Berichte

Es muss anders werden, damit es besser geht

Tagung der Initiative für einen Politikwechsel, der Friedens- und Zukunftswerkstatt und von WISSENTransfer, 10. Dezember 2006 in Frankfurt a. M.

März 2007

Nach zwölf Monaten großer Koalition folgten am 21. Oktober gut 220.000 Bundesbürger dem Aufruf von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen: „Das geht besser“. Horst Schmitthenner (IG Metall, Initiative für einen Politikwechsel) fasste einleitend die Stoßrichtung der Proteste zusammen: Es gehe gegen eine Politik, die die Spaltung der Gesellschaft mit Steuergeschenken für die Unternehmen und Sozialkürzungen für die Bedürftigen vertieft; die den Jugendlichen Zukunftsperspektiven verweigert und der älteren Generation das größte Rentenkürzungsprogramm der bundesdeutschen Geschichte aufherrscht; die stümperhaft aber konsequent die Privatisierung des Gesundheitssystem betreibt. Kurzum: gegen eine Politik, die voller Zynismus über das Anwachsen von „Unterschichten” klagt, während sie das nächste Verarmungsprogramm vorbereitet. Es gehe zugleich um eine andere Politik, die die Menschen und nicht den Profit in den Mittelpunkt stellt und soziale Gerechtigkeit zum Ziel hat. Schmitthenner machte zugleich deutlich, dass die soziale Protestbewegung im Vergleich zum April 2004, als eine halbe Million Bundesbürger gegen die Agenda 2010 auf der Straße waren, an Breite und Mobilisierungskraft eingebüßt hat. Die Proteste gegen die Politik der großen Koalition kamen im Dezember 2006 überwiegend aus den Gewerkschaften, in geringerem Maße als wünschenswert und erforderlich aus den Sozialverbänden und sozialen Bewegungen.

Das Thema der Tagung war, ausgehend von der Zeitdiagnose des ehemaligen IG Medien-Vorsitzenden Detlef Hensche und der Auswertung des 21. Oktober, Schwerpunkte und Perspektiven zivilgesellschaftlicher Opposition zu beleuchten, um gemeinsame Aufklärungs- und Handlungsperspektiven zu diskutieren.

Große Koalition – Einladung zum Protest

Für Detlef Hensche steht der sozial-darwinistische – keineswegs nur marktradikale, sondern auch staatsautoritäre – Umbau der Sozialverfassung der Republik für die ungebrochene Dominanz neoliberaler Politik, die jedoch immer weniger als neoliberale Hegemonie im Sinne breit akzeptierter politischer Führung gedeutet werden kann. Hensche sprach von politischen Parallelwelten: „Oben ein System neoliberaler Dogmen, immun gegen Fakten, erfindungsreich in allen Facetten des Akzeptanz-Managements; unten dagegen Abwehr und Verdrossenheit, zum Teil Resignation und nicht zuletzt Zukunftssorgen.”

Im europäischen Vergleich wird die Geschwindigkeit der Transformationsprozesse hierzulande deutlich. So ist Deutschland das einzige Land, in dem die abhängig Beschäftigten seit Mitte der 1990er Jahre Reallohnverluste zu verzeichnen haben und in dem Abweichungen vom Flächentarifvertrag ausschließlich nach unten erfolgen. Hinsichtlich der Tarifbindung nimmt dieses Land den vorletzten Platz vor Großbritannien ein; in der Armutsentwicklung ist der Exportweltmeister auf einen Platz im unteren Drittel abgesackt. Das zeigt zugleich, dass es neben objektiven Faktoren gesellschaftlicher Schwäche wie dem Wirken jahrzehntelanger Massenarbeitslosigkeit auch subjektive Gründe dafür gibt, dass durchaus vorhandene Spielräume für soziale und politische Gestaltung in Europa unterschiedlich genutzt werden.

Die Nicht-Fortführung der sozialen Protestbewegung des Jahres 2004 hat den DGB politisches Vertrauen gekostet; ebenso schadet die Zustimmung der Linkspartei in Berlin zur Freigabe des Ladenschlusses oder zur Suspendierung der Mitbestimmung bei 1-Euro-Jobs der Glaubwürdigkeit der politischen Linken. Wirksame gesellschaftliche Opposition ist voraussetzungsvoll, so Hensche weiter. Es bedarf gesellschaftlicher Aufklärung, politischer Alternativen und tendenziell erfolgsträchtiger Aktionen. Soziale Bündnisse müssen von gegenseitigem politischem Respekt getragen sein. In Protesten gilt es soziale Ungerechtigkeit – Verschärfung von Hartz IV, Senkung des Spitzensteuersatzes – zu skandalisieren, die Verteidigung öffentlicher Güter und den Kampf gegen die alltägliche Erpressbarkeit in den Betrieben zu organisieren. Die Kämpfe der Hafenarbeiten gegen Port Package II, der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen gegen die Bolkestein-Richtlinie und die Mobilisierung gegen den neoliberalen EU-Verfassungsentwurf zeigen, dass die Formierung einer sozialen Bewegung längst europäische Dimensionen angenommen hat.

Zwischenbilanz des Protests

Die Protestbewegung hat aus den Aktionen gegen die Agenda 2010 gelernt. Kundgebungen dürfen kein einmaliges Ereignis sein, sondern müssen, um wirksam zu werden, als Auftakt für längerfristig angelegte Aufklärungs- und Widerstandskampagnen organisiert werden. Es geht darum, den öffentlichen Raum gegen eine im neoliberalen Herrschaftsdiskurs verfangene politische Elite zurück zu erobern. Mit politischen Alternativen, die auf eine konsequente Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit und Armut zielen, auf die gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, auf Existenz sichernde Mindesteinkommen und einen solidarischen Umbau des Sozialstaats, auf ein Bildungssystem, das nicht nach Klassenschranken sortiert und sich auf Elitenförderung kapriziert, sondern soziale Chancen für alle eröffnet, auf Sofortmaßnahmen zur ökologischen Erneuerung, auf die Erweiterung und Vertiefung demokratischer Rechte und auf Frieden schaffende Maßnahmen statt militärischer Interventionen. Das geht umso besser, je mehr soziale Bündnisse an Tiefe und Breite gewinnen.

In der von Horst Schmitthenner und Richard Detje (WISSENTransfer) moderierten Podiumsdiskussion mit Sven Giegold (Attac/BUND), Martin Künkler (Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen), Melanie Micudaj (Protestbewegung gegen Studiengebühren), Wolfgang Pieper (ver.di), Alfred Spieler (Volkssolidarität), Ulrich Thöne (GEW-Vorsitzender), Hans-Jürgen Urban (IG Metall) und Birgit Zenker (Katholische Arbeitnehmerbewegung) wurden verschiedene Defizite der Kundgebungen am 21. Oktober angesprochen:

- Das Motto „Das geht besser” war für einen Teil der sozialen Bewegung desorientierend (z.B. für Arbeitslosengruppen in Bezug auf Hartz IV) und es fehlte die Zuspitzung; die Öffentlichkeitsarbeit wurde der Aufgabe der Aktivierung und Mobilisierung der Öffentlichkeit nicht gerecht;

- die Beteiligung war dort schlecht, wo es keinen Mobilisierungsvorlauf gab. Die Abstimmung zwischen Gewerkschaften, Sozialverbänden und sozialer Bewegung wurde nicht systematisch genug betrieben, aber auch die Mobilisierung in den Betrieben gestaltete sich oft schwierig;

- Skepsis hinsichtlich der Möglichkeiten der Beeinflussung und Veränderung der herrschenden Politik grassiert auch in Teilen der sozialen Bewegungen; Großdemonstrationen sind kein politisches Instrument, das unhinterfragt bleibt;

- die nächsten politischen Schritte und damit Perspektiven nach den Protesten vom 21. Oktober blieben zunächst unklar; weder gab es gemeinsame Verabredungen über inhaltliche Schwerpunkte, noch einen Kampagnefahrplan für 2007.

Schwerpunkte 2007

IG Metall und ver.di werden die Proteste gegen die Politik der großen Koalition mit Wochen der betrieblichen Aktionen fortsetzen. Dazu gehören unter anderem Proteste und Informationsveranstaltungen während der Arbeitszeit, flankiert durch das systematische Einwirken auf die örtlichen Wahlkreisabgeordneten und (landes-)bezirkliche Aktionskonferenzen. Das Themenspektrum reicht von der Arbeitsmarkt- über die Sozial- bis zur Steuerpolitik, wobei die IG Metall den Schwerpunkt vor allem auf Alternativen zur Rente mit 67 („Beschäftigungsbrücke”) und ver.di unter anderem auf die Forderung nach Einführung eines einheitlichen gesetzlichen Mindestlohns mit einem Einstiegssatz von 7,50 Euro legt. Die DGB-Gewerkschaften agieren in diesen Auseinandersetzungen selbstredend nicht als einheitlicher Block: So gibt es unterschiedliche strategische Einschätzungen hinsichtlich der politischen Effizienz gesellschaftlichem Protests, der Profilierung des politischen Mandats der Gewerkschaften oder der Konzentration auf das betrieblich-tarifpolitischen Kerngeschäfts, in der Erwartung, auf diesem Weg zunächst eigene Stärke zurück zu gewinnen.

Die Katholische Arbeitnehmerbewegung greift die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn auf, wobei nach ihrer Auffassung der Einstiegssatz bei acht Euro liegen sollte. Erweitert wird dies durch die Forderung nach einem bedarfsdeckenden Grundeinkommen, um die Ausweitung großer gesellschaftlicher Armutszonen zurückzudrängen. Ein weiterer Punkt auf der Tagesordnung der KAB ist die Verteidigung des arbeitsfreien Sonntags gegen die generelle Freigabe der Ladenöffnungszeiten.

„Einkommen zum Auskommen” steht im Mittelpunkt der Aktivitäten der gewerkschaftlichen Arbeitslosengruppen. Die Forderung nach (begrenzter) Erhöhung des ALG II auf mindestens 420 Euro soll eine möglichst breite Verständigung und Aktionseinheit mit Sozialverbänden ermöglichen. Gewählt wird ein kommunaler Ansatz, wobei die Mobilisierungsfähigkeit zur Zeit allerdings als gering eingeschätzt wird.

Die Skandalisierung der beschleunigt wachsenden Altersarmut durch die Rentenpolitik von Rot-Grün und der jetzigen großen Koalition ist der zentrale Punkt der Aktivitäten der Volkssolidarität. Dazu wird eine Zusammenarbeit mit anderen Sozialverbänden (Sozialverband Deutschland, VdK) angestrebt. Wie die IG Metall fordert die Volkssolidarität eine aktive Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik mit einer belastungsfähigen Beschäftigungsbrücke zwischen der nachwachsenden und der aus dem Erwerbsleben u.a. durch erleichterten Vorruhestand ausscheidenden Generation.

Für die GEW und die Bewegung der Studierenden ist der freie Zugang zu allen Bildungseinrichtungen unmittelbar mit der demokratischen Frage verknüpft, während Bildungspolitik in den vergangenen Jahren immer mehr zu einem Thema der Elitenselektion und der sozialen Exklusion verkommen ist – was durchaus auch mit politischen Spaltungen der Studierenden einher geht. Der Kampf gegen Studiengebühren (in Hessen verbunden mit einer Verfassungsklage) wie auch die Sicherung von Tarifverträgen im Bildungsbereich (gegen die Tendenz der qualitativen Abwertung und Verwohlfeilerung der pädagogischen Berufe) sind konkrete Maßnahmen zur Verteidigung qualitativ hochwertiger öffentlicher Güter für alle und damit zur Verteidigung der demokratischen Substanz des Gemeinwesens.

Aktionsschwerpunkt von attac ist der G8-Gipfel im Juni in Heiligendamm. Hinzu kommt die deutsche Ratspräsidentschaft in der EU, in der u.a. ein neuer Anlauf zur Durchsetzung eines modifizierten Europäischen Verfassungsentwurfs unternommen werden soll. Für die Kampagnenplanung ist der 50. Jahrestag der Römischen Verträge Ende März und der ECOFIN-Gipfel im April von Interesse. Angesichts des rapiden Klimawandels müssen neben den sozialen auch die ökologischen Rechte wieder stärker auf die politische Agenda der sozialen Bewegungen kommen.

Auf dem Podium wie auch in der anschließenden Diskussion wurde auf der Grundlage der thematischen Überschneidungen, der inhaltlichen Übereinstimmungen und der Möglichkeiten der wechselseitigen Beteiligung an Aktionsschwerpunkten das Interesse an der weiteren Vertiefung der Diskussion und Zusammenarbeit betont. Dies könnte auf einer Tagung im Mai 2007 zur Halbzeitbilanz der Politik der großen Koalition verabredet werden.

Fazit

Die sozialen Bewegungen spannen einen breiten Bogen politischer Aktivitäten im Jahr 2007. Das ist nicht Ausdruck politischer Zersplitterung, sondern entspricht der Vielfalt der gesellschaftlichen Widersprüche und Herausforderungen. Die thematische Breite ist – das zeigte die Diskussion auf der Tagung anhand vieler Praxisberichte – bündnis- und bündelungsfähig. Ansatzpunkte für die Formierung einer breiten gesellschaftlichen Oppositionsbewegung sind auf drei Ebenen angesiedelt:

- Erste Ebene: Verständigung über Alternativen. Diese lassen sich in Umverteilungsprojekte zusammenfassen:

(a) Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums (Bekämpfung der wachsenden Armutsentwicklung von Kindern, Arbeitslosen, RentnerInnen),

(b) Umverteilung von Existenz sichernder Arbeit (für gesetzlichen Mindestlohn, Arbeitszeitverkürzung, Beschäftigungsbrücken, öffentliches Investitions- und Infrastrukturprogramm),

(c) Umverteilung von sozialen Chancen (für öffentliche Güter und Dienste, Bildung für alle, für soziale Rechte und Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens).

- Zweite Ebene: Verständigung über Aktionen und Kampagnen. Dazu gehören

(a) betriebliche Aktionen im Zusammenhang mit den parlamentarischen Beratungen zur Rente mit 67, Gesundheitsreform, Neuordnung der Arbeitsmarktpolitik usw. im Januar/Februar 2007;

(b) regionale Aktionskonferenzen und Sozialgipfel, in denen auch die Forderung nach direkter Demokratie gegenüber einer sich zunehmend verselbständigenden „politischen Klasse” unterstrichen und politischer Resignation entgegengewirkt werden kann. Aktionskonferenzen – veranstaltet von Gewerkschaften und/oder sozialen Bewegungen – werden die betrieblichen Aktionen begleiten. Für Ende Februar/Anfang März wurden Aktionstage zur Rente mit 67 in Berlin geplant. Für das Frühjahr wird eine große sozialpolitische Konferenz federführend vom DGB vorbereitet.

(c) Internationale Aktionen zur Verdeutlichung von Alternativen europäischer Entwicklung und zur Bewältigung globaler – sozialer und ökologischer - Herausforderungen.

- Dritte Ebene: Methodik der politischen Arbeit. Stärke entsteht durch Zusammenarbeit und Vernetzung. Die Verknüpfung von betrieblichen und gesellschaftspolitischen Themen sollte als eine große Herausforderung verstanden werden, aus der alle oppositionellen sozialen Bewegungen Kompetenzgewinn erzielen können. Motto: Keiner wartet auf den anderen; jeder Teil der sozialen Bewegung geht voran und auf andere zu, um zusammen etwas zu erreichen.