Editorial

März 2023

Die Diskussionslage auf der Linken ist im Frühjahr 2023 stark geprägt durch weitere Eskalationsschritte im Zeichen von Ukraine-Krieg und „Zeitenwende“, durch die gewerkschaftlichen Kämpfe gegen Reallohnsenkungen im Kontext der Inflationskrise und durch die Auseinandersetzungen um die Klimaproteste. Dazu äußern sich in den Kommentarspalten u.a. Ralf Krämer, Werner Ruf, Willi van Ooyen und Elke Steven. Die aktuellen Klassenkämpfe in Frankreich und Großbritannien werden wir in Z 134 (Juni) näher thematisieren. Die Autorinnen und Autoren des Schwerpunkts gehen der auf der Linken nur ungenügend verhandelten Frage nach dem Charakter des in Russland nach 1990/1991 entstandenen Kapitalismus unter historischen, ökonomischen und politischen Aspekten nach (vgl. auch Z 99, September 2014, „Kapitalismus in Osteuropa“).

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Kapitalismus in Russland: Dieter Segert untersucht in einer historisch-vergleichenden Analyse, was für ein Kapitalismustyp sich nach 1991 in Russland und der Ukraine entwickelt hat. Ausgehend vom Konzept der ‚varieties of capitalism‘ grenzt erden in beiden Ländern entstandenen Kapitalismustyp als „postsowjetischen Kapitalismus“ von anderen in Osteuropa nach 1989 entstandenen Typen ab. Als Merkmale hebt er u.a. eine passive „eigentumslose arbeitende Bevölkerung“ und unterschiedliche Ausformungen von Nationalismus als „gesellschaftlichem Kitt“ hervor. Im theoretischen Rahmen der Regulationstheorie analysiert Julien Vercueil Akkumulationsregime und Regulationsweise des russischen Kapitalismus als jene Kernstrukturen, die sich nach der Krise der 1990er Jahre herausgebildet haben. Basierend auf dem Export energetischer Rohstoffe wird die Kapitalakkumulation in Richtung und Tempo von Rohstoffrenten und außenwirtschaftlichen Faktoren bestimmt. Die dem entsprechende Regulationsweise basiert auf der Kooperation zwischen hochkonzentrierten Industriegruppen und dem Staat, dessen Herrschaftssystem zunehmend um den Präsidenten herum organisiert sei. Lutz Brangsch beschäftigt sich mit der jüngeren Wirtschaftsentwicklung in Russland, die einerseits durch die sich seit 2014 verschärfenden westlichen Wirtschaftssanktionen und andererseits durch Versuche zur Diversifizierung und Binnenorientierung der Wirtschaftsstrukturen geprägt ist. Vor diesem Hintergrund verändern sich auch die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit. Die Umbau- und Modernisierungsversuche kommen zwar nur langsam voran, sie seien aber nicht als gescheitert zu betrachten. Judith Dellheim streift durch die Geschichte der Industrialisierung und des Kapitalismus in Russland von deren Anfängen im Zarenreich bis zur Gegenwart. Ihre Kernthese ist, dass die Art und Weise, wie nach der Oktoberrevolution insbesondere unter Stalin die Industrialisierung ohne Rücksicht auf Verluste angegangen wurde, sowohl wesentlich den Niedergang der Sowjetunion erklärt als auch Ausrichtung und Disproportionen der heutigen russischen Wirtschaft und des modernen russischen Kapitalismus. Schon Lutz Brangsch hatte gezeigt, wie stark sich der Ukraine-Krieg auf die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft Russlands auswirkt. Tatjana Apanesenko sucht die Erklärung für den Ukrainekrieg in dem US-amerikanischen Versuch, Russland als Konkurrenten auf dem Erdöl- und Gasmarkt zu verdrängen, wenn nicht gar auszuschalten. Gleichzeitig analysiert sie die russische Geldpolitik zu Zeiten des Krieges und sieht hier wenig Chancen, eine erfolgreiche Entwicklung Russlands voranzutreiben. Erhard Crome geht auf die diplomatische Dimension der aktuellen geopolitischen Auseinandersetzungen ein und zeigt auf, wie hier nicht zuletzt durch den Westen und die militärische Reaktion Russlands der Konflikt um russische Sicherheitsinteressen und das Schicksal der Ukraine forciert wurde und wird. Der Autor macht deutlich: Die Bundesrepublik darf ihre eigene friedenspolitische Verantwortung nicht ablegen, sich nicht mit der Rolle als Juniorpartner der USA zufrieden geben und muss stattdessen begreifen, dass ein eigenständiges Europa ohne vernünftige Beziehungen zu Russland nicht möglich ist.

Heftvorstellungen:
Berlin, Helle Panke
: Montag, 6. März 2023, 19:00-21:00 Uhr, Kopenhagener Str. 9: Kapitalismus im modernen Russland. Zu Wirtschaft und Macht in der Russländischen Föderation, mit Judith Dellheim, Lutz Brangsch und Erhard Crome.
Online-Diskussion
zu diesem Heft am Sonntag, 19. März 2023, 20.00 Uhr, YouTube-Kanal von 99zueins mit Willi van Ooyen, Werner Ruf und Dieter Segert sowie Fabian Nehring von 99zueins.
Vorankündigung / Zugang sh. unsere Social-Media-Auftritte und https://www.youtube.com/c/99ZUEINS

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Marx-Engels-Forschung: Die in den letzten Heften geführte Debatte um Michael Heinrichs Interpretation der Marxschen Werttheorie löst weiterhin lebhafte Reaktionen aus. Wir hatten mit Z 132 diese Debatte in der Zeitschrift erst einmal abgeschlossen, geben ihr aber auf unserer website unter der Rubrik „Diskussion Werttheorie“ weiter Raum (www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de). Dort sind entsprechende Diskussionsbeiträge von Manfred Hieke, Rudi Netzsch, Herbert Rünzi und Dieter Wolf einsehbar.

Ehrenfried Galander und Axel Rüdiger hatten in Z 129 und 132 den Debattenverlauf über den von Marx 1859 formulierten sechsgliedrigen Aufbauplan des „Kapital“ und die hierzu im Rahmen der MEGA2-Edition von ihnen an der Universität Halle entwickelten Überlegungen vorgestellt. Im abschließenden dritten Teil skizzieren sie die Geschichte des Aufbauplanes in Marx‘ ökonomischen Manuskripten, die seit 2012 vollständig vorliegen, bis hin zum „Kapital“. Dabei gehen sie näher auf das Schicksal des Buches vom Grundeigentum ein. Sie betonen auch die Bedeutung der Plandiskussion für die Sicht auf das Spätwerk von Marx.

Vladimiro Giacché unternimmt es, die Überlegungen von Friedrich Engels zur nachkapitalistischen Gesellschaft und ihren Voraussetzungen zusammenzufassen. Er konzentriert sich auf Schriften und Briefwechsel des späten Engels aus den Jahren 1883-1895 (also nach Marx‘ Tod), dem die Redaktion und Veröffentlichung unpublizierter Arbeiten von Marx wie die intensive Kommunikation im Rahmen der Parteien der II. Internationale oblag.

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Weitere Beiträge: Die in Z 132 begonnene Auseinandersetzung um das (Klassen-)Bewusstsein von lohnabhängig Erwerbstätigen wird fortgesetzt. Sabrina Apicella diskutiert den Begriff des Klassenbewusstseins vor dem Hintergrund ihrer Forschung zur Arbeit bei Amazon und zu nachfordistischen Arbeits- und Produktionsmodellen allgemein: Angesichts einer „postfordistischen Subjektivierung“ stelle sich das Verhältnis von inner- und außerbetrieblichen Einflussfaktoren heute neu. Das Konzept einer „Neuen Sensibilität“ wird als Ansatzpunkt kollektiver Interessen und von Klassenbewusstsein diskutiert. Gerhard Weiß und Wolfgang Frede stellen die kapitalismuskritische Studie „Consequences of Capitalism. Manufacturing Discontent and Resistance“ von Noam Chomsky und Marv Waterstone vor. Deren Frage, inwiefern eine Kapitalismuskritik die Interessen verschiedener Protestbewegungen vereinen kann, verweist insbesondere auf das Alltagsbewusstsein bzw. den „Common Sense“, den Militarismus und den Neoliberalismus als tragende Momente spätkapitalistischer Kontinuität. Friedhelm Grützner setzt sich ausgehend von Andreas Fisahns Buch „Repressive Toleranz und marktkonforme Demokratie“ mit dem Spannungsverhältnis von Demokratie und Liberalismus auseinander. Beide seien für eine kollektive Selbstbestimmung stets aufeinander angewiesen, erzeugten aber auch Widersprüche, die sich in der bundesdeutschen Geschichte im Kontext jeweiliger Akkumulationsregime unterschiedlich ausgeformt hätten.

In Z 131 hatte Peter Wahl das gute Abschneiden des linkspopulären Wahlbündnisses NUPES bei den Wahlen zur französischen Nationalversammlung 2022 kommentiert und als Zeichen der Erholung und Stabilisierung der Linken interpretiert, die sich deutlich von den Krisen der Linken in anderen Ländern des kapitalistischen Zentrums abhebt. Nico Biver nimmt diese Frage erneut auf und verweist darauf, dass eine detailliertere Analyse der Wahldaten deutliche Schwächen der französischen Linken und einen weiteren wahlpolitischen Terraingewinn der politischen Rechten in Frankreich signalisiert. Dem wird im Kontext der aktuellen sozialen Auseinandersetzungen in Frankreich nachzugehen sein. Unter Berichte und Zeitschriftenschau wird über verschiedene aktuelle theoretische Debatten und praktische „Ratschläge“ verschiedener Richtungen der marxistischen Linken informiert.

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Aus der Redaktion: Z konnte sich im letzten Jahr nicht über mangelnde Nachfrage beklagen. Die Heftauflage liegt dank stetigem Abozuwachs jetzt normalerweise bei 1.500, in Einzelfällen darüber. Neu in die Redaktion eingetreten ist die Soziologin Maren Hassan-Beik (Darmstadt); Janis Ehling muss wegen anderweitiger Belastungen bedauerlicherweise aus der Redaktionsarbeit ausscheiden, bleibt der Redaktion aber verbunden.

Z 134 (Juni 2023) wird globale geostrategische und hegemoniale Verschiebungen behandeln, die in der Öffentlichkeit unter Stichworten wie „Deglobalisierung“, „neue Multipolarität“ und „Demokratie vs. Autokratie“ diskutiert werden. Daneben setzen wir andere Diskussionsstränge (Lohnabhängigenbewusstsein; Kapitalismus in Russland, Soziale Bewegungen) fort. Die „Marxistische Studienwoche“ findet in diesem Jahr vom 7. bis 10. August im Haus der Jugend in Frankfurt/M. statt. Arbeitstitel: „Multiple Krise? Zuspitzung, Bearbeitung, Gegenkräfte“. Veranstalter Heinz-Jung-Stiftung, Redaktion Z und das isw/München.