Berichte

Deutschlands Eintritt in die Moderne. Die ungeliebte Revolution 1918/19 und die Linke

VIII. Ständiges Kolloquium zur historischen Sozialismus- und Kommunismusforschung, Berlin, 23./24. Januar 2009

Juni 2009

Am ersten Tag des Kolloquiums kennzeichnete Werner Bramke (Leipzig) die Novemberrevolution als die Marneschlacht der Weltrevolution. Er zeigte auf, dass der Kapitalismus sowohl in Deutschland als auch global zu dieser Zeit so schwach wie niemals zuvor und danach gewesen ist. Aber auch angesichts dieser historischen Bedingungen habe es keine zwangsläufigen Entwicklungen hin zu einer anderen Gesellschaftsordnung gegeben. Auf die Etablierung des modernen Sozialstaats der Weimarer Republik habe die KPD nur sehr selten eine angemessene Politikkonzeption entwickelt. Günter Benser (Berlin) unterstrich die fundamental unterschiedliche politische Bedeutung der Novemberrevolution, die ihr in den ersten Regierungserklärungen von Konrad Adenauer nach Gründung der BRD und von Otto Grotewohl nach Gründung der DDR beigemessen worden ist. Im Anschluss betonte Michael Buckmiller (Hannover), dass Deutschland vor 1914 zwar ökonomisch, nicht jedoch politisch in der Moderne angekommen war. Die Revolution habe insofern einen bedeutenden Subjektwechsel deutlich gemacht, weil in ihr die Arbeiterklasse die eigentlichen Aufgaben der bürgerlichen Klasse übernommen habe. In der Revolution habe sich außerdem die Möglichkeit der Entwicklung der Konterrevolution aus einer ehemals revolutionären Partei heraus gezeigt. Gustav Noske sei dafür ein Protagonist gewesen. Auf die Thematik der Konterrevolution ging Buckmiller anschließend auch im Zusammenhang mit dem Kapp-Putsch ein. Aus dem Scheitern dieses Putsches sei von der Konterrevolution die Lehre gezogen worden, dass es für eine erfolgreiche Konterrevolution eine Massenbewegung geben müsse. Diese konterrevolutionäre Massenbewegung sei ein paar Jahre später durch die faschistische Bewegung entstanden. Mit Buckmiller stimmte Klaus Lederer (Berlin) darin überein, dass die Arbeiterbewegung 1918/19 Aufgaben des Bürgertums übernommen habe. Außerdem habe sich gezeigt, dass Geschichte weder abgeschlossen noch am Reißbrett zu planen sei. Lederer ging zudem auf die verschiedenen Mythen ein, die sich im Zusammenhang mit der Novemberrevolution bei den Kommunisten, bei den Sozialdemokraten und innerhalb der Bourgeoisie gebildet haben.

In der Diskussion bedauerte Klaus Kinner (Leipzig) ausdrücklich, dass das in der USPD vorhandene Potenzial politisch nicht habe wirksam werden können. Buckmiller betonte angesichts des Beispiels der SPD vor 1914 die Notwenigkeit, in den Parteien der Arbeiterbewegung stets die ideologischen wie auch die realpolitischen Prozesse genau zu analysieren. Eine sozialistische Partei müsse immer einen eigenen theoretischen Kompass haben, sonst verirre sie sich im kapitalistischen und parlamentarischen System. Weitere Diskussionsbeiträge beschäftigten sich mit Problemen der Klassenspaltungen in Deutschland seit Anfang des 20. Jahrhunderts, mit der Frage der Handlungsmotivationen und den Vorstellungen der Arbeiterklasse hinsichtlich des Sozialismus sowie den zahlreichen immer noch bestehenden historischen Forschungsdefiziten (z.B. der fehlenden Mediengeschichte der Revolution und der gleichfalls fehlenden Finanzgeschichte der Konterrevolution).

Der zweite Tagungstag wurde durch den Beitrag Monika Runge, Vorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen eröffnet. Sie wies neben 1918/19 auch auf die Jahrestage 1939 und 1989 hin. Es sei wünschenswert, die von Klaus Kinner herausgegebenen bisher vier Bände zur Geschichte des Kommunismus in Deutschland bis zum Sonderparteitag der SED 1989 fortzusetzen. Damit solle sicherlich kein verbindliches Geschichtsbild verordnet werden, vielmehr müsse stets eine streitbare und lebendige Geschichtsdiskussion geführt werden. Wichtig sei, historisches Wissen und die Diskussion darüber in der Partei DIE LINKE zu verbreiten. Es sei notwendig, sich in die allgemeine Deutungshoheit über Geschichte einzumischen, auch wenn hier bestimmt keine Hegemonie erlangt werden könne. Das Grußwort des Parteivorstands der Partei DIE LINKE überbrachte Dietmar Bartsch. Er erinnerte an die Revolution 1918/19, an 1949, 1989 und 1939, an die u.a. mit diesen Daten verbundene Bedeutung des Kampfes um die Geschichte. Mit dem Ende der Zweistaatlichkeit habe sich nach 1989 in Deutschland eine hegemoniale Geschichtskultur herausgebildet, in der nicht gefragt werde, was die Menschen 1989 in der DDR erreichen wollten – nämlich demokratische und soziale Emanzipation, Respekt, Würde und Sozialstaatlichkeit. Er wies darauf hin, dass die Geschichte der Arbeiterbewegung und der sozialen Kämpfe nicht mit der Geschichte der Arbeiterparteien identisch sei. Geschichte müsse erkennbar gemacht, Mythen, Legenden und eine Parteigeschichtsschreibung kritisiert werden. Aus den Fehlern der KPD habe die Linkspartei u.a. insoweit gelernt, als sie zu Bürger- und Menschenrechten kein instrumentelles Verhältnis habe. Bramke führte einige grundsätzliche Aspekte zur Problematik der Widerspiegelung der Revolution in Geschichtspolitik und Geschichtsschreibung aus. Geschichtspolitik als Auseinandersetzung mit besonders wichtig erachteten Thematiken gebe es erst seit 1989. Während der Zeit der Weimarer Republik sei die Revolution in der Kultur stark verankert gewesen. Vor allem in der Literatur sei die Revolution immer präsent gewesen, wobei es offenbar in der Schönen Literatur ein Übergewicht an linken Autoren gegeben habe. Diese Verankerung in der Kultur müsse von den Historikern beachtet und weiter untersucht werden. Nach 1949 habe die Novemberrevolution in der BRD zur Abgrenzung und in der DDR zur Selbstlegitimierung gedient. In der historischen Forschung habe es in den 1960er Jahren in der BRD einen Trend hin zu einer positiveren Bewertung dieser Revolution und der Rätebewegung gegeben, während in der DDR bis in die 1980er Jahre nur ein geringer Spielraum hinsichtlich ihrer Bewertung vorhanden gewesen sei. Nach 1989 sei das Interesse der „offiziellen“ Historiker der BRD an der Revolution erloschen. Heute müsse die Linke gegen eine Ausgrenzung kämpfen und mit neuen Themenstellungen wieder neugierig auf die Novemberrevolution machen. Als Fragestellungen seien denkbar: Die SPD-Verratsthese hinterfragen; die starke Konterrevolution im „alten“ Osten untersuchen; lokale Differenzen und Differenzierungen innerhalb der USPD herausarbeiten; das Wirken von nichtproletarischen Bevölkerungsteilen in der Revolution analysieren. Kinner berichtete in seinem Beitrag über die Entstehung der vier Bände zur Geschichte des Kommunismus in Deutschland, bevor er anhand der wichtigsten historischen Eckdaten die Problematiken hinsichtlich der Gründung der KPD, ihrer offiziellen Politik sowie die jeweiligen innerparteilichen oppositionellen Strömungen darlegte. In den ersten Jahren habe es innerhalb der KPD die Konflikte über ein linkssozialistisch-demokratisches Konzept und ein kommunistisch-bolschewistisches Konzept, anschließend stets die Auseinandersetzungen zwischen einem „kommunistischen Radikalismus bis hin zum Putschismus“ einerseits und einer „kommunistischen Realpolitik“ andererseits gegeben. Diese Politik der KPD sei dabei Ausdruck der sozialen und politischen Lage beträchtlicher Teile der Arbeiterklasse gewesen. Als eine Hauptproblematik der Politik der KPD formulierte er die Frage: Wie ist revolutionäre Politik in nichtrevolutionären Zeiten zu betreiben? Notwendig sei dafür ein geschlossenes Konzept des Verhältnisses von Nah- und Fernzielen. Ralf Hoffrogge (Berlin) unternahm einen Vergleich zwischen Richard Müllers Revolutionsgeschichte „Vom Kaiserreich zur Republik“ (1924/25) und der „Illustrierten Geschichte der Deutschen Revolution“ (1928/29). Diesen Vergleich ordnete er in den Diskurs Erster Weltkrieg – Revolution ein, der während der Weimarer Republik stattfand. Der Mainstream dieses Diskurses sei durch einen Antikommunismus geprägt gewesen. Der Krieg sei in dem auch in der SPD dominanten Mainstream als Schicksal dargestellt worden, in dem das Volk eine Opfergemeinschaft gebildet habe. Im Gegensatz dazu würden in der „Illustrierten Geschichte“ u.a. die Ursachen des Krieges, der Militär-industrielle Komplex, die Annexionspläne, die Kriegsverbrechen, die Opfer und die Profiteure des Krieges benannt. Allerdings sei die „Illustrierten Geschichte“ eine parteioffizielle Geschichtsdeutung der KPD gewesen, in der der Partei der Vorrang vor den Aktionen der Massen gegeben worden sei. Sie sei keine Klassengeschichtschreibung, sondern eine Parteigeschichtsschreibung. In dieser Geschichtsdeutung habe es nur revolutionäre und opportunistische Parteien gegeben. Entsprechend dieser Einteilung sei die USPD sehr negativ beurteilt worden. In der „Illustrierten Geschichte“ gebe es historische Verfälschungen, etwa hinsichtlich der Rolle der Spartakusgruppe. Anders als die „Illustrierten Geschichte“ sei „Vom Kaiserreich zur Republik“ eine Darstellung des Weltkrieges und des Widerstandes, in der die Eigeninitiative der Massen im Vordergrund stände. Auch wenn Müller eigene politische Fehler kaschiere, so sei dieses Werk eine differenzierte zeitgenössische Analyse. Mit Ausnahme der Untersuchungen von Sebastian Haffner und Arthur Rosenberg sei dieses Werk kaum genutzt worden. Die Darlegungen von Elke Reuter (Berlin) über die Krisenbewältigung in der KPD nach dem Sieg des Faschismus schlossen thematisch und historisch an die Ausführungen von Kinner an. Reuter zeigte am Beispiel geschichtlicher Zäsuren, dass es der KPD kaum gelungen sei, eine adäquate Analyse der Faschismus und eine daraus resultierende antifaschistische Politikkonzeption zu entwickeln. Die wesentlichen Fehler der KPD seien gewesen: Sie habe den Faschismus nur als kurze Etappe angesehen während die Revolution unmittelbar bevorstand; Kampf für die Rätemacht; die SPD sei als Hauptstütze der Bourgeoisie, die Linken in der SPD seien als die schlimmste Feinde angesehen worden; kein Eingeständnis der eigenen Niederlage; keine klare und durchgängige Differenzierung zwischen den Formen bürgerlicher Herrschaft; taktischer, nicht grundsätzlicher Kampf um Demokratie, Bürger- und Menschenrechte. Einen anderen Aspekt des antifaschistischen Kampfes beleuchtete Gerald Diesener (Leipzig) in seinem Vortrag über das Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD). Das1943 gegründete NKFD habe in seiner antifaschistischen Arbeit versucht, führende Personen des deutschen Militärs sowie konservative Kräfte in Deutschland zu erreichen. Ziel sei die Beendigung des Krieges und der Sturz des Faschismus auch mithilfe von Militärs und konservativer Personen gewesen. Zwar sei das NKFD bei seinen Aufrufen sehr stark auf diese Personenkreise eingegangen, die KPD habe kaum eine Rolle gespielt. Gleichzeitig sei herausgestellt worden, dass die politischen Fehler und Inkonsequenzen von 1918/19 nicht wiederholt werden dürften. Das NKFD wurde auch am Beginn des Beitrags von Benser über den Neubeginn der KPD 1945/46 erwähnt. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe dieses Komitee für die Traditionspflege der KPD kaum eine Rolle gespielt. Zwar habe es nach 1945 einige Veränderungen innerhalb der Politik und der Ideologie der KPD gegeben, unterblieben sei jedoch eine Aufarbeitung des Terrors und der Säuberungen in der UdSSR. Geblieben sei die Fixierung auf die KPdSU und das sowjetische Vorbild. Einen positiven Bezug auf die basisdemokratischen Aspekte der Novemberrevolution habe es nicht gegeben.

In einem leicht satirisch angehauchten Schnelldurchlauf präsentierte Siegfried Lokatis (Leipzig) die nicht nur wissenschaftlich, sondern gleichzeitig auch von führenden Repräsentanten der DDR politisch bestimmten Diskussionen über die Novemberrevolution bei der Erarbeitung der achtbändigen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Die Einschätzung der Novemberrevolution sei die Messlatte der Arbeiterbewegung gewesen. Über Peter von Oertzens Wiederentdeckung der Räte berichtete Michael Buckmiller. In den 1950er Jahren sei das Geschichtsbild in der BRD durch Altnazis und durch den Katholizismus bestimmt gewesen. Die Forschungen über die Revolution 1918/19 habe erst Ende der 50er Jahre eingesetzt. Angebliche Alternativen bei den Ergebnissen dieser Forschungen seien Parlamentarismus versus Rätestaat gewesen. Mit seiner im Jahr 1963 veröffentlichten Studie über die Betriebsräte in der Novemberrevolution sei von Oertzen sowohl hinsichtlich der Alternativen zur Bürgerlichen Republik als auch hinsichtlich der Frage des revolutionären Subjekts neue Wege gegangen. In seinem Vortrag über das Geschichtsbild der deutschen Novemberrevolution bei Eberhard Kolb, Susanne Miller und Heinrich August Winkler skizzierte Ottokar Luban zunächst alte historische Mythen, wie z.B. die von Historikern vertretene These der Notwendigkeit für die MSPD, wegen einer angeblich bestehenden Gefahr des Bolschewismus mit den alten Mächten des Kaiserreiches zusammenzuarbeiten. Diese These sei Anfang der 1960er Jahre z.B. von Kolb und von Oertzen sowie auf dem Historikertag 1964 kritisiert worden. Neue Quelleneditionen und Interpretationen hätten nachgewiesen, dass die Furcht vor einer bolschewistischen Diktatur keine realistischen Grundlagen gehabt hätten und dass es für die MSPD keine Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit den alten Mächten gegeben habe. Durch die Enttäuschung über die Nichterfüllung der Forderungen nach entschiedener Demokratisierung sei es zu einer Radikalisierung gekommen. In den neuen Forschungen werde auch das Potenzial für grundlegende politische und soziale Reformen hervorgehoben. Neben diesen offenkundigen Fortschritten bei den historischen Forschungen über die Novemberrevolution hob Luban jedoch auch immer noch bestehende Mängel in den geschichtlichen Untersuchungen hervor, speziell was den quellenmäßigen Beleg hinsichtlich strittiger Fragen betrifft. Den abschließenden Beitrag hielt Klaus Lederer über DIE LINKE heute und das Erbe der Novemberrevolution. Er betonte die Notwendigkeit der Einordnung und der Bewertung von Geschichte. Die Novemberrevolution sei nicht nur eine bürgerlich-demokratische Revolution gewesen, sie habe auch ein „überschießendes Moment“ gehabt, das zum Sturz des Kapitalismus hätte führen können. Heute komme es für die Linke darauf an, die Relevanz der sozialen und der demokratischen Frage immer wieder hervorzuheben.

Die Tagung erbrachte zahlreiche neue Erkenntnisse über die Novemberrevolution und ihre Traditionen. Sie machte außerdem wie schon die Tagung am 31. Oktober/1. November (siehe dazu den Bericht von Rainer Holze in Z 77) erneut deutlich, dass es sich für die Linke nach wie vor lohnt, sich sehr genau und detailliert mit ihr zu beschäftigen. Dies betrifft besonders die Frage der Basisdemokratie. In diesem Zusammenhang wäre es sinnvoll, sich mit der Diskussion in der BRD vor 1989 auseinanderzusetzen, wie sie z.B. in dem Beitrag von Wolfgang Abendroth zu den Diskussionen über die Herforder Thesen zum Ausdruck gekommen ist.