Anmerkungen zur Debatte über die Werttheorie von Michael Heinrich

„Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken.“ („Das Kapital“, MEW 23, S. 85)

Ich kann mir nicht helfen, aber nach der Lektüre der Artikel in „Z“ ab Nr. 125, welche eine Diskussion mit Michael Heinrich über dessen Werttheorie zum Inhalt haben, muss ich sagen, dass das mit den „theologischen Mucken“ in viel höherem Maß, als ich bisher dachte, wörtlich genommen werden kann. Die Position von M. Heinrich erinnert mich nämlich an den theologischen Streit darüber, wann genau die „Wandlung“ vom profanen Brot zum Leib Christi vonstatten gehe - einem Streit, bei welchem es sich um einen Ausläufer der mittelalterlichen Scholastik handelt, über die schon Hegel zu vermelden wusste:

„Die Hauptsache ist, dass sie wie Barbaren göttliche Dinge nahmen [und] sie unter die sinnlichen Bestimmungen und Verhältnisse brachten.“ (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie[1], Bd. 3, S. 108, Kapitel II B 5 b)

Der Vorwurf, den Hegel gegen die Scholastiker erhebt, ist also, dass sie die Ebenen des Göttlichen und des Natürlichen unreflektiert miteinander vermengen. Selbstverständlich will ich damit nicht sagen, dass es bei der Warenanalyse irgendwie um etwas Göttliches ginge, bei Heinrich ebenso wenig wie bei Marx. Was aber der Analogie sehr wohl zugrunde liegt, ist dass hier eine unzulässige Vermengung zweier logisch unterschiedlicher Ebenen stattfindet, nämlich der Ebene der gesellschaftlichen Bestimmungen und der Ebene der auf die einzelnen stofflich bestimmten Gegenstände gerichteten individuellen Handlungen. An einer vielzitierten Stelle fasst Marx die für die Warenproduktion charakteristische Beziehung dieser beiden Ebenen zusammen, freilich ohne sie zu vermengen, sondern im Gegenteil, um ihre für die Warenproduktion eigentümliche gegenseitige Verschränkung zu verdeutlichen:

Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen.“ (MEW 23, 86)

Betrachten wir unter diesem Aspekt die folgende Ausführung von M. Heinrich:

„Vor dem Austausch kann ich zwar hoffen, Gebrauchswert für andere zu produzieren, aber erst der Austausch zeigt mir, ob sich meine Hoffnung erfüllt und ich tatsächlich Ware produziert und Wert gebildet habe. Auf mein Beispiel mit dem nicht verkauften Brot bezogen: Ich hatte zwar die Absicht, Gebrauchswert für andere zu produzieren, die anderen haben diesen Gebrauchswert aber nicht akzeptiert, und daher habe ich keinen Gebrauchswert für andere produziert, was nach Marx aber die Voraussetzung dafür gewesen wäre, Ware zu produzieren und (als Vergegenständlichung abstrakter Arbeit) Wert zu bilden.“ (Z 129, 146)

Ich möchte dieses Beispiel ein wenig fortspinnen, um die sachliche Unangemessenheit des von Heinrich eingeschlagenen Argumentationswegs zu verdeutlichen: Gewöhnlich backt ein Bäcker ja nicht nur ein, sondern mehrere Brote; sagen wir also, dass er an einem Tag zwanzig Brote - die sich in ihrer „Gebrauchsgegenständlichkeit“ (Marx) nicht voneinander unterscheiden - gebacken hat und am Ende des Tags noch drei davon im Regal liegen. Die Arbeit, die der Bäcker aufgewandt hat, lässt sich nicht den einzelnen Broten zuordnen: Den Teig zu kneten und den Ofen anzuheizen geschieht ja nicht für jedes der zwanzig Brote getrennt voneinander. Nach Heinrich müsste es aber so sein, dass just die drei Brote, die nicht verkauft worden sind, im Unterschied zu den anderen keinen Wert besessen und die in ihnen steckende – und wie auch immer zu fassende – Arbeit sich nicht als abstrakte Arbeit vergegenständlicht hätte. Hält man jedoch daran fest, dass der Wert eine gesellschaftliche Bestimmung ist, die zwar der einzelnen Ware anhaftet, ihr aber nicht als Natureigenschaft zukommt, so löst sich das Rätsel: als gesellschaftliche Bestimmung kann der Wert eben auch nur in dem gesellschaftlichen Kontext, in dem die bestimmte Ware steht, zum Ausdruck kommen - und dieser Kontext ist der Austausch. Es genügt, dass die Ware für den Tausch produziert und zum Tausch angeboten wird. Auch ihr Gebrauchswert ist im allgemeinen nicht unabhängig von gesellschaftlichen Bestimmungen, denn es kommt auf das gesellschaftliche Umfeld an, ob er menschliche Bedürfnisse befriedigen kann oder nicht. Eine Waschmaschine muss erst einmal erfunden und ihr Gebrauch bekannt sein, und auch dann ist sie nur nützlich, wo fließendes Wasser und Strom zur Verfügung stehen.

„Die […] Gebrauchsweisen der Dinge zu entdecken, ist geschichtliche Tat“ (MEW 23, 50)

Der Gebrauchswert muss sich nicht erst im einzelnen Austauschakt erweisen, er ist gesellschaftlich bekannt. Ebenso – und sogar noch grundsätzlicher - gilt auch für die Wertbildung, dass für sie die individuellen Handlungen von Marktteilnehmern, also die Zufälligkeit, ob nun tatsächlich ein Käufer zugreift oder nicht, nicht ausschlaggebend sind. Sowohl sein Gebrauchswert wie sein Wert müssen bereits gegeben sein, bevor ein Produkt als Ware auftreten kann.

Heinrich führt in Z 132 (S. 141) folgenden Satz aus dem „Kapital“ an

„Erst innerhalb ihres Austauschs erhalten die Arbeitsprodukte eine von ihrer sinnlich verschiedenen Gebrauchsgegenständlichkeit getrennte, gesellschaftlich gleiche Wertgegenständlichkeit.“ (MEW 23, 87)

und interpretiert ihn dahingehend, dass mit Austausch „der Austausch, der auf die Produktion folgt“, also der einzelne Kaufakt gemeint sei. Jedoch meint Marx hier mit „Austausch“ die gesellschaftliche Institution des Warentauschs, was schon daraus ersichtlich wird, dass er gleich im darauffolgenden Satz als Bedingung nennt, dass „der Austausch bereits hinreichende Ausdehnung und Wichtigkeit gewonnen hat“ (ebd.). Denn wenn von „hinreichender Ausdehnung“ die Rede ist, kann ja wohl nicht der einzelne Austauschakt gemeint sein.[2]

Wie sehr der Wert nur im gesellschaftlichen Kontext, in dem sich die einzelne Ware befindet, fassbar werden kann, wird auch daran ersichtlich, dass sich der Wert einer bereits vorhandenen Ware aufgrund gesellschaftlicher Vorgänge ändern kann. Durch die Erschließung der ergiebigen südamerikanischen Silberminen kam es im 16. Jahrhundert dazu, dass Silber an Wert verlor. Das betraf natürlich auch solche Silberstücke, die noch aus den weniger produktiven europäischen Bergwerken stammten. Nun wäre es in der Tat eine „metaphysische Spitzfindigkeit“, das dahingehend zu interpretieren, dass der Wert des alten Silberstücks zwar gleichgeblieben wäre, aber sein Preis sich geändert hätte: Silber ist Silber. Dieses historische Beispiel stellt die Sache nur besonders prägnant dar, aber es gibt auch jede Menge Beispiele aus neuerer Zeit; auch Marx hat das im Zusammenhang mit dem sogenannten „moralischen Verschleiß“ von Produktionsmitteln beschreiben. Es heißt an der betreffenden Stelle:

„Neben dem materiellen unterliegt die Maschine aber auch einem sozusagen moralischen Verschleiß. Sie verliert Tauschwert im Maße, worin entweder Maschinen derselben Konstruktion wohlfeiler reproduziert werden können oder bessere Maschinen konkurrierend neben sie treten.

In beiden Fällen ist ihr Wert, so jung und lebenskräftig sie sonst noch sein mag, nicht mehr bestimmt durch die tatsächlich in ihr selbst vergegenständlichte, sondern durch die zu ihrer eignen Reproduktion oder zur Reproduktion der besseren Maschine notwendige Arbeitszeit. Sie ist daher mehr oder minder entwertet.“ (MEW 23, 426 f)

Das bedeutet, dass es sich bei der den Wert bildenden abstrakten Arbeit um das Quantum Arbeit handelt, das unter den gegebenen gesellschaftlichen Umständen zur Erzeugung des jeweiligen Gebrauchswerts erforderlich ist.[3] Folglich kann die Wert bildende Arbeit nicht einfach mit der Arbeit identifiziert werden kann, die zum Zeitpunkt der Produktion der betreffenden Ware für diese tatsächlich aufgewandt wurde, sondern wir haben es von vornherein mit einem bestimmten Quantum der – dementsprechend auch nur als Abstraktion zu fassenden - gesellschaftlichen Gesamtarbeit zu tun.

Fazit: Sowohl der Gebrauchswert wie auch der Wert tragen von vornherein den Charakter gesellschaftlicher Bestimmungen, so dass es unangemessen ist, ihre Bewegungsformen im Warentausch an den Zufälligkeiten der individuellen Austauschakte festmachen zu wollen.

[1] Zitiert nach der Ausgabe Reclam, Leipzig 1971

[2] Allerdings kann ich mich auch der von Lietz/Schwarz in Z 125, S. 124 formulierten Auffassung, wonach diese Passage eine „historische Skizze“ der Entstehung der Warenproduktion zum Inhalt hätte, nicht anschließen, denn es geht da vielmehr um die Darstellung des gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustands, was durch die Worte „bereits … gewonnen hat“ unterstrichen wird. Es ist nicht davon die Rede, wie es dazu gekommen ist; das ist vielmehr Gegenstand des zweiten Kapitels.

[3] Um einen denkbaren Einwand vorwegzunehmen: würde man sagen, dass das nur zutreffe, wenn sich das erforderliche Arbeitsquantum geändert hat, so wäre zu entgegnen: solange die aufgewandte und die erforderliche Arbeit übereinstimmen, ist es ein Streit um des Kaisers Bart, welche der beiden man als bestimmend betrachtet. Im Übrigen steckt der Fokus auf die Erforderlichkeit bereits darin, dass als Wert bildend nur die gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeit zählt. (vgl. MEW 23, 53)