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Dossier: Ehrendoktorwürde für Helmut Schmidt

Was würden Wolfgang Abendroth und Helmut Ridder dazu sagen?

Dezember 2006

Am 19. Juli 2006 beschloß der Fachbereichsrat Gesellschaftswissenschaften und Philosophie der Universität Marburg auf Vorschlag des Philosophieprofessors Peter Janich mehrheitlich (7:2), dem Altkanzler Helmut Schmidt (SPD) die Ehrendoktorwürde zu verleihen. Der Fachbereich setzt sich aus den Fächern Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft, Philosophie, Politikwissenschaft, Soziologie, Religionswissenschaft, Völkerkunde sowie Friedens- und Konfliktforschung zusammen. In der vorab veröffentlichten Laudatio für die Verleihung heißt es, das der Aufklärung verpflichtete Fach Philosophie erkenne in Helmut Schmidt „den Philosophen im Politiker“. Sein Handeln zeige „eine sichere Orientierung an den Prinzipien unabhängigen Vernunftgebrauchs, moralischer Selbstverpflichtung, kritisch rationaler Situationsbeurteilung und pragmatischer Ausrichtung an der Reichweite menschlicher Vernunft und politischen Handelns“. Schmidts „unermüdliches Plädoyer für Vernunft und Verantwortung im Handeln lasse, wo die akademische Philosophie theoretisch bleibe, Philosophie für die Menschen praktisch werden“, heißt es im Bericht der „Oberhessischen Presse“ vom 22.8.2006. (Siehe zu dieser herrschenden Wertung des Fachbereichs den Brief von Prof. Dr. Manfred Baum an Frank Deppe „Zur geplanten Ehrenpromotion von Helmut Schmidt“. In: Topos, Heft 26, W. Abendroth, Napoli 2006, S.143-148.)

Der einzige Marburger Professor, der sich in der Öffentlichkeit (u.a. in junge Welt vom 28.6.2006) gegen die Verleihung einer Ehrendoktorwürde für den Altbundeskanzler Helmut Schmidt in Marburg empört zur Wehr setzte, war Frank Deppe. Lothar Peter kritisierte die Absichten des Fachbereichs in einer Stellungnahme für den BdWi und in Konkret (9/2006). Die Entscheidung ist in der Tat skandalös. Mit Wissenschaft hat diese Auszeichnung, mit der man sich „selbst ehren will“, nichts zu tun. Im Gegenteil. Sie spricht Hohn auf die wissenschaftliche Arbeit, die in der Bundesrepublik von wissenschaftlichen Politikern wie Wolfgang Abendroth (Marburg) und Helmut Ridder (Gießen) geleistet wurde. Sie ist symptomatisch für die auf breiter Front erfolgte Niederlage im Ringen um Frieden, Demokratie und Sozialstaat in Deutschland.

Schauen wir uns doch einmal an, was Wolfgang Abendroth und Helmut Ridder, um nur diese beiden herauszugreifen, über Helmut Schmidts Aufstieg zum sozialdemokratischen Bundeskanzler der BRD und zur herausragenden Person der Zeitgeschichte – im Interesse der Herrschenden – geschrieben haben.

Um dem Vorwurf des ziellosen Pragmatismus, der nicht nur bei der SPD unvermeidlich zur vollen Anpassung an die Wünsche der herrschenden Klasse führt, zu entgehen, hatte die SPD-Führung zu Beginn der 70er Jahre den Entwurf eines „Langzeit-Programms“ versprochen. Die Kommission stand unter dem Vorsitz des extrem ,,partnerschaftlichen“ damaligen Finanzministers (und zweiten Parteivorsitzenden) Helmut Schmidt. „Der Entwurf“, so Abendroth, enthalte „praktisch nur noch Fortschreibungsdaten zur Prognose der Weiterentwicklung auf der Basis der existenten sozioökonomischen Machtverhältnisse – also weder eine Strategie noch ein Programm.“ (Abendroth, Die Chancen der SPD-Linken, 1973)

Ist Helmut Schmidt ein Linker?

Zu Beginn des Jahres 1974, mit der Übernahme der Kanzlerschaft Helmut Schmidts, entwickelte sich eine Diskussion darüber, ob Helmut Schmidt ein Linker ist. Und wenn nein, wie sich die bundesdeutsche Linke dann zu ihm stellen müsse. Konkret fragte drei Sozialdemokraten, von denen sich die SPD vor Jahren getrennt hatte, unter ihnen Wolfgang Abendroth.

Die ersten Wahlen nach Schmidts Amtsantritt als Bundeskanzler im Mai 1974 endeten mit einem Sieg von CSU und CDU in Bayern und Hessen, „mit einem Erfolg ihres reaktionärsten Flügels, mit einem Triumph für Strauß und Dregger.“ (Abendroth, Wer hat Angst vor Helmut Schmidt, 1974)

Der Geschlagene, so Abendroth, heiße Helmut Schmidt. „Tausende Industriearbeiter sind – enttäuscht von einer Regierung und einer sozialdemokratischen Parteiführung, von der sie die Vertretung ihrer Interessen erwartet hatten – der Wahlurne fern geblieben. Hunderttausende Angestellte, Beamte und Hausfrauen, die einst in den Bundestagswahlen 1972 begriffen hatten, daß CDU und CSU die Machtinteressen des Monopolkapitals gegen sie vertreten, haben – durch Stagnation und Rezession verschreckt – die Front gewechselt. Sie ließen sich einreden, die Gefährdung ihrer Einkünfte durch die Inflation, die Gefährdung ihrer Arbeitsplätze durch die Krise sei die Schuld derer, die in Bonn regieren. Denn Helmut Schmidt, seine Regierungsmannen und sein Parteivorstand hatten entschieden, es sei ‚wortradikal’ und die ‚Krise der Hirne’, ihnen zu sagen, daß dies alles die Konsequenz kapitalistischer Produktionsverhältnisse sei. Helmut Schmidt hatte alles darangesetzt, die Gewerkschaften zum ‚Maßhalten’ bei der Verteidigung des Realeinkommens der breiten Massen durch den Inflationsprozeß voll ausgleichende Lohnforderungen zu zwingen. Noch am Tage nach den Wahlen mußte auf seinen Wink die IG Metall vor dem zweifelhaften ‚Angebot’ der Gewinne scheffelnden Unternehmer der Stahl-Erzeugung kapitulieren.“ (Abendroth, Wer hat Angst vor Helmut Schmidt, 1974)

Alles das, so Abendroth, wiederhole genau, was einst in den Jahren 1929 und 1930 unter Hermann Müller in der Weimarer Republik geschehen sei. „Helmut Schmidt bleibt das ‚Verdienst’, aus der Geschichte nichts gelernt zu haben. Werden die Landtagswahlen in Hessen und in Bayern ihn endlich daran erinnern, wohin die Reise geht? Kaum, wenn nicht der allzu schmale Kern klassenbewußter Arbeiter und demokratischer Intellektueller ihn zwingt zu lernen.

Helmut Schmidt und sein Willy Brandt bleiben das kleinere Übel gegenüber den Kohl und Stoltenberg, den Strauß und Dregger. Also gilt es, das kleinere Übel gegen das größere Übel zu schützen. Der Unfug der ‚Sozialfaschismus‘-Theorie darf sich nicht wiederholen. Aber man kann Helmut Schmidt nur schützen, indem man ihn eindeutig zur Ordnung ruft. Ohne energische Kritik an Helmut Schmidt – innerhalb der SPD und der Gewerkschaften, aber von klaren marxistischen Positionen aus auch außerhalb der SPD –, ohne eine Strategie der Verteidigung aller Lebensinteressen der abhängig arbeitenden Klasse, wird Helmut Schmidt bald vor den Strauß und Dregger kapitulieren müssen.“ (ebenda)

Abendroth hoffte jedoch, auch im eigenen Interesse von Helmut Schmidt, daß er den Weg seines akademischen Lehrers Karl Schiller nicht zu Ende gehen wolle. „Vorbeiregieren an der Partei, Versuche, die Theorie-Diskussion in der Partei einzuengen, Versuche, die Politik der SPD am konservativen Trend zu orientieren, stärken die Politik der Konservativen: Denn konservative Politik macht immer noch die CDU/CSU am besten.“ (ebenda)

Zur innen- und außenpolitischen Rolle von Helmut Schmidt

In den siebziger Jahren registriert Abendroth als Analytiker und strategischer Kopf der Arbeiterbewegung einen Tendenzumschlag in der Politik der Regierung (und damit eines erheblichen Teils der Führung der SPD). Dieser habe sich nach Einsetzen der neuen ökonomischen Krise (1975) und ihrem Übergang in eine längere Stagnation mit einer erheblichen permanenten strukturellen Arbeitslosigkeit von über 4 Prozent (!) des Beschäftigungspotentials, die vor allem die junge Generation bedroht, wesentlich verstärkt. „Die durch den sozialdemokratischen Bundeskanzler geführte Regierung [unter Helmut Schmidt] hat im Gegensatz zu allen ihren früheren Versicherungen begonnen, extrem antidemokratisch organisierte Staaten (wie den Iran) mit Kriegsschiffen und Waffen zu beliefern oder (wie Brasilien) mit Atomkraftwerken auszustatten. Sie nimmt im Falle Brasiliens wegen derartiger ‚exportfördernder’ und ‚konjunkturanregender’ Maßnahmen sogar Konflikte mit der früheren Schutzmacht der westdeutschen Restauration, den USA, in Kauf. Sie unterstützt die imperialistischen Interventionen Frankreichs und der NATO in Afrika. Sie hat zum Problem der Neutronenbombe – einem der gefährlichsten und inhumansten Steigerungsmittel in Richtung auf eine neue Phase des Rüstungswettbewerbs – eine extrem zweideutige Politik gewählt, die zu den ersten Erklärungen Egon Bahrs, des zentralen Sekretärs des Parteivorstandes der SPD, in vollem Widerspruch steht. Zur ‚Sanierung’ der Sozialversicherung der abhängig Beschäftigten hat sie Reduktionen der Altersrenten gegenüber der vorher bestehenden Anspruchslage vorgeschlagen, die auch die sozialdemokratisch geführten Gewerkschaften nicht mehr hinnehmen wollen, und dadurch gleichzeitig der Partei des Monopolkapitals, der CDU/CSU, billige demagogische Agitationsgrundlagen geliefert, die sich als Scheinverteidiger der früheren Rentensätze aufwirft.“ (Abendroth, Aufstieg und Krise, 4. Auflage 1978)

Helmut Schmidt habe sich „innen- und außenpolitisch zum Repräsentanten des Versuchs der Integration der Millionen abhängig arbeitender Wähler in die Interessenpolitik und die Ziele des Monopolkapitalismus machen lassen“ (ebenda).

In der Periode des konjunkturellen Aufschwungs habe die SPD-Führung dabei zweifellos „(aber mehr dank des gewerkschaftlichen Druckes und vor allem auch dank des Druckes spontaner Massenbewegungen wie derjenigen der Jungintellektuellen und Studenten und der Antinotstandsdemonstrationen seit der Mitte der sechziger Jahre als dank ihrer eigenen Politik) die eigene Partei stärken und auch objektiv einige demokratisierende Erfolge erzielen“ können (ebenda).

Alternativen zu Helmut Schmidts Politik

Abendroth forderte eine gründliche Änderung der SPD-Politik ein. Aber „nur durch Wiederbelebung der innerparteilichen Diskussion und Demokratie“ könne sie zu einem „anderen Kurs“ genötigt werden (ebenda). Ihre eigenen Erfolge (und ihr Weg in die Regierung und an deren Spitze) an der Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren seien in Wirklichkeit „nicht dem eigenen Kurs dieser Führung der SPD, sondern vor allem dem Druck der Arbeiter und Studenten von außen zu danken. Zwingt ein derartiger Druck von außen nicht rechtzeitig erneut die Partei erstens zur Belebung der innerparteilichen Demokratie und Diskussion und zweitens zur realen Vertretung der Interessen von Demokratie und Abrüstung (und damit zu einer Politik der erheblichen Minderung des Militär-Etats zugunsten der Sozialausgaben und der kulturpolitischen Ausgaben), aber auch zur Wiederbelebung des Ziels geplanter Eingriffe in die Wirtschaftsstruktur der Bundesrepublik zuungunsten des Kapitals, jedoch zugunsten der abhängig arbeitenden Klassen, also zur Zeit vor allem in Richtung auf Reduktion der Arbeitszeit bei vollem Lohn- und Gehaltsausgleich, um die strukturelle Arbeitslosigkeit aufzuheben, so hat die SPD kaum eine Chance, Regierungspartei zu bleiben, weil der Masseneinfluß der CDU/CSU dann ständig wächst und derjenige der SPD absinkt. Dieser Druck von außen, der die gegenüber der internationalen Arbeiterbewegung durch ihren Vorsitzenden Willy Brandt repräsentierte, aber in der Praxis durch ihren Bundeskanzler Helmut Schmidt, dessen Minister und durch ihre Länderminister geführte Partei wieder aus einer Partei des (in Krisenlagen völlig hilflosen) integrationistischen Reformismus, der Stück um Stück seine eigenen Grundlagen zerstört, in eine Partei des sozialistischen Reformismus transformiert, kann sich nur durch Mobilisierung der Gewerkschaften und – in zweiter Linie – durch Wiederbelebung der (zur Zeit geschlagenen) Jungintellektuellenbewegung entwickeln.“ (ebenda)

Helmut Schmidts Defizite als Theoretiker und Historiker

Abendroth konzedierte zwar, daß Schmidt noch 1957/58 lautstark gegen die Lagerung von Atomwaffen auf deutschem Boden eingetreten war. Subjektiv sei dies womöglich „ebenso ehrlich gewesen wie seine spätere Kapitulationspolitik vor den neuen US-amerikanischen Stationierungsplänen“, weil er zu „prinzipiellen Differenzierungen dieser Art mangels theoretischer Grundlage gar nicht imstande ist.“ Das zur Rechtfertigung der Stationierung betriebene Spiel des Bundeskanzlers Helmut Schmidt mit dem Versuch eines amerikanischen Politikwissenschaftlers, die Situation des Juli 1914 mit der gegenwärtigen in Bezug auf quasi-zufälliges, unkontrolliertes »Hineinschliddern« in einen großen Krieg zu parallelisieren, sei – „wie bei den meisten Vergleichen solcher Art – halb richtig, halb falsch. Denn erstens hat 1914 Österreich-Ungarn den Krieg gegen Serbien wirklich konkret gewollt (und das Deutsche Reich diesen Wunsch bei Inkaufnahme des Krieges mit Rußland voll gebilligt), wie wir seit Fritz Fischers Forschungen sehr genau wissen; beide hatten nur dabei die stille Hoffnung, England neutral halten zu können. Zweitens war generell der Ausbruch des 1. Weltkrieges fast unvermeidlich; nur Auslösungsanlaß und Auslösungs-Zeitpunkt hingen von Zufällen (und also in Wirklichkeit von der durch die Großmächte gewünschten Ausschaltung aller Kontrollmechanismen) ab.

Dagegen ist gegenwärtig die Mobilisierbarkeit aktivierbarer Kontrollmechanismen gegen den Ausbruch eines 3. Weltkrieges wesentlich größer. Eine der beiden Weltmächte der Gegenwart ist kein imperialistischer Staat im alten Sinne des Wortes. Die Sowjet-Union ist, welche Mängel sie auch noch hat und wieweit sie auch unvermeidlich in Machtpolitik (und also ebenfalls in eventuelle Fehler der Machtkalkulation) einbezogen ist, ohne deren partielle Übernahme sie längst zerschlagen worden wäre, doch kein imperialistischer Staat, dessen Ziel Machtexpansion zu Ausbeutungszwecken wäre (Hervorhebung FMB). Und alle größeren Staaten – auch die Weltmächte selbst – wissen, daß der Übergang von der militärischen Machtdemonstration zum wirklichen Weltkrieg wahrscheinlich den Untergang jeder Hochzivilisation, auch der eigenen, herbeiführen würde, also dem Selbstmord gleichkommen könnte. Hätte Helmut Schmidt diese Veränderung der damaligen Grundsituation in seine Überlegungen einbezogen, so wäre ihm eine erheblich exaktere Bestimmung der politischen Gefahren und Notwendigkeiten von heute möglich geworden.“ (Abendroth, Internationale Spannungen, 1980).

Helmut Schmidt: das kleinere Übel

Innenpolitisch bezeichnete Abendroth die Politik der Regierung unter Helmut Schmidt 1980 als „objektiv die rationalste Form der Politik im Interesse des westdeutschen Monopolkapitals.“ (Abendroth, Alle Kräfte für die Entspannung und gegen Rechtsentwicklung mobilisieren, 1980). „Die Politik von Strauß ist die weniger rationale, aber dafür rabiatere Variante der Politik der gleichen Klasse.“ (ebenda) Abendroth hegte die Hoffnung, daß sich in der Sozialdemokratie gegenüber der Politik der Bundesregierung gleichwohl immer wieder Widersprüche zeigen würden. Gegenüber einer Machtübernahme (oder Machtbeteiligung) der CDU/CSU, die auch diejenige des irrationalen Flügels des Monopolkapitals in sich enthält, und die innenpolitisch und außenpolitisch zu einer Politik der Abenteuer und hohen Risiken überleiten könne, bleibe „Helmut Schmidt mit seiner Politik im Interesse des rationalen Flügels des Monopolkapitals das ‚kleinere Übel’“. (Abendroth, Europa Wahlen und das Problem der gegenwärtigen innenpolitischen und weltpolitischen Funktion der westdeutschen Sozialdemokratie, 1979).

Helmut Schmidts integrationistischer Revisionismus

Abendroth bezeichnete die Politik der sozialdemokratischen Führung als „integrationistischen Revisionismus“. Dieser stehe „immer auf dem Boden der Auffassungen des Klassengegners der abhängig arbeitenden Klasse, also heute des Monopolkapitals, und versucht diese abhängig arbeitende Klasse daran zu hindern, ihre Klasseninteressen zu erkennen, (obwohl er ihr in günstigen Konjunkturperioden kleine materielle Konzessionen zu machen bereit ist). Er ist und bleibt also Instrument der herrschenden Klasse gegen die beherrschte (bei in der Führung variierendem – häufig keineswegs vorhandenem – Bewußtseinsgrad über diese seine eigene Funktion und Rolle).“ (ebenda)

„Solange die gegenwärtige Alleinherrschaft der integrationistisch-reformistischen Führung in dieser Partei, innerhalb derer Helmut Schmidt und Willy Brandt nur leicht (vor allem durch ihre Arbeitsaufgabe) verschieden nuancierte Varianten bilden, fortbesteht, kann und wird sich an diesem Tatbestand (und vor allem an seinen angesichts der heutigen Machtstellung des bundesrepublikanischen Kapitals weltpolitisch so bitteren Konsequenzen) nichts ändern. Er konnte nur dadurch gemildert werden, daß kraft des innenpolitischen Drucks des zur Zeit wachsenden Klassenbewußtseins in der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung, durch eine neue Welle der Jungintellektuellen- und Studentenbewegung oder durch eine stärkere, nicht mehr ihrer Größe nach beschränkte marxistische Konkurrenzpartei, wie es zur Zeit die DKP ist, in der SPD sich wieder sozialistisch-reformistische Gruppierungen innerparteiliche Bedeutung verschaffen.“ (ebenda) Auf dem Kölner Parteitag der SPD seien zwar „führende Gewerkschaftler“ als Kandidaten für das Europa-Parlament gewählt und zentrale gewerkschaftliche Forderungen, vor allem die Herabsetzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 35 Stunden, ein Verbot der Aussperrung als Kampfmittel des Kapitals und (mit der sogenannten sozialen Marktwirtschaft dem Dogma der Restauration des Monopolkapitalismus in der BRD unvereinbare) geplante wirtschaftspolitische Maßnahmen als Wahlziele für Europa beschlossen worden.“ (ebenda) „Umso grotesker war es, daß der gleiche Parteitag es abgelehnt hat, die gleichen Ziele zu Richtlinien der sozialdemokratischen Politik in der Bundesrepublik selbst zu machen. Diese negative Funktion der SPD könnte nur ernstlich verändert werden, wenn der sozialistische Reformismus wieder die Führung der Partei übernimmt und die volle Diskussionsfreiheit in ihr wieder herstellt, also die stets wiederholten Ausschlußverfahren gegen fortschrittliche Kritiker in der Partei wieder aufgehoben wurden, wie das nach dem Nürnberger Parteitag von 1968 schon einmal (aber damals nur sehr kurzfristig) geschehen war (was übrigens damals den Wahlsieg von 1969 erst möglich gemacht hat).“ (ebenda)

Zur internationalen Rolle von Helmut Schmidt

Die weltpolitische Hauptfunktion der „Arbeitsteilung zwischen dem neuen sozialdemokratischen Kanzler Helmut Schmidt und dem Parteivorsitzenden (und dann auch Vorsitzenden der Internationale) Willy Brandt seit 1974, die natürlich in dieser Weise nur unter den gegenwärtigen innerparteilichen Machtverhältnissen in der SPD funktioniert und sich bei erheblichen Verschärfungen der Klassenkämpfe in der BRD in ähnlicher Weise verändern könnte, wie sich die politische Rolle der französischen Sozialistischen Partei einst seit 1965/66 verändert hat“, werde besonders deutlich, wenn man die „Einwirkungen dieser Partei auf die anderen europäischen Länder in die Überlegungen einbezieht. Die SPD (als finanziell kräftigste Partei der Sozialistischen Internationale) hat, als sich seit Mitte der 60er Jahre abzeichnete, daß die faschistischen Regime in Portugal, Spanien und Griechenland sich nicht mehr lange halten könnten, begonnen, für diese Länder sozialistische Parteien kadermäßig vorzubereiten und sie dabei gleichzeitig unter ihren Einfluß zu bringen. Die illegalen antifaschistischen Kader in diesen Ländern, die während der ganzen Existenzzeit dieser Diktaturen zunächst relativ allein dort den antifaschistischen Widerstand geleistet hatten, standen unter Führung der kommunistischen Parteien. Die SPD gab jeweils den von ihr erzogenen jüngeren Gruppierungen, die erst in den Krisenperioden dieser faschistischen Systeme entstanden waren, soweit als möglich die Richtung, jede anti-faschistische Einheitsfront (sogar die Tendenz zur Bildung von Einheitsgewerkschaften) nach dem Sturz der faschistischen Systeme zu verhindern und dafür die Gefahr der Bewahrung der traditionellen ökonomischen und sozialen Herrschaftsformen und der alten herrschenden Klassen (und damit – nach einer sehr kurzen Übergangsperiode – auch der Rechtsentwicklung innerhalb neugeschaffener bürgerlicher Demokratien in Richtung auf künftig autoritäre politische Formen) in Kauf zu nehmen. Die SPD übertrug (und überträgt noch immer) diese Einwirkungen auch auf die (leider zur Zeit abklingenden) demokratischen Einheitsfronttendenzen in Frankreich und Italien. Das führte in Portugal so weit, daß die gleichsam regierungsoffiziöse Einwirkung der bundesrepublikanischen Botschaft auch noch während der Ära Brandt zugunsten des salazaristischen Regimes in dessen Endphase ungestört weiterlaufen konnte. Nicht anders haben sich Regierung und Spitze der SPD übrigens gegenüber dem Iran und dessen Schah-Regime verhalten, solange es noch irgend denkbar erschien, es samt der extrem barbarischen Herrschaftsmethoden der Savak zu erhalten. Denn das bundesrepublikanische Monopolkapital (und zwar in allen seinen Fraktionen) hatte seine Export- und Investitionsvorhaben mit dem Schah eng verbunden. Auch gegenüber Südafrika wurde die faktische (nicht die propagandistisch-theoretische) sozialdemokratische Politik nach früherer voller Kritiklosigkeit gegenüber der Apartheid-Regierung erst gleichsam doppelzüngig, als die eindeutigen Mehrheitsverhältnisse in den Vereinten Nationen und in Afrika keinen anderen Ausweg mehr ließen. Aber sie ist – wie jede genaue Analyse eindeutig erkennen läßt – nach wie vor lediglich Doppelzüngigkeit, also verbale Ablehnung der Apartheid bei Verweigerung praktischer Konsequenzen. Denn die (wenn auch nunmehr sorgfältig verhüllte) Belieferung der südafrikanischen Staatsmaschinerie und Wirtschaft und die Kapitalinvestitionen in ihrem Machtbereich werden seitens der BRD noch immer fortgesetzt, und auch die SPD als Partei unternimmt dagegen in der Praxis gar nichts.“ (ebenda)

Insgesamt beklagte Abendroth, daß die SPD „objektiv die Interessen des relativ rationalsten Flügels des deutschen Monopolkapitals“ vertrete, „wie sich am deutlichsten an der Politik der von Helmut Schmidt geleiteten Kabinette der BRD nachweisen läßt“, und „der arbeitenden Bevölkerung der BRD, aber auch den demokratischen Bewegungen der anderen monopolkapitalistischen Staaten, systematisch die Illusion“ vermittele, „sie brauche sich politisch und gewerkschaftlich nicht selbst zu aktivieren, weil ihre Interessen durch die SPD schon wahrgenommen würden, so daß sie sich ruhig der Regierungspolitik der BRD gegenüber als bloßen Konsument verhalten könne“ (ebenda).

Über die Rolle Brandts im Tandem der SPD-Führung schrieb Abendroth: „Brandt hat im Ergebnis dadurch eine doppelte Hilfsfunktion zugunsten der späteren bundesrepublikanischen Regierungspolitik übernommen: Erstens ist er als Parteivorsitzender der SPD nun in der Lage, oppositionelle Stimmungen gegenüber der Regierung gleichwohl (gleichsam in Arbeitsteilung) in die Partei zu ‚integrieren’ (also zu neutralisieren), zweitens kann er weltpolitisch – in noch stärkerem Maße, seit er auch Vorsitzender der Sozialistischen Internationale geworden ist – sein Ansehen als Antifaschist, das er während des Dritten Reiches erwarb (und über das der damalige Offizier der Armee Hitlers Helmut Schmidt natürlich nicht verfügt), in vielen Verhüllungen zugunsten der bundesrepublikanischen Außenpolitik zum Einsatz bringen.“ (ebenda)

Helmut Ridder, Gießener Kollege von Abendroth und ebenso wie dieser einer der großen Leitfiguren der demokratischen Bewegung in der BRD, unterschied sich zwar in der theoretischen und methodischen Ausgangsposition von Abendroth, war Radikaldemokrat und kein Marxist, hielt sich aber in der scharfen Kritik an Helmut Schmidt keineswegs zurück. Im Gegenteil. Er übertraf sie bei weitem. Der von einem Bundesverfassungsrichter als „Heinrich Heine der deutschen Verfassungsrechtswissenschaft“ bezeichnete Ridder verfügte nicht nur über eine besonders brillante Sprache als Analytiker und Essayist. Er, der seit 1998, von Krankheiten heimgesucht, zurückgezogen lebt, ist immer noch einer der Großintellektuellen in diesem Land, der die Gabe eines „avantgardistischen Spürsinns für Relevanzen“ besitzt. In der Verbindung von Verfassungsrechtsdogmatik und politikwissenschaftlicher Analyse war Ridder ein von Abendroth hoch geschätzter Kopf und „der beste Stilist“ unter den Juristen seit 1945. (Derleder/Deiseroth)

Zur Rolle Helmut Schmidts in der Notstandsdebatte

Zum ersten Mal fiel Ridder der frisch aus Hamburg eingerückte SPD-Abgeordnete auf, weil er seine „schätzenswerten Energien so sehr auf die ‚Schaffung’ einer Notstandsverfassung konzentriert.“ Wie solle wohl, so fragt Ridder, „das mit weiteren Regierungsvollmachten verbundene Notstandsverfassungsgesetz ‚rechtsstaatlich und politisch einwandfreie’ Verhältnisse herstellen können, wo schon das bisher gesetzte Notstandsrecht mit dem Geist und weitgehend auch mit den Buchstaben des Grundgesetzes nicht in Einklang gebracht werden kann?“ (Ridder, Notstand 1966). „Da legt der nach Bonn eingerückte Bundestagsabgeordnete der SPD Helmut Schmidt schon mehr als regierungsfrommen Eifer an den Tag.“ (ebenda) Auch Helmut Schmidt halte nämlich „die Schaffung einer rechtsstaatlich und politisch einwandfreien Notstandsverfassung“ für „eine der allerdringlichsten Aufgaben“ der neuen Legislaturperiode.

Helmut Schmidt und die Verfassung

Nach dem Beginn der zweiten Restaurationswelle in der BRD mit dem Ministerpräsidentenbeschluß vom 28. Januar 1972 – die erste hatte mit dem „Adenauer-Erlaß“ (1950), dem „Blitzgesetz“ (1951) und dem KPD-Verbot (1956) eingesetzt – erinnerte Ridder im Zusammenhang mit den „Berufsverboten“ an Helmut Schmidt: Schon vor zehn Jahren habe der damalige Senator a.D. Helmut Schmidt, MdB, sich diesen „gefährlichen Nonsens und blanken Affront gegen die verfassungsmäßige Rechtsordnung in ‚lebensphilosophischer’ Diktion von einem fachlich kompetenten Ghostwriter in die Feder blasen lassen.“ Zitat Schmidt: „So wie die Verfassung selbst lebt und die auf ihrer Grundlage betriebene Staatspolitik sich wandelt, so muß auch der Verfassungsschutz mit seinen konkreten Objekten der Zeit folgen und sich ihr anpassen. Das Grundgesetz sagt deshalb auch nichts Näheres darüber, womit sich die Verfassungsschutzbehörden im einzelnen zu beschäftigen haben, sondern spricht schlechthin nur von Verfassungsschutz“ (zit. nach Ridder, Berufsverbot. Nein, Demokratieverbot, 1975). Kommentar von Ridder zu dieser Äußerung von Schmidt: „Brutaler läßt sich die Identifikation der Verfassung mit der jeweils ‚betriebenen Staatspolitik’ kaum in Worte fassen als durch diese Anpassungsmaximen eines avancierfreudigen Westentaschen-Machiavellismus“ (ebenda). In seinem Alternativ-Kommentar zum Grundgesetz (1984) kam Ridder noch einmal auf die Äußerungen des Senators a. D. Helmut Schmidt zurück, wonach eine „dauerhafte innere Sicherheit des Staates nicht erreichbar“ sei, „wenn der Staat jede Gelegenheit der Konfrontation mit staatsfeindlichen Gedanken, insbesondere des Kommunismus, verwehrt“ (ebenda).

Abendroth widersprach aus verfassungsrechtlicher Sicht 1976 in einem Leserbrief an den SPIEGEL der öffentlichen Kritik von Helmut Schmidt an Italien.

Er, Abendroth, wisse zwar nicht, ob sich die Leser des SPIEGEL noch „für die Meinung eines alten Mannes interessieren, der seine wissenschaftliche Herkunft aus dem Völkerrecht und aus dem Verfassungsrecht herleitet.“ Aber zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts (Art. 25 GG) gehörten nun einmal der grundsätzliche Respekt vor der Souveränität anderer Staaten, also das Interventionsverbot, so häufig auch immer früher Großmächte (und heute die „Weltmächte“) beides in den Wind geschlagen haben, um dann immer wieder im Zeichen neuer Gleichgewichtslagen und neuer ‚Koexistenz-Politik’ reumütig zu ihnen zurückzukehren.“ (Abendroth, 1976) Der Sache nach habe Schmidt im SPIEGEL unverhüllt bestätigt, was die „Washington Post“ berichtet hatte: „Er pfeift, ‚nicht immer hinter vorgehaltener Hand’, auf beides, auf die Souveränität Italiens und auf Nichtintervention.“ Abendroth gestand: „Als ich – zuerst im Rundfunk – von Schmidts neuer Italien-Weisheit hörte, habe ich mich geschämt, Bürger dieses Staates zu sein, fast so wie ich mich vor vierzig Jahren (gelegentlich in „Freiheit“, meist im Zuchthaus), schämen mußte.“ (Abendroth, Leserbrief im SPIEGEL, 1976)

Helmut Schmidt und die so genannten „Ostverträge“

Als Verfassungsrechtswissenschaftler und zugleich Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der BRD war Ridder naturgemäß an den so genannten „Ostverträgen“ besonders interessiert und blieb dem Bundeskanzler Helmut Schmidt auch in dieser Sache auf den Fersen, als dieser in Polen über die Zustimmungsgesetze des Deutschen Bundestages vom Mai 1972 zu den beiden Verträgen mit der Sowjetunion und der Volksrepublik Polen referierte.

„Nicht hingewiesen hat Herr Helmut Schmidt bei der genannten Gelegenheit darauf, daß jene Zustimmungen des Deutschen Bundestages nicht den Verträgen allein, sondern einem Etwas gegolten haben, das im Politikjargon als ‚Paket‘ bezeichnet wird. In diese Pakete hineingeschnürt waren damals der so genannte Brief zur deutschen Einheit an das sowjetische Außenministerium, die polnischen Informationen über Maßnahmen zur Lösung humanitärer Probleme und die respektiven bundesdeutschen Notenwechsel mit den drei westlichen ehemaligen Besatzungsmächten Deutschlands, die auch die Taufpaten der Bundesrepublik Deutschland und an ihrer Vaterschaft maßgeblich beteiligt sind. Und nicht erwähnt wurde hier […] vor allem jene erst ein auch bei der Opposition wirklich durchschlagendes positives Klima schaffende Gemeinsame Entschließung aller Bundestagsfraktionen, mit der gewissermaßen eine zweite Interpretationsspur zu den Verträgen und allen folgenden bilateralen Akten ermöglicht wurde. Diese zweite Interpretationsspur steht mit der Ratio der Verträge selbst offensichtlich in Widerspruch. Natürlich können solche bundesrepublikanisch-internen Vorgänge keine völkerrechtlichen Bindungen erzeugen.“ (Ridder, Über Widersprüche im Normalisierungsprozeß, 1978) Den Vertragspartnern der Bundesrepublik Deutschland sei jedoch nicht verborgen geblieben, „daß die Bundesregierung mit diesen Koppelgeschäften einen ziemlich hohen Preis nicht nur an die Opposition, sondern auch an die Ideologeme eines Großteils ihrer eigenen Anhänger gezahlt hat.“(ebenda) Letztlich führten diese Zugeständnisse der Bundesregierung zu den bekannten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 in Sachen des Grundlagenvertrags mit der DDR und vom 7. Juli 1975 anläßlich der Verfassungsbeschwerden einiger Bundesbürger gegen die Ratifikationsgesetze.

Helmut Schmidt: Erfinder der „Raketenlücke“ und
Promoter des so genannten Nato-Doppelbeschlusses

Im Zusammenhang mit dem Stationierungsbeschluß US-amerikanischer Mittelstreckenraketen auf westdeutschem Boden war Ridder davon überzeugt und wies bei jeder sich bietenden Gelegenheit immer wieder darauf hin, daß die Zustimmung zur so genannten „Nachrüstung“ kein Kotau gegenüber der US-amerikanischen Politik war, sondern vom ehemaligen Oberleutnant und Bundeskanzler Helmut Schmidt selbst initiiert worden sei. Ridder bezeichnete Schmidt schlicht als den Erfinder einer „der deutschen Raketenlosigkeit abhelfenden ‚Raketenlücke’“. (Ridder, Nach dem Nichtbesuch, 1985) Nachdem Helmut Schmidt das Zepter ergriffen hatte, sei dieser „Nato-Doppelbeschluß“ „auf Schmidts Druck überhaupt erst zustande gekommen.“ (Ridder, Interview mit den Basis-News“, 1987) Als Mitinitiator des Krefelder Appells bekannte Ridder 1987 gleichwohl, daß 5 Millionen Unterschriften der massenhaft entstehenden Friedensbewegung gegen die „Nachrüstung“ mehr waren, als er sich in seinen kühnsten Träumen erhofft hatte.

Nachdem schon in den 50er Jahren die BRD wegen der Vorenthaltung atomarer Bundeswehrbewaffnung dem großen atlantischen Bruder mit dem Austritt aus der NATO gedroht hatte, entdeckte 1977 der damalige SPD-Vorsitzende Helmut Schmidt „die zum sog. NATO-Doppelbeschluß von 1979 führende ‚Raketenlücke’“ (Ridder, Der dritte Weltkrieg kann sehr wohl vom deutschen Boden verhindert werden, 1983) und machte sie den amerikanischen „Freunden“ schmackhaft. Ridder analysierte, warum die Raketenpartei in der BRD „der Stationierung als einem ersten Schritt entgegengiert und ihr als zweiten Schritt die ‚Mitbestimmung’ über den Einsatz folgen lassen will, um sich drittens die Alleinbestimmung zu ergaunern“ (ebenda). Die Bürde der „souveränitätsverkürzenden Atomwaffenlosigkeit ist süß, verglichen mit dem, was uns nach einer Stationierung – deren Verhinderung immer noch primäres Ziel bleiben muß – die deutsche Raketenpartei sogar an der NATO vorbei an Senkung der Kriegsschwelle bescheren könnte“ (ebenda).

Als Beleg für Urheberschaft des „Nato-Doppellebeschlusses“ durch Helmut Schmidt führt Ridder den Unterstaatssekretär im amerikanischen Verteidigungsministerium an, der im „Europa-Archiv“ erklärt hatte: „Schmidt strebte danach, die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa dazu zu nutzen, die Vereinigten Staaten enger an Europa zu ‚koppeln’“ (zit. nach Ridder, Frontstaatsdämmerung, 1987). Und Ridder kommentiert: „mit welchem näheren Ziel für ein natürlich von der BRD geführtes Europa, läßt des Schreibers Höflichkeit unausgeführt“ (ebenda). 1989 fügte Ridder über Schmidt bissig hinzu: „Noch tiefer im deutschnationalen Sumpf steckt ein Helmut Schmidt, der immer noch Mitglied der SPD ist und mit dem schon unter Adenauer sauer gewordenen EVG-Wein in neuen Schläuchen auf Kundenfang geht.“ (Ridder, Weit ist der Weg, 1989) Die sog. Raketenlücke habe er, Helmut Schmidt, „seinem Freund Kissinger mit der Vorstellung untergejubelt [...], kommen die Dinger erst mal her, wird die nächste Etappe sein, daß wir mitverfügen können. Wenn nachher die Amerikaner, was wir hoffen, hinaus sind, – nur in der Europäischen Wehrkunde konnte man lesen, daß die Amerikaner gefälligst abzuziehen und die Dinger hier zu lassen haben – dann haben wir allein den Druckknopf in der Hand. Dann können wir die Politik machen, die zur ‚Wiedergutmachung des Unrechts von 1945’ führt.“ (Ridder, Das stand nicht in der Zeitung, 1990)

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Der Marburger Fachbereich Gesellschaftswissenschaften hat mit den Stimmen aus dem Institut für politische Wissenschaft, das Abendroth einst als Institut für „wissenschaftliche Politik“ 1951 begründet hatte, beschlossen ausgerechnet Helmut Schmidt die Würde eines Ehrendoktors zu verleihen, nachdem dieser fast zwei Dutzend Ehrendoktortitel (23) bei den Gönnern und Nutznießern seiner Politik eingesammelt hat. Es mag sein, daß nicht alle gegenwärtigen Professoren Denkungsart und Inhalte von Abendroth teilen. Nun aber beteiligen sie sich daran, alle Denktraditionen der Abendroth-Schule als Ballast über Bord zu werfen, um nicht sich, sondern der bürgerlichen Universität in diesen Zeiten Ehre zu erweisen. Die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Helmut Schmidt versetzt auch der Friedensbewegung der 80er Jahre einen Schlag ins Gesicht. Die Marburger Friedensbewegung, die seinerzeit mehr als 20.000 Unterschriften unter den „Krefelder Appell“ sammelte, wird, wenn es zu der Verleihung der Ehrenpromotion für Helmut Schmidt kommt, nicht schweigen.