindämmen ließ, in dem vor allem die gegenseitige Verflechtung der Volkswirtschaften beider Länder zunahm, gewann jedoch der Versuch China in die globale Politik der USA einzubinden, für Washington an Bedeutung.

Chinesisch-amerikanische Beziehungen am Vorabend des USA-Besuchs von Hu Jintao

Das zurückliegende Jahrzehnt mit der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise widerspiegelt diese Veränderungen in einem Ausmaß, in einem Tempo und mit Auswirkungen auf die gesamte globale Lage, wie es sie bis dato nicht gegeben hatte. Nicht nur, dass die unilaterale Hegemonialpolitik der herrschenden Klasse der USA, sich die Welt nach dem Scheitern des „realen Sozialismus“ ein für allemal ihren imperialen Interessen unterzuordnen, an den objektiven Realitäten zerschellte. Die USA blieben zwar die stärkste ökonomische, militärische, politische und kulturelle Macht, die letzten zehn Jahre sind jedoch für sie, wie es der chinesische USA-Experte Ying Chengde formulierte, „eine verlorene Dekade“ gewesen. „Vergangen sind die Tage, in denen die USA das Zentrum der Weltwirtschaft und der Hauptmotor für das Wirtschaftswachstum der Welt gewesen sind.“[15] Einige Zahlen sollen diese Aussage veranschaulichen. Im Zeitraum von 2000 bis 2009 verringerte sich der Anteil des BIP der USA am globalen BIP um rd. 10 Prozent auf weniger als 22 Prozent, und ihr Beitrag zum Wachstum der Weltwirtschaft schrumpfte von über 50 auf unter 12 Prozent zusammen. In diesen Jahren überholte die EU in der Erzeugung des BIP die USA, und die BRIC-Länder vermochten den ökonomischen Abstand zu den entwickelten kapitalistischen Ländern deutlich zu verringern. In welchem Tempo sich hier Kräfteverhältnisse verändern, zeigt der ökonomische Aufstieg Chinas. Gerechnet nach dem absoluten BIP hat die Volksrepublik hinter den USA inzwischen den 2. Platz in der Welt eingenommen.[16] Gegenüber etwa 10 Prozent vor zehn Jahren erzeugt sie heute bereits über 39 Prozent des BIP der USA. In ökonomischen Kategorien formuliert war das Treffen zwischen Obama und Hu Jintao im Januar dieses Jahres die Begegnung zwischen dem größten globalen Schuldner, der kurz vor einem Staatsbankrott steht, und seinem größten Gläubiger, der Ende 2010 allein über 2.847,3 Mrd. USD Devisenreserven verfügte und dessen Land zu einem Hoffnungsträger für die Weltwirtschaft, darunter nicht zuletzt auch für die USA, geworden ist.

China bleibt dennoch auf die USA als stärkstes Land fokussiert. Davon zeugen die über 30 staatlichen Kooperationsabkommen und die mehr als 60 Kanäle für den ständigen Dialog zwischen den Regierungen. Die bilateralen Beziehungen werden von den beiderseitigen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen bestimmt. Beijing hat aus ökonomischen wie aus politischen Gründen eine enge Verzahnung beider Wirtschaften betrieben. Beide Wirtschaften ergänzen einander. China und die USA sind jeweils für den anderen der zweitgrößte Handelspartner. Etwa 30 Prozent des chinesischen Exports gehen in die USA. Für China wichtig sind weiterhin die Hightech-Technologie und die Investitionen der USA. Hinzu kommen die amerikanischen Erfahrungen bei der Organisation einer modernen Wirtschaft. Die USA ihrerseits sind heute nicht nur vom chinesischen Kapital abhängig. Sie brauchen notwendiger denn je den Handel und die ökonomischen Kooperation mit China. Der amerikanische Export nach China entwickelt sich heute doppelt so schnell wie zum Rest der Welt und trägt damit merklich zur Schaffung von Arbeitsplätzen im Lande bei. Diese gegenseitige ökonomische Abhängigkeit trägt objektiv auch dazu bei, der Gefahr militärischer Auseinandersetzung mit den USA zu begegnen bzw. plötzliche und weitgehende für China negative Ausschläge in den politischen Beziehungen durch Washington (Taiwanfrage!) zu minimieren.

Angesichts der gewachsenen eigenen Stärke und der Misere der USA sah Beijing in der Wahl Barack Obamas in das Weiße Haus eine Möglichkeit, die Zusammenarbeit mit den USA nach der Bush-Ära auf eine neue, stabilere Grundlage zu stellen. Diese Erwartung war nicht unbegründet. Obama hatte im Unterschied zu seinen Vorgängern China nicht zum Thema seines Wahlkampfes gemacht. Nach seiner Wahl distanzierte er sich von „der Option der harten Politik gegen China“, die G.W. Bush bevorzugt hatte. Er verkündete, es sei sein Ziel, die in den amerikanisch-chinesischen Beziehungen bestehenden, „Konflikte zu mildern und zu lösen“. In diesem Sinne kamen er und sein chinesischer Amtskollege Hu Jintao bei ihrem ersten Zusammentreffen während des Gipfels der G 20-Staatengruppe in London am 1. April 2009 überein, „eine positive, kooperative und umfassende chinesisch-amerikanische Beziehung für das 21. Jahrhundert zu entwickeln“. Die umgehende Einberufung eines ständigen „Dialogs über Strategie und Wirtschaft“ sollte die neuartige Entwicklung der chinesisch-amerikanischen Beziehungen einleiten. Auf diesem Hintergrund kam in China Euphorie kam auf. Obamas Hinwendung zu einer engen Zusammenarbeit mit China auf dem Hintergrund der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise wurde als „beispiellos in der Geschichte der chinesisch-amerikanischen Beziehungen“ begrüßt. Die grundlegenden Widersprüche zwischen den gesellschaftlichen Systemen wie zwischen der Supermacht der USA mit globalem Führungsanspruch und der aufsteigenden Weltmacht China schienen für einige Kräfte in China nicht mehr wesentlich zu sein. So war in wissenschaftlichen Publikationen zu lesen, „dass die Beziehung zwischen China und den USA keine Beziehung der Konkurrenz zwischen einer aufstrebenden Macht und einem existierenden Hegemonen ist und sein kann. Sie ist vielmehr ein neuer Typ der Beziehung zwischen zwei Großmächten.“[17]

Diese pragmatisch geschönte Sicht drohte zunächst einmal, an der harten Wirklichkeit zu zerschellen. Bereits Mitte 2009 gab es erste Signale, dass die USA gegenüber China zu einer härteren Gangart tendieren könnten. Mit dem Verkauf von Waffen an Taiwan im Januar 2010 begann diese Tendenz die China-Politik der USA zu bestimmen. China reagierte erstmals mit der Androhung von harten Gegenmaßnahmen und setzte vereinbarte Kontakte auf hoher staatlicher Ebene aus. Gleichzeitig ging sie in territorialen Streitfragen mit Nachbarstaaten von einer Verhandlungsbereitschaft zu einer Politik kompromissloser Härte über. Damit begünstigte sie objektiv nicht nur das Aufkommen von Befürchtungen vor allem in den asiatischen Ländern vor dem „friedlichen Aufstieg“ Chinas. Sie goss auch noch Wasser auf die Mühlen der Hartliner in den USA, die mit der Bekräftigung der regionalen Militärbündnisse aus der Zeit des Kalten Krieges wieder zur Politik der „Eindämmung“ Chinas zurückzukehren suchten. Offenbar ist die chinesische Führung auf dem Hintergrund der gewachsenen Stärke des Landes und seines internationalen Einflusses von extremen nationalistischen Kräften im Lande unter einen derartigen Druck gesetzt worden, dass sie ihre bisher verfolgte „Politik der Zurückhaltung“ (daoguang yanghui zhengci) zeitweilig aufgeben musste.[18]

In den Wochen vor dem USA-Besuch des chinesischen Präsidenten Hu Jintao, waren Beijing und Washington bestrebt, wieder ins Gespräch zukommen. Drei konkrete Problemfelder schälten sich heraus: Es fehlt das „gegenseitige strategische Vertrauen“, das Henry Kissinger als „Grundlage für die perspektivische Entwicklung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern“ bezeichnet. Es kommt ständig zu politischen Konflikten. Und die fehlende Balance zwischen beiden Volkswirtschaften ist für beide Seiten bedrohlich. Das Kernproblem bleibt der Widerspruch zwischen den Grundinteressen globaler Hegemoniepolitik der USA und dem chinesischen Interesse am Aufstieg zu einer eigenständigen Weltmacht auf der Grundlage der friedlichen Koexistenz.

Beide Seiten versuchten, sich trotz dieses objektiven Grundkonflikts zu verständigen. Die USA prägten in diesem Sinne den Begriff „strategische Garantie“. Sie verbinden damit einerseits die Vorstellung, dass die USA den Aufstieg Chinas garantieren und nichts unternehmen, um China einzudämmen. Anderseits soll China seinerseits garantieren, dass sein Aufstieg „nicht auf Kosten der Interessen der USA und ihrer Verbündeten“ geht.[19] In der medialen Vorbreitung des Staatsbesuchs wurde dieser Vorschlag in China als Durchbruch in der „Congagement“-Politik der USA begrüßt. Nachfolgende chinesische Darlegungen schienen eine indirekte Antwort auf den amerikanischen Vorschlag vor dem Staatsbesuch gewesen zu sein. So hieß es in der Renmin Ribao, dass die chinesisch-amerikanischen Beziehungen ein Testfall wären. „Die an diesem Test teilnehmen, sind einerseits eine sich neu entwickelnde und aufsteigende Großmacht und andererseits eine entwickelte Großmacht alten Schlages. Beide versuchen, in dem gleichen internationalen System einträchtig miteinander auszukommen.“[20] Gleichzeitig versicherte der stellvertretende Außenminister der VR China, Cui Tiankai, den USA eine Woche vor dem Staatsbesuch Hu Jintaos, dass „China die Interessen der USA weder bedrohe noch ihnen Schaden zufüge“.[21]

Die bevorstehenden Verhandlungen auf höchster Ebene sollten aus chinesischer Sicht unbedingt den Weg für eine stabile und anhaltende Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts öffnen.

Ein Dokument von historischer Bedeutung

Hu Jintao traf während seines Staatsbesuchs (18.-20. Januar) auf eine amerikanische Öffentlichkeit, deren Stimmung vor allem durch das Bestreben amerikanischer Politiker und Medien, dem aufsteigenden China die Schuld für die amerikanischen Misere in die Schuhe zu schieben, angeheizt war. Auch während des Besuchs versuchten diese Kräfte, unter politischem Missbrauch der Menschenrechte die Atmosphäre und den Gang der Verhandlungen zu beeinträchtigen.

Ungeachtet dessen fand der offizielle Empfang des chinesischen Gastes durch Präsident Obama in allen Ehren und auf höchstem Niveau statt. Das Bankett im Weißen Haus, dem zudem ein privates Abendessen im gleichen Ort vorausgegangen war, war das erste Bankett für ein chinesisches Staatsoberhaupt seit 13 Jahren. Drei Jahre zuvor hatte es Präsident Bush bei einem Arbeitsessen für Präsident Hu Jintao belassen. Hu bedankte sich für die ihm und seinem Land dieses Mal erwiesene Ehre mit den Worten, dass es seit dem Amtsantritt von Präsident Barack Obama „bedeutende Fortschritte“ in den Beziehungen zwischen beiden Ländern gegeben habe. An dieser grundsätzlichen Einschätzung der Chinapolitik Obamas durch Beijing änderte sich auch nichts, als dieser auf der Pressekonferenz Hu Jintao medienwirksam mit der Menschenrechtsfrage und den „Vorzügen“ einer „freien Gesellschaft“ direkt konfrontierte.[22] Die chinesische Seite ließ sich nicht provozieren. Sie richtete ihr Hauptaugenmerk darauf, in den Verhandlungen – ausgehend von den mit Präsident Obama seit April 2009 getroffenen Vereinbarungen – die Richtung, die Ziele, die Prinzipien, die Mechanismen und die ersten konkreten Schritte „partnerschaftlicher Beziehungen der Kooperation“ zwischen beiden Ländern im 21. Jahrhundert zu fixieren. In der Vereinbarung über diese Grundfragen sehe ich die Bedeutung der „Gemeinsamen Erklärung der Volksrepublik China und der Vereinigten Staaten von Amerika“, die am 19. Januar unterzeichnet wurde. Mit dem Abschluss von Vereinbarungen über den Import amerikanischer Waren durch China in einem Gesamtwert von 45 Mrd. US-Dollar wurde gewissermaßen die „neue Ära“ in den beiderseitigen Beziehungen eingeleitet.

Die 41 Punkte der „ Gemeinsamen Erklärung“ behandeln Wesen und Ziel der Partnerschaftsbeziehungen (1-3), Beziehungen im politisch-militärischen Bereich sowie Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technik (4-11), Austausch auf hoher Ebene (13-15), globale Herausforderungen (16-21), Entwicklung von Wirtschaft und Handel (22-35), Zusammenarbeit in den Bereichen Klima und Umwelt (36-39) und den kulturellen Austausch (40-41).[23]

Das Wesen der Partnerschaftsbeziehungen wird in den Punkten 2-4 dargelegt. Dazu heißt es: Beide Seiten „haben bereits einen Modellfall für die Entwicklung aktiver Beziehungen von Staaten unterschiedlicher politischer Systeme, unterschiedlichen historischen Hintergrunds und unterschiedlichem wirtschaftlichen Entwicklungsniveau geschaffen“. Sie „bekräftigen, gegenseitig die nationale Souveränität und die territoriale Integrität zu respektieren.“ Sie „treten dafür ein, gemeinsame Anstrengungen für den Aufbau kooperativer partnerschaftlicher Beziehungen des gegenseitigen Respekts, des beiderseitigen Nutzens und des gemeinsamen Gewinns zu unternehmen, um die gemeinsamen Interessen beider Länder voranzubringen und auf die Gelegenheiten und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu reagieren“. Beide Seiten „sind übereinstimmend der Meinung, dass es erforderlich ist, noch breiter und tiefer mit internationalen Partnern und Institutionen zusammenzuarbeiten, um Konzeptionen für nachhaltige Lösungen zu schaffen, umzusetzen und zusammen den Frieden, die Stabilität und das Gedeihen der Welt und das Heil der Völker aller Länder zu fördern“. An anderer Stelle des Dokuments wird auch das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten einbezogen.

Die hier konzipierten Beziehungen beruhen einerseits in ihrem Wesen auf der Anwendung der Prinzipien der friedlichen Koexistenz und gehen andererseits über die traditionelle Auslegung von friedlicher Koexistenz hinaus. Unter den Bedingungen zunehmender gegenseitiger und umfassender Abhängigkeit der Länder in ihrer Entwicklung und der Herausbildung eines neuen, eines multilateralen Kräfteverhältnisses in der Welt gibt es für die neu aufsteigende Weltmacht China und die bestehende Supermacht USA mit ihrem globalen Führungsanspruch nur eine reale Alternative – im jeweils eigenen Interesse zur Lösung der vielfältigen globalen Herausforderungen zusammenzuarbeiten. Der große Raum, der den beiderseitigen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen im Dokument eingeräumt wird, zeigt, welche Bedeutung den Hauptinteressen beider Seiten und damit dem materiellen Fundament dieses Modellfalls beigemessen wird. Das Dokument widerspiegelt Kompromisse zwischen beiden Seiten. Die Ausführungen über Wesen, Ziel und Weg dieser neuartigen Partnerschaft, die den globalen Führungsanspruch Washingtons nicht dokumentieren, werden für mich unverkennbar durch die Handschrift Beijings geprägt.[24]

Die „Gemeinsamen Erklärung der Volksrepublik China und der Vereinigten Staaten von Amerika“ vom 19. Januar 2011 ist ein Dokument, das in seiner Bedeutung weit über die bilateralen Beziehungen hinausreicht. Zusammenarbeit und Auseinersetzung zwischen der VR China und den USA haben einen gemeinsamen konstruktiven Charakter von globaler Bedeutung erhalten. Die Umsetzung der Vereinbarung wird in erster Linie davon abhängen, wie sich das Kräfteverhältnis in der herrschende Klasse der USA gestalten wird.

[1] Theodor Bergmann, Gedanken zur Politökonomie des sozialistischen Entwicklungslandes China – ein erster Versuch, in: Z 84, Dezember 2010, S. 8-22.

[2] Sammlung von Dokumenten des XIII. Parteitages der KP Chinas, Beijing 1987, S. 7, chines.

[3] Wang Yi (Assistent des chinesischen Außenministers), Die Sicherheitspolitik China im Umfeld, in: Zeitschrift Qiu Shi, 2004/4, S.22.

[4] Siehe: Qin Yaqing u.a., Das internationale System und Chinas Diplomatie, Beijing 2009, S.28.

[5] Ebd., S. 85.

[6] Vergl. Wang Fan, China ist nicht der Führer Asiens, In. Zeitung Huangqiu Shibao v. 8.10.2006, zitiert nach: Internet der zentralen Parteizeitung Renmin Wangv. 10.10.2006.

[7] Siehe: Cheng Enfu (Präsident der vor fünf Jahren gegründeten Akademie für Marxismus), Grundlegende Merkmale der sozialistischen Marktwirtschaft, abgedruckt in: Sand im Getriebe. Internationaler deutschsprachiger Rundbrief der ATTAC-Bewegung v.10.9.2010, S.7.

[8] Es ist wohl kein Zufall, dass in diesem Zusammenhang die originäre Variante der „sozialen Marktwirtschaft“ Westdeutschlands nach dem 2. Weltkrieg in China Aufmerksamkeit findet.

[9] Pentagon-Dokument Defense Planning Guidance v. 18.2.1992, zitiert nach: Fred Schmid, China, Krise als Chance? In: isw-Report Nr. 83/84, München 2010, S. 63.

[10] Chalmers Johnson, Ein Imperium verfällt. Wann endet das amerikanische Jahrhundert?, München 2000, S.184/185.

[11] Yuan Peng (Direktor des Instituts für Untersuchungen zu Amerika an der Chinesischen Akademie für internationale Beziehungen der Gegenwart), Über die chinesisch-amerikanischen Beziehungen. Beitrag auf dem 1. „Forum im Blauen Salon“ des MfAA der VR China „Die Lage in der asiatisch-pazifischen Region und die Politik Chinas“ am 1. 12.2010, in: Zeitschrift Shijie Zhishi v. 16.12.2010.

[12] Dieser politisch zunächst einmal beziehungslose Begriff wird in einem Teil der chinesischen Veröffentlichungen über die Beziehungen zwischen China und den USA anstelle der offiziellen Einschätzung benutzt, dass zwischen der VR China und den USA grundsätzliche Unterschiede in der Gesellschaftsordnung, der Ideologie und den Wertauffassungen bestehen.

[13] Internet der zentralen Parteizeitung Renmin Wang v. 24.4.2004.

[14] Warren Christopher, In the Stream of History, Shaping Foreign Policy. Zitiert nach: Außenpolitische Beziehungen Chinas: Rückblick und Nachdenken (1949-2009), Beijing 2010, S. 261, chines.

[15] Yin Chengde, Gains and Losses of Obama Diplomacy, in: Zeitschrift China International Studies, May/June 2010, p. 128-129.

[16] Gemessen am durchschnittlichen BIP pro Kopf finden wir China in den Statistiken der Weltbank erst auf dem 124. Platz. .

[17] Guo Zhenyuan/Kuang Mei, China-US Relationship. Is at A New Starting Point Once Again, in: Great Transformation of the World & China’s Opportunities and Challenges, Zhishi-Chubanshe Beijing 2010, p. 108-109, 118. Der Vollständigkeit halber muss hier hinzugefügt werden, dass in der wissenschaftlichen Forschung der Volksrepublik auch sachlich begründete marxistische Einschätzungen über die Entwicklung der China-Politik Obamas publiziert worden sind.

[18] Ausführlicher wird auf den Einfluss des extremen Nationalismus auf die Politik Chinas und der USA in einer chinesischen Publikation angesichts des USA-Besuchs von Präsident Hu Jintao eingegangen. Siehe: „Wie können wir uns die chinesisch-amerikanischen Beziehungen schlagzeilenartig vorstellen?“ In: Zeitschrift Shijie Zhishi v. 15.1.2011.

[19] Dieser Vorschlag war vom stellvertretenden Außenminister der USA, James Sternberg, am 24.9.2009 unterbreitet worden. Zitiert nach: ebd.

[20] Ding Gang, China-USA: Frieden bringt beiden Nutzen, Kampf bringt beiden Blessuren, in: Zeitung Renmin Ribao v. 19.1.2011.

[21] Cui Tiankai, Rede auf dem „2. Forum im Blauen Salon“ des MfAA der VR China zum Thema „Die chinesisch-amerikanischen Beziehungen in der neuen Ära“, in: Nachrichtenagentur Xinhua Wang v. 14.1.2011.

[22] Offenbar beurteilt Beijing diese Seite im Auftreten Obamas auch unter dem Einfluss der öffentlichen Stimmung in den USA und dem Versuch, seine geschwächte Position wieder zu festigen. So nutzte er z. B. auch die abgeschlossenen Verträge und Abkommen sofort dazu aus, um der amerikanischen Öffentlichkeit mitzuteilen, dass dadurch in den USA 235.000 Arbeitsplätze gesichert werden.

[23] „Gemeinsame Erklärung der Volksrepublik China und der Vereinigten Staaten von Amerika“ vom 19.1.2011, Washington; zitiert nach: Nanfang Ribao v. 20.1.2011.

[24] Ähnlich interpretiert auch der Vorsitzende der Gesellschaft zum Studium der Geschichte der chinesisch-amerikanischen Beziehungen in der VR China, Prof. Tao Wenzhao, das Wesen der „Gemeinsamen Erklärung“. Siehe: Internet Renmin Wang v. 21.1.2011.