Berichte

"Die (neue) soziale Frage in Theorie und Praxis"

Tagung der Marx-Engels-Stiftung Wuppertal, Dortmund, 19. - 20. Juni 2010

September 2010

Die Veranstalter hatten sich zum Ziel gesetzt, in einer Situation massenhafter und weiter anwachsender Armut lebendige, radikale, linke – nicht unbedingt nur marxistische – Analysen, Ideen und Vorschläge zusammen zu bringen. Nicht nur Selbstverständigung unter MarxistInnen war also angesagt, sondern Dialog zwischen den VertreterInnen verschiedener linker Gruppierungen über Ursprünge, Ziele, Strategien und Perspektiven des Widerstandes. Ein Ziel, das damit den politischen Notwendigkeiten der Zeit Rechnung trug und in vollem Umfang als erreicht gelten kann, zumal auch am zweiten Tag VertreterInnen unterschiedlicher linker Gruppierungen und Parteien die Gelegenheit zum Dialog ausgiebig nutzten.

Christoph Butterwegge (Köln) untersuchte einleitend den Umgang mit dem Thema 'Neue Armut' in der Medienöffentlichkeit und stellte fest, dass – anders als in den ersten Jahrzehnten der Existenz der BRD – das Thema heute nicht mehr völlig ausgeblendet werden kann, dass daher neue Strategien zur Anwendung kommen, die auf Vernebelung und Verharmlosung der sozialen Realität, auf Pädagogisierung und auf Entsorgung des Themas angelegt sind, um die Hegemonie des neoliberalen Mainstreams trotz der Unfähigkeit, das Anwachsen von Arbeitslosigkeit und Armut zu verhindern, nicht zu gefährden.

Ellen Bareis (Berlin), wies auf die europäische Dimension des Themas hin. Sozialpolitik könne dort nicht als solche zum Thema gemacht werden. Sie werde minimalisiert, werde als Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltsproblem dargestellt, im Falle Griechenlands gar als Währungsrettungspolitik, und zur Rechtfertigung der IWF-Zwangsvorgaben missbraucht. Sie bedauerte, dass der Widerstand nach hoffnungsvollen Tendenzen der Internationalisierung inzwischen weitgehend wieder auf die nationale Ebene zurückgefallen sei.

Friederike Habermann (Berlin) bezog Positionen, die für einen Teil der (ca. 50) Teilnehmer ungewohnt waren, sieht sie doch in der von ihr vertretenen „subjektfundierten Hegemonietheorie“ Rasse, Klasse, Körper und Geschlecht als gleichgewichtige Ausgangspunkte von Diskriminierungsformen, die in ihrer Verwobenheit und Gleichzeitigkeit „im alltäglichen Tun“ nebeneinander laufen, ineinander aufgehen oder einander überlagern, ohne dass von vorneherein von einer Hierarchie zwischen ihnen die Rede sein könnte.

Auch MarxistInnen, die über die „wissenschaftliche“ Verhunzung von Marx, in der noch das letzte gesellschaftliche Phänomen aus dem Kapitalverhältnis „abgeleitet“ werden sollte, hinaus sind, dürften die damit verbundene Relativierung der Klassenverhältnisse allerdings als wenig hilfreich für die Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse betrachten. Sinn macht sie jedoch sicherlich für die Analyse individueller Psychostrukturen, die „aufgespannt“ sind zwischen den unterschiedlichsten Herrschafts- und Diskriminierungsformen, die als eng miteinander verwobene Determinanten der Persönlichkeitsstruktur in ihrer Hierarchie keineswegs von vorneherein und für immer festliegen – eine Tatsache, die weitreichende handlungsrelevante und damit politische Konsequenzen hat. Diese Einsicht hat nun nichts mit einem Aufgeben oder auch nur Relativieren marxistischer Grundorientierung zu tun. Es macht keinen Sinn, die zwei Aufgaben von MarxistInnen gegeneinander in Stellung zu bringen: einerseits den objektzentrierten, streng analytischen Aspekt mit dem Ziel der Klassenanalyse, der Theoriebildung, die vom Primat der Produktionsverhältnisse ausgehen wird („Bewusstsein von den Verhältnissen“)[1], und auf der anderen Seite den subjektzentrierten – didaktischen – Aspekt des angemessenen Umgangs mit vorhandenen Bewusstseinsformen („Bewusstsein in den Verhältnissen“ HKWM 4, 83), einerlei ob diese nun richtig oder „verkehrt“ sind, mit dem Ziel der politischen Mobilisierung. Diese Aspekte – von der Sache her zu denken oder vom Individuum her zu denken – haben beide ihre Berechtigung. Keiner von beiden sollte verabsolutiert werden. Noch weniger jedoch sollten sie vermischt oder gar verwechselt werden.

Aus einem gleichartigen Denkansatz heraus plädierte Irina Vellay (Dortmund) dafür, den Arbeitsbegriff nicht auf Mehrwert schaffende Arbeit zu verengen sondern einen alle Arbeitsformen, alle gesellschaftlichen Ebenen einschließenden Arbeitsbegriff zu entwickeln, der zum Beispiel auch die familiäre Reproduktionsarbeit einschließt.

Wolfgang Richter (Dortmund) erläuterte unter Bezug auf Studien des Projekts Klassenanalyse@BRD der Marx-Engels-Stiftung seinen Vorschlag einer Binnengliederung der Formen der Lohnarbeit, um die Vielfalt der Klasse als Struktur ihrer Einheit besser zu erkennen und im Klassenkampf wirksam zu machen.

Arnold Schölzel (Berlin) wies u.a. auf Defizite in der linken Debatte hin, auf die Tatsache, dass heute Begriffe, die stabsmäßig unter die Leute gebracht werden sowie ein wohl überlegter und eingeübter rhetorischer Stil, der implizite Botschaften enthält, einen zentralen Stellenwert in der öffentlichen Debatte haben, worum sich aber die Linke viel zu wenig kümmere. Die Zuspitzung der Begriffe als Waffen in der Auseinandersetzung sei unzureichend entwickelt.

Rolf Jüngermann