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„Gesellschaft" und „Naturverhältnisse" – Ansätze zu einer Konkretisierung der Begriffe

September 2009

Über Wechselbeziehungen zwischen „Gesellschaft“ und „Natur“ wird neuerdings viel geschrieben (vgl. z. B. den Schwerpunkt „Gesellschaftliche Naturverhältnisse“ in Das Argument Nr. 279, 2008), aber was marxistische Philosophen dazu zu sagen haben, ist meistens (Ausnahmen bestätigen die Regel, vgl. z.B. Wolf 2008 [ebd.]) nicht besonders erhellend.*[1]

Da gibt es das Konzept der Naturdialektik, das „Gesellschaft“ in „die Natur“ einbeziehen will, dazu aber eine sog. menschliche Gattung unterstellt, die ein exzeptionelles Naturprodukt sein soll – ganz im Sinne der christlich-europäischen Tradition einer anthropozentrischen Arroganz. Und es gibt das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse, das „Natur“ in „die Gesellschaft“ hineinnehmen will, dazu aber eine sog. soziale Konstitution von Natur annimmt, was fast vergessen macht, daß es vor der Entstehung, außerhalb der Reichweite und im Untergrund menschlicher Gesellschaften auch noch allerlei Natur gibt; ganz zu schweigen davon, daß natürliche Beziehungen immer schon den gesellschaftlichen innewohnen. Beide Ansätze taugen nicht dazu, jenes violent-dialektische Verhältnis von menschlichen Lebewesen zur nicht-menschlichen Natur zu erhellen, das sich im Zuge der westeurasischen Zivilisation entwickelt hat und das philosophisch manchmal, allerdings etwas verkürzt und verdünnt, „als Subjekt-Objekt-Einheit begriffen werden“ soll (Wahsner 2009, 146f). Sie verschleiern vielmehr die exploitative Aktivität, mit der die Menschen in diesem geographisch-historischen Milieu der übrigen Natur bis heute entgegen getreten sind. „Gesellschaft“ und „Natur“ oder „Naturverhältnisse“ sind in solchen philosophischen Versuchen i.d.R. abstrakte Konzepte von der Art, die Karl Marx in der Einleitung zu den „Grundrissen“ kritisiert hat (vgl. Marx 1976, 35f): Sie sind Abstrakta, die „leere Worte“ bleiben, wenn das Denken nicht durch Ausarbeitung und Zusammenfassung „von vielen Bestimmungen und Beziehungen“ zu jenem gedanklichen Konkretum eines „lebendigen Ganzen“ zurückfindet, das die Wirklichkeit, die zu begreifen Denken sich bemüht, angemessener spiegelt als jene leeren Worte es tun. Ein solches konkretisierendes Denken erfordert auch eine ökologisch informierte Kritik der marxschen Politischen Ökonomie. (anders: Haug 2008)

Bei dem folgenden Versuch einer Konkretisierung der Konzepte „Gesellschaft“ und „Naturverhältnisse“ wird von dem Gedanken ausgegangen, daß (einerseits) Gruppen von Menschen, die diese durch ihr gesellschaftliches Leben gestalten, und (andererseits) natürliche Beziehungen zwischen den Körpern dieser Menschen sowie ihren Um- und Mitlebewelten nicht voneinander zu trennen sind. Das soll theoretisch und an einem historischen Beispiel ausgeführt werden. Dabei wird scharf unterschieden zwischen derartigen Gruppen von Menschen, die keinerlei gesellschaftliche Ungleichheit gekannt haben dürften („Frühe Gesellschaften“), und Gesellschaften mit institutionalisierten Ungleichheitsverhältnissen („Ungleichheitsgesellschaften“), wobei mehr oder minder deutlich fassbare Gesellschaftsformen, die weder der einen noch der anderen dieser beiden Formen eindeutig zuzuordnen sind (z.B. sog. Gentilgesellschaften) und die es z.B. bereits gegen Ende der Altsteinzeit (im Jungpaläolithikum) und in der Jungsteinzeit (Neolithikum) gegeben haben mag, vernachlässigt werden.

„Frühe Gesellschaften“ und „Naturverhältnisse“

Die paläolithischen Kollektive von Hominiden, die sich seit den Übergängen vom Pliozän zum Pleistozän nebeneinander, nacheinander und auseinander entwickelt haben, waren, naturwissenschaftlich betrachtet, ein besonderer Aspekt der ökologischen Systeme der Geo-Biosphäre der Erde in jenen vor- und eiszeitalterlichen Zeiten. Ein jedes dieser Kollektive war eine Population einer bestimmten tierlichen Spezies innerhalb der Biozönose (der Gesamtheit der Gruppen verschiedenartiger tierlicher und pflanzlicher Lebewesen) eines nicht scharf abgegrenzten Habitats. Alle diese Lebewesen, darunter die Hominiden, waren miteinander und mit der unbelebten Umwelt durch Nahrungsketten und (andere) Stoff- und Energieströme verbunden, die sie zu beeinflussen suchten. (Vgl. Odum 1983, Bd. 1, 5f, 10ff, 253f, 376f; Streit 1980, 109ff; im folgenden werden diese frühen Hominiden sowie die späteren, die die sog. Gattung Homo ausmachen sollen, einheitlich als Menschen bezeichnet.)

Sozialwissenschaftlich betrachtet kann man (entgegen ökologischem Sprachgebrauch, in dem die Biozönose, die Gemeinschaft aller Lebewesen eines Gebiets, zuweilen auch als Gesellschaft bezeichnet wird) ein solches ökosystemares Hominiden-Kollektiv als (frühe) menschliche Gesellschaft bezeichnen. Diese ist eine Ansammlung menschlicher Einzelwesen und Kleingruppen, die sich in einem überschaubaren Gebiet alleine oder zu mehreren ihren Lebensunterhalt verschaffen, zum Teil Mutter-Kinder-/Geschwister-Gruppen bilden und im Falle von Bedrohungen ihres Gebiets auch gemeinschaftliche Schutzanstrengungen unternehmen. Diese Leute leben nicht ortsfest, weswegen sich auch die Lage ihres Habitats oder Lebensraums. der zudem natürlich selber Veränderungen unterliegt, ändern kann, und die Bevölkerung oder Population ist keine starre Größe, sondern wird selbstverständlich durch Bevölkerungsbewegungen verschiedener Art nach Umfang und Zusammensetzung verändert. Die Gesellschaften selber sind vermutlich ein lockerer Verbund ihrer unterschiedlichen Mitglieder gewesen, die durch ihr Tun und Lassen, ihr Denken und Fühlen teilweise enger und länger, teilweise aber auch nur gelegentlich und oberflächlich miteinander verbunden gewesen sein dürften. (hierzu u. z. folgenden: Lambrecht u.a. 1998, 64-90; Tjaden-Steinhauer/Tjaden in Sperling/Tjaden-Steinhauer Hrg. 2004, 43-56)

Die natürlichen Beziehungen, die diesen frühen (und ebenso den späteren) menschlichen Gesellschaften eigen sind und die sozusagen das natürliche Substrat und Milieu der menschlichen Praxen ausmachen, lassen sich drei Grundformen von Naturverhältnissen zuordnen. Dabei gehen nicht alle diese Beziehungen in diesen Grundformen auf; nicht zum Beispiel: spielerische Mensch-Umwelt-Beziehungen und ebensolche der Menschen zueinander, darunter auch solche sexueller Art. Die drei Grundverhältnisse sind:

(1) das Verhältnis der einzelnen menschlichen Lebewesen zu den für sie (insbesondere für ihren Lebensunterhalt) wichtigen übrigen Elementen der biotischen (Arten-)Gemeinschaft sowie der abiotischen Umwelt;

(2) das Verhältnis der menschlichen Elternteile zu ihrem ungeborenen und geborenen Nachwuchs sowie der hierin eingeschlossenen Menschen unterschiedlichen Körpergeschlechts zueinander;

(3) das Verhältnis der menschlichen Bevölkerung zu ihrem (jeweiligen) Lebensraum und zu dessen Ausstattung mit naturraum-landschaftlichen Dargeboten und Beschränkungen.

Diesen drei grundlegenden Naturverhältnissen entsprechen drei Dimensionen menschlicher Praxis, die insgesamt der Reproduktion der Individuen wie der Reproduktion ihres Kollektivs, d.h. dem Überleben der Gesellschaft innerhalb gegebener Räume und in künftige Zeiten hinein, dienen sollen. Dieses sind die Dimensionen der Subsistenzpraxis („Beschaffung des Lebensunterhalts“) und der familialen und politischen Praxen („Sorge für dem Nachwuchs“, „Sicherung des Lebensraums“). Es gibt sicherlich ein nicht-zufälliges Interagieren solcher Praxen bereits in diesen „frühen Gesellschaften“: z. B. der praktischen Mutter-Kind-Beziehung und der Praxis der Nahrungsmittelversorgung; der Praxis der Raumerkundung und der Praxis der Markierung von Nahrungsquellen. Jedoch dürfte der Grad der Vernetzung der Gesellschaftsmitglieder miteinander nicht sehr hoch gewesen sein. Bedenkt man zudem die Variabilität der Populationen und der Habitate der jeweiligen – ihrerseits höchst automobilen – Hominiden, so kann die Auffassung vertreten werden, daß die alt- und mittelpaläolithischen menschlichen Gesellschaften vermutlich in hohem Grade offene Verbünde gewesen sind. Die Rede von den „naturwüchsigen Gemeinwesen“ ist daher mit Vorsicht zu genießen.

„Ungleichheitsgesellschaften“ und „Naturverhältnisse“

Es gibt eine Vielzahl archäologischer und anthropologischer Befunde zur prähistorischen Existenz großer Kollektive des Homo sapiens sapiens, die aus dem späten Jungpaläolithikum und dem Neolithikum stammen und die geeignet sind, deren Lebensweise zu erhellen. Diese war allem Anschein nicht durch institutionalisierte Ungleichheiten gekennzeichnet. Hier wird jedoch, wie erwähnt, auf theoretische Rekonstruktionen gesellschaftlicher Formen und Verhältnisse solcherart verzichtet. (Vgl. aber Lambrecht u.a. 1998, 91-189; Tjaden-Steinhauer in Mies/Tjaden Hrg. 2009, 267-280)

Gesellschaften, die eindeutig identifizierbare institutionalisierte Ungleichheiten aufweisen, entstanden zunächst im sog. Vorderen Orient vor ca. 5.000 Jahren und diese setzten sich über die europäische Antike im europäischen Westen in besonders markanten Formen fort, schließlich auch in neoeuropäischen Gebieten. (vgl. hierzu verschiedene Arbeiten aus der Studiengruppe „Subsistenz, Familie, Politik“ in: Lambrecht u.a. 1998, 190-241; Tjaden-Steinhauer/Tjaden 2001, 13-335; Sperling/Tjaden-Steinhauer Hrg. 2004, 64-9, 179-215, 216-236; Tjaden-Steinhauer 2009, 271-274; Mies/Tjaden Hrg. 2009, 51-105, 208-295, 308-323) Über die Voraussetzungen und Anlässe dieser ersten Übergänge zu Klassengesellschaften und zu patriarchalen und staatlichen Gewaltverhältnissen, über die wir schon einiges bei Friedrich Engels lesen können (Engels 1990), soll hier nicht nachgedacht werden. Sehr wahrscheinlich haben Möglichkeiten und Schranken in denjenigen Beziehungen, die man heute als „Auseinandersetzung mit der Natur“ bezeichnet, hierfür eine große Rolle gespielt. Im folgenden soll lediglich versucht werden, die grundlegenden Veränderungen aufzuzeigen, denen die gesellschaftlichen Beziehungen, Handlungen und Verhaltensweisen ausgesetzt waren, als seßhafte Gesellschaften mit institutionalisierten Ungleichheitsverhältnissen entstanden; als nämlich

- aus (evtl. auch pflanzenbauenden) Sammler/inne/n und Jäger/inne/n bäuerliche Vieh- und Bodeneigentümer wurden;

- aus unständigen männlichen Spielgesellen der Frauen ständige Familienvorsteher wurden; und

- aus Akteuren in gemeinsamen Angelegenheiten politische Herrscher über begrenzte Gebiete wurden.

Eingeführt wurden in diesem Wandel der sozialen Relationen und Interaktionen institutionalisierte, d.h. mehr oder minder allgemein anerkannte gesellschaftliche Verfügungsgewalten und -rechte in Bezug auf Menschen, auf die übrige Mitlebewelt sowie auf unbelebte Dinge und Kräfte. Dies sei am Beispiel der antiken römischen Gesellschaft der Republikzeit erläutert, in der sich Macht-Ohnmacht-Verhältnisse ziemlich klar darstellten, die sich in Vorgängergesellschaften des westeurasischen Altertums herausgebildet hatten und die ihrerseits bis in die bürgerlichen Gesellschaften der westlichen Zivilisation hinein fortwirken sollten. (vgl. im einzelnen Tjaden-Steinhauer/Tjaden 2001, 19-99, auch 100-335)

In der Frühzeit der römischen Gesellschaft, deren Subsistenzbasis hauptsächlich die Land- und Viehwirtschaft war, wurde die Beschaffung des Lebensunterhalts ökonomischer Verfügungsgewalt unterworfen, welche patrizische Patrone (groß)bäuerlicher Betriebe innehatten. Der Patron erlangte vererbbares Eigentum an Großvermögen (res mancipi) in Gestalt von Nutztieren und später auch an Grund und Boden sowie an Sklaven. Uno actu (in eben diesem Akt, d.h. hier aber stets: in einem komplexen realhistorischen Vorgang) erlangte er eine außerordentliche Verfügungsgewalt über landärmere Klienten, die er zur Leistung von Arbeiten anhalten konnte. (De Martini 1991, 35-38) Es wurden somit Böden und Nutztiere, Teile der Um- und Mitlebewelt, in Produktionsmittel verwandelt und zugleich – schon vor Einführung der Sklavenarbeit in den späteren „Villen“-Betrieben – Menschen zu abhängigen Arbeitskräften gemacht. Die Betriebseigentümer verfügten somit über verschiedenartige Faktoren, die für die eigenen Wohlstandsmehrung eingesetzt werden konnten.

Des weiteren wurde in der frühen römischen Gesellschaft die Sorge für den Nachwuchs patriarchaler Verfügungsgewalt unterstellt, die der pater familias innehatte. (vgl. Gardner 1998) Dieser männliche Familienvorstand erhielt die patria potestas, die tatsächliche und rechtliche Gewalt über die als die seinen anerkannten Kinder; eine Gewalt, die sich bereits auf das ungeborene Kind erstreckte und in der Regel erst mit dem Tod des Vaters endete. Uno actu erhielt ein pater familias Verfügungsgewalt über die Ehefrau, sei es, daß diese unter der tatsächlichen und rechtlichen Gewalt des eigenen Vaters verblieb, sei es, daß sie in der sog. manus-Ehe der Gewalt ihres Ehemannes unterstellt wurde. So waren daher die Kinder, Mädchen wie Jungen, väterlicher Gewalt unterworfen und zu Prokreationswerkzeugen gemacht und zugleich die Frauen, gerade auch als Ehefrauen, unmittelbar einer patriarchalen Gewalt ausgesetzt. Deren Inhaber besaßen also unterschiedliche Instrumente, die der gezielten Nachkommensmehrung förderlich sein konnten.

Schließlich wurde in dieser römischen Gesellschaft die Sicherung des Lebensraums durch senatorische Gewalt gehandhabt, die in der Formel Senatus Populusque Romanus als eine der gesamten römischen Bürgerschaft (von Senat und Volk) sich ausgab. (vgl. Bleicken 1995) Die staatliche Gewalt erstreckte sich vor allem über das Bürgergebiet (ager Romanus) als das ursprüngliche, aber immer wieder erweiterte Siedlungsgebiet der römischen Bürgerschaft, später auch auf dazu gezählte Kolonien und Municipien römischer Bürger und schließlich auf ferne Provinzen. Uno actu bezog sich diese Gewalt auf die jeweilige Wohnbevölkerung, und zwar auf die freie Bürgerschaft, darunter die Plebejer, wie auf Einwohner ohne oder mit nur eingeschränktem Bürgerrecht sowie auf außerhalb des Bürgergebiets lebende unterworfene „Fremde“ (peregrini). Somit wurden das Bürgergebiet und seine Erweiterungen sowie jenseits seiner Grenzen liegende Gebiete mitsamt ihrer naturraum-landschaftlichen Reichtümer und Vermögen zum Gegenstand einer „obrigkeitlichen“ Domination; zugleich wurden die darin ansässigen Menschen höchst unterschiedlicher Rechtsstellung in immer größerer Zahl der patrizisch bestimmten senatorischen Obrigkeit direkt oder indirekt unterworfen. Diese Obrigkeit herrschte daher über zahlreiche Ressourcen, die dem Imperiumsbau dienlich sein konnten.

Die in der römischen Gesellschaft geschaffenen institutionalisierten Verfügungsgewalten und -rechte in den drei genannten Dimensionen gesellschaftlicher Reproduktion – die ökonomische Gewalt des Patrons über Großvermögen, die patriarchale Gewalt des pater familias über Kinder und die staatliche Gewalt des Senats über Siedlungsgebiete – hatten also zunächst Rundumwirkungen: auch die abhängig arbeitenden Bauern, denen jene Vermögen fehlten; auch die Ehefrauen, die die Kinder zur Welt brachten; auch die Einheimischen und die Fremden, die die Gebiete besiedelten, waren diesen Gewalten ausgesetzt. Darüber hinaus hatte die Ausübung der genannten Verfügungsgewalten und -rechte Konsequenzen für die jeweils einbezogenen Naturverhältnisse, und diese Effekte waren aggressiver Art. Die Ausübung der Gewalt des Patrons in der Agrarökonomie implizierte die Ausbeutung vielfältiger Arbeitsvermögen und (sonstiger) Naturvermögen zwecks kontinuierlicher Produktion, was paläolithischen Sammler/inne/n und Jäger/inne/n unbekannt gewesen war. Die patriarchale, familienväterliche Gewalt implizierte die Ausnutzung der unterschiedlichen sexuellen Körpervermögen zum Zweck intentioneller Prokreation, was altsteinzeitlichen Menschen fremd gewesen ist. Die senatorische staatliche Gewalt implizierte die Sicherung der verschiedenen Formen der Aneignung ökosystemarer Potentiale zwecks koordinierter Domination einer Diversität von Populationen und Habitaten.

Zur Verfassung der „westlichen“ Ungleichheitsgesellschaft

In den Ungleichheitsgesellschaften westeurasischen Typs (denjenigen, die dann im west-europäischen Weg der Gesellschaftsgeschichte vorherrschten) wirkten die verschiedenartigen Verfügungsgewalten und -rechte offenbar recht erfolgreich zusammen und sie verstärkten einander. Das galt für die antike römische Gesellschaft, man denke nur an die personelle Koinzidenz der familienväterlichen Gewalten über Menschen wie über Sachvermögen, aber auch für ihre Vorgänger- und Nachfolge-Gesellschaften, wenn auch nicht für alle. (Nicht z.B. für die Gesellschaft der Westgoten in Iberien; ein modernes Beispiel funktionierenden Zusammenwirkens staatlicher und ökonomischer Verfügungsgewalten wird in der Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus modelliert; insgesamt vgl. Tjaden-Steinhauer/Tjaden 2001, 99-311, bes. 255-263; 360-378) Ferner hatten die im Verbund wirkenden praktizierten und durch Gesetz angeblich legitimierten Gewalten im römisch-republikanischen Herrschaftsgebiet eine Anzahl sozialer Klassifizierungen im Gefolge, die durchaus als Klassenbildungen und -gegensätze bezeichnet werden können: so die Klassifizierung „(großbäuerlicher) Patron und Klienten“ und „(landwirtschaftlicher) Villeneigentümer und Sklavenarbeiter“; ebenso „pater familias und Kinder“ und „(familienväterlicher) Mann und Ehefrau“; schließlich: „Patrizier und Plebejer“ und „römische Bürger und Fremde“. Da die klassische Unterscheidung von Ausbeuterklasse und ausgebeuteter Klasse, die in der marxschen Politischen Ökonomie für die kapitalistische Produktionsweise ausgearbeitet worden ist, auf die altrömische Gesellschaft unstrittig nicht ohne weiteres anwendbar ist, muß man sich, in Ansehung der antik-römischen Klassengesellschaft, für die theoretische Fassung gesellschaftlicher Ungleichheiten einen anderen Klassenbegriff einfallen lassen, und zwar einen solchen, der die genannten realen Klassifizierungen beachtet.

Das ist um so notwendiger, als die altrömische Gesellschaft gerade wegen des erwähnten Zusammenspiels der verschiedenartigen Verfügungsgewalten und -rechte als ein einziges gesellschaftliches Gefüge erscheint und daher auch unschwer als eine Gesellschaft zu begreifen ist. Dabei ist sie ein Musterbeispiel dafür, wie die gesellschaftliche Reproduktion (hier: auf gewalttätige Weise) mit den natürlichen Verhältnissen umgehen kann, welche ihre Existenzbasis bilden. Die in der altrömischen Gesellschaft ausgeprägte Trinität ökonomischer, patriarchaler und staatlicher Verfügungsgewalten und -rechte samt ihrer Rundumwirkungen hat sich, wie schon angedeutet, bis hin zur bürgerlichen Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Gestalt fortentwickelt und dabei an Durchschlagkraft erheblich gewonnen. Das schließt die aggressiven Effekte ein, die das natürliche Substrat und Milieu gesellschaftlicher Praxen treffen, was im Zeitalter der Klimagaseemission, der Reproduktionsmedizin und der Kriegswaffenautomation nicht besonders erklärt werden muß. Das Problem ist vielmehr: auf welche Weise können die verursachenden Gewaltverhältnisse zurückgedrängt werden? Das ist eine Frage, die den Rahmen dieses Aufsatzes sprengt. (vgl. aber Czeskleba-Dupont/Tjaden 2008 sowie den Themenkomplex „Gesellschaftliche Planung“ in Mies/Tjaden Hrg. 2009, 400-436)

Literatur

Bleicken, Jochen, 1995: Die Verfassung der Römischen Republik, 7. Aufl., Paderborn

Czeskleba-Dupont, Rolf/Tjaden, Karl Hermann, 2008: Marx, Mensch und die übrige Natur. In: Das Argument Nr. 279, 50, S. 839-847

De Martino, Francesco, 1991: Wirtschaftsgeschichte des Alten Rom, München

Engels, Friedrich, 1990 [1884]: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEGA² I/29, Berlin (DDR), S. 7-117

Gardner, Jane F., 1998: Family and Familia in Roman Law and Life, Oxford

Haug, Wolfgang Fritz, 2008: Sechs Einsprüche, ökologische Marx-Kritik betreffend. In: Das Argument 279, 50, S. 848-849

Lambrecht, Lars, [u.a.], 1998: Gesellschaft von Olduvai bis Uruk, Soziologische Exkursionen, Kassel (Studien zu Subsistenz, Familie, Politik. 1)

Marx, Karl, 1976 [1857]: Einleitung zu den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“. MEGA² II/1.1, Berlin (DDR), S. 17-45

Mies, Thomas/Tjaden, Karl Hermann, Hrg., 2009: Gesellschaft, Herrschaft und Bewußtsein, Symbolische Gewalt und das Elend der Zivilisation, Kassel (Studien zu Subsistenz, Familie, Politik. 4)

Odum, Eugene P., 1983: Grundlagen der Ökologie in 2 Bänden, Stuttgart

Sperling, Urte/Tjaden-Steinhauer, Margarete, Hrg., Gesellschaft von Tikal bis irgendwo, Europäische Gewaltherrschaft, gesellschaftliche Umbrüche, Ungleichheitsgesellschaften neben der Spur, Kassel (Studien zu Subsistenz, Familie, Politik. 3)

Streit, Bruno, 1980: Ökologie, Ein Kurzlehrbuch, Stuttgart

Tjaden-Steinhauer, Margarete, 2009: Einige kritische Bemerkungen zum Geschlechterkonzept der Frauenforschung. In: Goldschmidt, Werner [u.a.], Hrg., Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Beiträge zur Dialektik der Demokratie, Frankfurt-M. [etc.], S. 263-275

Tjaden-Steinhauer, Margarete/Tjaden, Karl Hermann, 2001: Gesellschaft von Rom bis Ffm, Ungleichheitsverhältnisse in West-Europa und die iberischen Eigenwege, Kassel (Studien zu Subsistenz, Familie, Politik. 2)

Wahsner, Renate, 2009: „Die Materie der Erkenntnis kann nicht gedichtet werden“, Zu den Bedingungen einer materialistischen Spekulation bzw. Dialektik und zur Unmöglichkeit einer monistischen Abbildtheorie. In: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung Nr. 77, 20 (März 2009), S. 138-157

Wolf, Frieder Otto, 2008: Wider die Kategorie der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. In: Das Argument Nr. 279, 50, S. 867-872

*[2] Ich danke Margarete Tjaden-Steinhauer für kritische Anmerkungen zu früheren Fassungen meiner Darstellung unseres gemeinsam entwickelten theoretischen Rahmens.

Links:

  1. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftn1
  2. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftnref1