Berichte

Konferenz mit chinesischen Wissenschaftlern

Berlin, 21./22. März 2009

Juni 2009

Wohl kaum eine andere Frage wird unter deutschen Linken so kontrovers diskutiert wie die der Bewertung des gegenwärtigen Gesellschaftssystems der Volksrepublik China. Ist für die einen klar, dass es sich dabei lediglich um eine Variante eines Staatskapitalismus handelt, die aufgrund hoher Ausbeutungsraten und schwacher Gewerkschaftsrechte auch noch erheblich brutaler als die hiesiger Provenienz ausfällt, so nehmen andere die offiziellen Verlautbarungen der KP Chinas über das Festhalten am Ziel des Sozialismus als Beweis dafür, dass das Land wohl einige marktwirtschaftliche Umwege zu gehen hat, es aber immer noch die große Hoffnung von Sozialisten und Kommunisten ist. Irgendwo zwischen diesen beiden Polen dürften sich die meisten übrigen Einschätzungen bewegen. Doch tatsächlich ist die allgemeine Unwissenheit über die wirkliche Situation in China so riesengroß wie dieses Land selbst.

Ein wenig Licht in dieses Dunkel brachte eine Konferenz der Marx-Engels-Stiftung am 21./22. März 2009 in Berlin. Zu Gast waren fünf Wissenschaftler des Instituts für Parteigeschichte beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas. Gekommen waren sie nicht nur, um Auskunft über ihr Land zu geben. Ihr Interesse galt auch den Gründen und den Umständen des Untergangs des europäischen Realsozialismus vor nunmehr gut zwanzig Jahren und den gegenwärtigen Perspektiven der deutschen bzw. europäischen Linken. Auf deutscher Seite referierten dazu sechs Politiker und Wissenschaftler. Der Kreis der Konferenzteilnehmer war mit etwa 30 bewusst klein gehalten worden, um so einen intensiven Austausch auch unter dem Umstand zu ermöglichen, dass jeder Beitrag zunächst einmal in die jeweils andere Sprache übersetzt werden musste.[1]

Für Zhang Qihua, stellvertretende Direktorin des Instituts für Parteigeschichte, ist klar, dass die gegenwärtige Phase der sozialistischen Marktwirtschaft den Aufbau eines Sozialismus chinesischer Prägung nicht in Frage stellt. „Markt- und Planwirtschaft“ seien lediglich „Methoden zur Regelung von Problemen und nicht zur Unterscheidung von Systemen geeignet“. Auch Deng Xiaoping habe nie daran gedacht, den Gegensatz zwischen Sozialismus und Kapitalismus zu verwischen. Er sei vielmehr davon ausgegangen, dass die Warenwirtschaft in der Menschheitsentwicklung nicht einfach übersprungen werden könne. Und das unterentwickelte China müsse eben noch eine lange Phase der ursprünglichen Akkumulation durchlaufen, in der die Marktwirtschaft aufgrund ihrer Fähigkeit zur schnellen Entwicklung der Produktivkräfte eine wichtige Rolle spiele. Nach Zhang Qihua ist „die von Marx ursprünglich konzipierte sozialistische Gesellschaft hingegen von einem bereits hoch entwickelten Niveau der Produktivkräfte ausgegangen“. Sowohl Lenin als auch Mao hätten wohl die mit einem Sieg der Revolution in einem unterentwickelten Land verbundenen Probleme erkannt, sie aber nicht lösen können. Die KP Chinas sei sich heute bewusst, dass dieser Weg eine Gratwanderung darstelle, da er gefährliche Widersprüche hervorbringe. So wachsen gegenwärtig die Verteilungsunterschiede im Land, was zu sozialer Unzufriedenheit führt.

Wang Suli, Philosophin und Historikerin, wies darauf hin, dass heute nicht weniger als 67 Prozent der chinesischen Bevölkerung der Meinung sind, die Verteilung im Lande sei ungerecht. Diese wachsende Ungleichheit soll nun durch ein deutlich verbessertes System der Besteuerung angegangen werden. Sie erläuterte das Ziel der chinesischen KP, eine „harmonische Gesellschaft“ zu schaffen. Diese Formel knüpft an eine alte chinesische Kulturtradition an und bedeutet „mangelfreies Leben“ und „gemeinsam Entscheiden“. Das Ziel der Schaffung einer „harmonischen Gesellschaft“ ist von der Kommunistischen Partei bewusst als Antwort auf die wachsenden sozialen Gegensätze in der chinesischen Gesellschaft entwickelt worden.

Entsprechend den von der KP entwickelten Etappen für die Entwicklung des Landes befindet sich China gegenwärtig in einer sozioökonomischen Situation, in der „ein kleiner Wohlstand“ für einen Teil der Bevölkerung möglich ist. Nun gehe es darum, diesen „kleinen Wohlstand“ für Alle möglich zu machen. Fragen nach den ökologischen Grenzen eines wachsenden Konsums, insbesondere mit Blick auf die Motorisierung des Landes, scheinen allerdings noch ziemlich abstrakt zu sein. Dies ist wenig verwunderlich angesichts der Tatsache, dass sich viele Chinesen noch nicht einmal ein Fahrrad leisten können.

Die chinesische Konzeption einer sozialistischen Marktwirtschaft knüpft an die Erfahrungen mit der Neuen Ökonomischen Politik der jungen Sowjetunion an. Klaus Blessing, Zeuthen, verwies in diesem Zusammenhang auf das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung“ (NÖS) in der DDR der sechziger Jahre. Dieses wurde von der Führung der UdSSR unterbunden und auch von der DDR nur halbherzig verfolgt. Nach Ekkehard Lieberam, Leipzig, handelte es sich bei NÖS um „ein strategisches Konzept einer Entstalinisierung auf dem Gebiet der Ökonomie (…) Die Zeit von 1962/63 bis Herbst 1970, in der das NÖS konzipiert und teilweise eingeführt wurde, war in der DDR eine Zeit wirtschaftlicher Erfolge, auch des politischen Aufbruchs und der neuen Ideen.“

Einen Hauptmangel der DDR bildet für Gretchen Binus, Berlin, der Umstand, dass „die Eigentumsfrage nie gelöst worden war“. Die Übertragung des Produktivvermögens in Staatseigentum war lediglich die Voraussetzung für weitere notwendige Schritte der Zuordnung des Eigentums, die dann aber in der DDR unterblieben. Die verschiedenen Eigentumsformen (ob staatlich, halbstaatlich, genossenschaftlich oder privat) sind dabei abhängig vom gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungsstand und auch von der Historie des Landes. Nach Karl Döring, Eisenhüttenstadt, war die DDR-Volkswirtschaft nie in der Lage, die Frage der wirklichen Kosten eines Produktes zu klären. „Niemand konnte genau angeben, was etwas kostet.“ Auch vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen gibt es heute große Erwartungen an die chinesische KP, dass sie diese Probleme besser lösen wird.

Zhang Qihua verwies darauf, dass die KP daran festhält, dass das gesellschaftliche Gemeineigentum als Hauptform des Eigentums die Grundlage für die weitere wirtschaftliche Entwicklung ist. Es spielt eine führende Rolle, wobei es aber – aufgrund der großen Entwicklungsunterschiede im Land – nicht überall die gleiche Bedeutung besitzt. „Ohne Konkurrenz ist es aber im Finanzsektor, bei der Energie- und Wasserversorgung und in den großen Verkehrsnetzen.“

Neben der Ökonomie bildete die Frage der Demokratie und der ideologischen Entwicklung in China und in der DDR einen weiteren Schwerpunkt der Konferenz. Nach Li Xiangquin, Historiker, war die „Katastrophe der Kulturrevolution“ vor allem Ergebnis eines Mangels an Demokratie und der Konzentration der Macht in wenigen Händen. Dafür benannte er drei Ursachen: 1. der Einfluss der noch lebendigen feudalen Denkmuster, 2. die kritiklose Übernahme des Sozialismus sowjetischer Prägung stalinschen Stils und 3. der lange Krieg bzw. Bürgerkrieg, der eine extreme Bündelung der Macht erforderlich machte. Nach der Unterbrechung durch die Ereignisse von 1989 und einer sich anschließenden bis 1996 dauernden Stagnationsphase ist die Demokratisierung der Gesellschaft erheblich vorangekommen, so dass sie jetzt ein „unumkehrbares Niveau erreicht“ habe. Ein Mehrparteiensystem westlichen Zuschnitts lehnt die KP für China ab. Demokratisierung bedeutet für sie vor allem mehr innerparteiliche Demokratie. Es wird zunächst an eine Veränderung der Organisation der Parteitage gedacht. Künftig sollen sie jährlich und nicht mehr nur alle fünf Jahre stattfinden. Zugleich sollen die Delegierten für einen längeren Zeitraum gewählt werden, um ihnen auf diese Weise mehr Einfluss zu geben. „Die Parteitage müssen die oberste Instanz sein“, so Li Xiangquin. In Zukunft soll stärker als bisher gelten, dass die Partei nicht den Staat ersetzen darf. Die übrigen demokratischen Parteien werden deshalb gestärkt. In der Regierung können sie mehr Minister stellen. Formen direkter Demokratie sollten zunächst in den Kommunen, an der Basis, „dort, wo die einfachen Fragen zu lösen sind“, praktiziert werden. Die Rolle der kommunistischen Partei wurde von Li Xiangquin als „Avantgarde des Proletariats und als Avantgarde der Nation“ bezeichnet.

Hans Modrow, Berlin, beschrieb in seinem Beitrag die letzte Phase der DDR wie folgt: „Mit Beginn der 1980er Jahre setzt ein Prozess innerer Schwächung der SED und ein steigender Verlust ihres Vertrauens in der Bevölkerung ein. In breiten Teilen der Mitgliedschaft wachsen Erwartungen auf Veränderungen in der Gesellschaftspolitik der SED. Daraus ergab sich ein großer Raum für Erwartungen, die sich mit der Perestroika-Politik von Gorbatschow verbanden. Erich Honecker und die Führung der SED zeigten Distanz zur Entwicklung in der SU. Es wäre keinesfalls um eine kritiklose Übernahme der jetzt einsetzenden Politik der KPdSU gegangen. Die Chance für eine Analyse der eigenen Entwicklung mit den notwendigen Schlussfolgerungen entsprechend den spezifischen Bedingungen in der DDR wurde vertan.“ Er warnte allerdings vor einer Sichtweise auf die Geschichte der DDR, wonach es in ihr 40 erfolgreiche Jahre und lediglich das verhängnisvolle 41. Jahr gab. Die entscheidenden Fehler, die schließlich zu ihrem Ende führten, seien weit vorher begangen worden.

In seinem Beitrag stellte Erich Hahn, Berlin, die grundsätzliche Bedeutung der Rolle der Partei als „entscheidender Faktor für die Entwicklung und Verbreitung sozialistischer Ideologie“ heraus. Er fügte aber hinzu, dass die Erfahrungen damit in der DDR „zwiespältig“ sind. „Ist einerseits ein organisierendes, gesellschaftliches Zentrum unerlässlich zur theoretischen Voraussicht, für politische Entscheidung und gesellschaftliche Verständigung, so hatte andererseits das Postulat der ‚führenden Partei’ im Bereich der Ideologie nicht selten Besserwisserei und Indoktrination zur Folge.“ Da die „Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft konzeptionell nicht als widerspruchsvoller Prozess akzeptiert und dargestellt wurde“, war es, nach Hahn, nicht möglich, die Wirkung der westlichen Medien zu neutralisieren.

In der Diskussion wurde von chinesischer Seite die komplizierte historische Situation der DDR durchaus anerkannt, die sich nach ihren Worten in einer unangenehmen „Sandwichlage“ zwischen der Sowjetunion und dem Westen befand. Zugleich wurde die Frage nach der Unvermeidbarkeit des Verschwindens des europäischen Sozialismus gestellt. Deutlich wurde, dass es auf Seiten der chinesischen KP ein großes Interesse daran gibt, die genauen Umstände des Endes auch der DDR aufzuklären. So hielt sich Sun Dali aus diesem Grund bereits 2007 zu einem Forschungsaufenthalt in Deutschland auf.

Abgeschlossen wurde die Tagung mit der Erörterung aktueller Probleme der deutschen und europäischen Linken. Leo Mayer, München, lieferte eine illusionslose Beschreibung der gegenwärtigen Schwäche der europäischen linken Parteien und Bewegungen: „Trotz großer Mobilisierungen in verschiedenen Ländern Europas zur Verteidigung sozialer Rechte und Arbeitsrechte, gegen Privatisierung öffentlichen Eigentums und der sozialen Sicherungssysteme, gegen die Deregulierung der Arbeitsmärkte wurden die meisten Kämpfe verloren. Im besten Fall konnte das Tempo der neoliberalen Umstrukturierung zeitweilig verringert werden.“ In der gegenwärtigen Krise ergibt sich für die zersplitterte Linke allerdings ein Zwang zur Kooperation. Nach Mayer „beginnt jetzt eine längere Zeit des Ringens und des Kampfes um Entscheidungen, wie die Krise überwunden werden kann und wer die Kosten der Krise bezahlen soll.“ Andreas Wehr, Brüssel und Berlin, erläuterte die verschiedenen Haltungen der europäischen linken Parteien gegenüber Europa. Sie sind Ausdruck der unterschiedlichen Einschätzungen, inwieweit sich die bestehende Europäische Union in ein soziales, demokratisches und ökologisches Europa transformieren lasse. Nach Wehr sind aber die Möglichkeiten demokratischer Einflussnahme in der EU „noch geringer als auf der nationalstaatlichen Ebene.“ Um die demokratische Einflussnahme zu vergrößern, „müssen die Entscheidungen der EU stärker von den nationalstaatlichen parlamentarischen Entscheidungen abhängig gemacht werden.“

Die Teilnehmer der Konferenz bewerteten diesen Austausch von Einschätzungen und Erfahrungen als gelungen und ausgesprochen informativ. An eine Fortsetzung wird daher bereits gedacht, dann aber im Reich der Mitte.

[1] Vgl. hierzu auch den Bericht von Arnold Schölzel über die Konferenz: „Kleiner Wohlstand“ in: Junge Welt vom 24.03.09