Berichte

Marx - ein toter Hund?

Kassel, 19./20. Februar 2009, Institut für Soziologie Uni Kassel

Juni 2009

Das Fachgebiet für Makrosoziologie des Instituts für Soziologie der Universität Kassel veranstaltete gemeinsam mit der Otto-Brenner-Stiftung unter dem Titel „Marx. Ein toter Hund?“ eine mit 70 Personen gut besuchte Tagung zur Renaissance marxistischen Denkens in der Wissenschaft. Anhand eines breiten Spektrums – sowohl was die Auswahl der behandelten Themen, als auch der eingeladenen Referentinnen und Referenten angeht – sollte ein Versuch unternommen werden, aus dem Marxschen Œuvre (u.a. Wertformanalyse, Klassenanalyse, Revolutionstheorie, Historischer Materialismus) diejenigen Ansätze zu extrahieren, welche mit den Worten des Kasseler Soziologen Heinz Bude als (wieder) „lebendig“ angesehen werden können. Exemplarisch sei hier auf drei Vorträge genauer eingegangen.

Den Anfang machte Urs Lindner aus Berlin mit seinen Erläuterungen zu Marx aus einer wissenschaftstheoretischen Sicht. Durch die Ambivalenz des cultural turns, bei dem der Bedeutungsgewinn des Kulturellen mit einer weitestgehenden Abkehr der Ansicht der objektiven Erkennbarkeit der Welt einhergeht, bleibt es notwendig auf den auf dem Marxschen Werk fußenden sozialwissenschaftlichen Durchbruch zu rekurrieren. Als bahnbrechend hieran hob Lindner beispielhaft die von Marx elaborierte Kritik der politischen Ökonomie hervor. Diese ist im Gegensatz zur Mathematisierung des Sozialen in der Neoklassik eine sozialtheoretische Wende in der Politischen Ökonomie, welche wissenschaftlich empiriegestützt und formalisiert ist, in der Methodik aber den dynamischen Charakter des Historischen hervorhebt. Forschung wird zunächst als Prozess der Detailanalyse, als Aufspürens des „inneren Bandes“ einer Sache verstanden, um drei Typen von Erklärungen leisten zu können, nämlich: eine funktionale (Welche Funktion erfüllt x?), eine genetische (Wie kommt x zustande?) und eine mechanische (Welche Prozessstruktur weißt x auf?). Dementsprechend definieren schließlich sozialwissenschaftliche Gesetze Rahmenbedingungen und stellen keine Zwangskausalitäten dar.

Im zweiten vorzustellenden Referat legte Ingo Elbe aus Dortmund verschiedene Deutungen des Marxismus retrospektiv dar. Hierbei wird eine Unterscheidung selbst heterogener Paradigmen per Unterteilung in einen „traditionellen“, einen „westlichen“ und einen „neuen Marxismus“ vorgenommen. Ersterer kann nach Elbe ab ca. 1878 ausgemacht werden; der „Anti-Düring“ von Engels gilt quasi als „starting point“. Demzufolge lautet Elbes Grundthese auch, dass es sich im Kern eigentlich um einen „Engelsismus“ handle. Kennzeichnend für diesen sei eine ontologisch-deterministische Tendenz (wissenschaftlicher Sozialismus als allgemeine Weltanschauung mit einer „Szientifizierung“ als deren Folge), eine modellhaft-vereinfachte empirische Widerspiegelung gesellschaftlicher Phänomene durch die Marxsche Werttheorie, sowie eine Inhaltskritik des bürgerlichen Staates, welche versucht, die sich hinter dem formellen Schein befindenden Klassenverhältnisse offen zu legen. Die Entstehung des „westlichen Marxismus“ datiert Elbe auf das Jahr 1923 mit dem Erscheinen der Werke Geschichte und Klassenbewusstsein von Georg Lukács und Marxismus und Philosophie von Karl Korsch. Dieser aus der Krise der Arbeiterbewegung in den Jahren 1918ff. erwachsene Strang konzentriert sich auf eine „subjektive Vermitteltheit des Objekts“ und übt wesentliche Kritik am vorangegangenen traditionellen Paradigma. Der Determinismus habe aufgrund einer Verkehrung der Marxschen Theorie zu einer kontemplativen Haltung geführt. Weiterhin wird die Totalität des historischen gesellschaftlichen Prozesses als notwendiger Bedeutungszusammenhang betont, sowie das Prinzip der Verdinglichung hervorgehoben. Doch trotz der starken Subjektebene, welche neue Akzente zu setzen vermochte, besitzt auch diese Form des Marxismus für Elbe zentrale Schwachstellen. Zu nennen sind hier vor allem das Ausblenden der Staatskritik und der Kritik der Politischen Ökonomie, was daher einer „verschwiegenen Orthodoxie“ in jenen Punkten gleichkomme. Die Neue Marxlektüre, welche schließlich ab Mitte/Ende der 1960er Jahre einsetzte kann dadurch charakterisiert werden, dass vormals ausgelassene Stränge wieder kritisch neu bearbeitet und Marx selbst grundlegend gelesen wurde. Dies führte dazu, dass es sich beim Gegenstand der Kritik der Politischen Ökonomie fortan nicht mehr um eine Beschreibung kontemporärer Phänomene, sondern um den „idealen Durchschnitt“ des Kapitalismus handelt. Außerdem werden Widersprüche bei Marx selbst anerkannt und nicht mehr als bloße „Fehlinterpretationen“ abgetan. In Bezug auf die Staatstheorie dominiert abschließend eine Ableitung vom formanalytischen Element der Werttheorie mit der Frage, warum der Staat gerade jene spezifische Form annimmt?

Einen Fokus auf den ökologischen Aspekt legte schließlich Christoph Görg von der Universität Kassel, indem er der Fragestellung nachging, ob Öko-Kapitalismus möglich sei? Aufbauend auf der Grundthese, dass eine Ökologisierung kapitalistischer Probleme im Gange sei, dies jedoch auch zugleich das Grundproblem darstelle, erläuterte er zunächst in einem theoretischen Teil, welche Relevanz marxistische Ansätze zu dieser Analyse beitragen können, um dann eine kurze Zeitdiagnose vorzunehmen. Als relevante Stärken der Marxschen Theorie stellte er zum einen das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse heraus. Ein Prozess der Vergesellschaftung der Natur könne aus einer konstruktivistischen Sicht attestiert werden, da alle Gesellschaften den Stoffwechsel mit der Natur regulieren müssen. Weiterhin sind mit Marx die Irrationalität und Abstraktheit kapitalistischer Synthesis genauso erkennbar, wie die sich prinzipiell zuspitzenden gesellschaftlichen Antagonismen und die Historizität kapitalistischer Entwicklung überhaupt. Als Schwächen respektive „blinde Flecken“ hob Görg hervor, dass die „politische Dynamik“ nicht in der kompletten Breite dargestellte werde. Hier sind v.a. Fragen der Ökologie, des Rassismus, aber auch Genderaspekte zu nennen. Außerdem würden durch marxistische TheoretikerInnen oftmals bürgerliche Modernisierungsvorstellungen reproduziert. Als zeitdiagnostisches Fazit folgerte er, dass eine effiziente Ressourcenverwertung im Sinne ökologischer Nachhaltigkeit innerhalb kapitalistischer Logik nur bedingt möglich sei. Zwar bestehe das Potenzial der Schaffung neuer Absatzmärkte und Akkumulationsmöglichkeiten im Bereich der green technology (z.B. durch erneuerbare Energien), ob und wie dies letztlich genutzt wird, hängt hingegen von den jeweiligen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und Kämpfen ab, wie beispielsweise der Atomkompromiss zeigt. Langfristig werden trotz alledem die ökologischen Probleme wie das der genetischen Ressourcen, der Verteilung und Verfügbarkeit von Land oder des Zugangs zu (Trink-)Wasser durch den Kapitalismus forciert und neue Krisen ziehen herauf. Somit ist der bereits beschrittene Weg hin zum Öko-Kapitalismus nicht die Lösung, sondern ein Teil des Problems selbst.

Zu den einzelnen Themen wie auch zum Kongress generell wäre noch mehr zu sagen, beispielsweise über die informativen und aufschlussreichen Referate von u.a. Michael Heinrich zur Kritik der Politischen Ökonomie, Klaus Dörre zur Renaissance des Klassenbegriffs in der Soziologie oder Rainer Land zum Thema Ökologie. Einig waren sich am Ende der beiden Tage alle Beteiligten, dass die Frage, ob Marx nun ein toter Hund sei mit „Nein“ beantwortet werden muss. Vielmehr erscheint es von evidenter Notwendigkeit, marxistische Theorie aufzugreifen, kritisch zu reflektieren und weiterzuentwickeln, um sie für aktuelle Debatten fruchtbar zu machen.