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Aber gewiss doch: Es gibt sie noch, die Klassen

Replik auf Lothar Peter (Z 81)

Juni 2010

Was machen wir mit dem Klassenbegriff?[1] So fragt der Soziologe Lothar Peter und hat die Antwort auch gleich schon parat: Wir schaffen ihn ab. Es gibt nämlich „Weder ‚Arbeiterklasse’ noch ‚Lohnabhängigenklasse’“ und was es nicht gibt, kann auch nicht, das stimmt, begrifflich erfasst werden.

Da entsteht nun doch ein gefühltes Bedürfnis festzuhalten: Zu diesem „Wir“, diesem Abschaffungskollektiv, möchte man nicht gezählt werden.

Die Frage lautet deshalb nicht, was „wir“, sondern was L. Peter mit den Klassen macht. Er versucht sie zu definieren. Die gemeinsame ökonomische Lage der Menschen sei die „elementare, aber nicht die einzige konstitutive Voraussetzung für die Existenz einer sozialen Klasse.“ Zu dieser ökonomischen Lage hinzukommen müsse die Art, wie „das eigene Leben materiell reproduziert wird, in welchen Produktions- und Austauschverhältnissen dies geschieht, woraus die ökonomisch verfügbaren Ressourcen resultieren und welchen Umfang sie haben.“ Diese Aufzählung enthält richtige, einzelne Elemente, aber deren Zusammenhang und die Notwendigkeit dieses Zusammenhangs wird nicht benannt, weil er nicht erkannt wird.

Das wesentliche, bestimmende Element der ökonomischen Lage ist das Eigentum an den Produktionsmitteln, in einer kapitalistischen Gesellschaft also das kapitalistische Privateigentum. Wer vom Privateigentum schweigt, sollte von Klassen nicht reden. Das Privateigentum organisiert alle Produktions- und Aneignungs- und die davon abhängigen Austausch- und Konsumtionsverhältnisse. Es tut dies nicht automatisch, mechanisch. Im Zusammenwirken mit einer ungeheuren Vielzahl anderer Faktoren bildet sich die ökonomische Lage heraus, deren wesentliches Kennzeichen aber das Eigentum ist, durch das die Gesellschaftsformationen unterschieden, ihre spezifischen Ausgestaltungen erkannt und ihre Entwicklungsmöglichkeiten bestimmt werden können. Gleich wesentlich mit der gemeinsamen ökonomischen Lage ist nach Peter die gemeinsame soziale Lebensweise; beispielhaft werden hier genannt, Wohnverhältnisse, Bildungszugänge, Freizeitgestaltung.

Drittens seien erforderlich gemeinsame Denkformen, moralische Standards und ein in vieler Hinsicht gemeinsames kollektives Selbstbild, damit man von einer Klasse sprechen könne.

Peter legt den allergrößten Wert darauf, festzustellen, dass nur (!) wenn alle drei Dimensionen berücksichtigt würden, dem Klassenbegriff „eine Erkenntnisfunktion“ zukomme, anderenfalls eine „ökonomistisch verkürzter“ Klassenbegriff vorläge oder der Versuch einer „ökonomistischen Halbierung“ des Klassenbegriffs. Was ist nun das: ein halbierter Begriff? Und müsste es dann nach Peter nicht heißen: ein gedrittelter Begriff, wenn nur eine gleichartige ökonomische Lage gegeben ist? Mit den numerischen Bruchteilen von Begriffen sei es nun bestellt wie auch immer, bedeutsamer ist, dass Peter behauptet, Marx jedenfalls habe im „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ den französischen Parzellenbauer trotz ihrer ökonomischen Homogenität den Klassencharakter abgesprochen, wegen ihrer „lokalen und sozialen Isoliertheit“.

So einfach sollte man sich die Sache nicht machen. In der genannten Schrift heißt es: „Bonaparte vertritt eine Klasse, und zwar die zahlreichste Klasse der französischen Gesellschaft, die Parzellenbauern.“.[2] Und: „Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von den der andern Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstellen, bilden sie eine Klasse.“ Das ist nun doch eine klare Aussage. Aber Marx fährt unmittelbar fort – und insoweit kann Peter sich auf ihn berufen – : „Insofern ein nur lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbauern besteht, die Diesselbigkeit ihrer Interessen keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen erzeugt, bilden sie keine Klasse.“[3] Der Begriff der Klasse wird von Marx also, wie auch an anderen Stellen seines Werks, nicht einheitlich verwandt und nicht abschließend definiert.[4] Die Parzellenbauern bilden, nach Marx, kein Bewusstsein ihrer gemeinsamen Interessen heraus und erzeugen auch keine politische Macht. „Sie sind daher unfähig, ihr Klasseninteresse (das es also objektiv gibt, P.R.) im eigenen Namen … geltend zu machen.“[5] Es ist also zu unterscheiden zwischen der objektiven Klassenlage und dem Klassenbewusstsein und dem Klassenhandeln, das letztlich zum Klassenkampf sich ausbildet. In der Literatur wird diese Differenz häufig benannt als „Klasse an sich“ und „Klasse für sich.“

Mit dem von Peter festgestellten Verschwimmen der Klassengrenze, den Segmentierungen innerhalb der Gesellschaft und den seiner Meinung nach vergeblichen Versuchen von Marxisten, am Klassenbegriff festzuhalten, wird aber die genannte Unterscheidung „sehr leicht zu einem begrifflichen Mantra“; womit wohl gemeint ist, zu etwas, was nur noch wiederholt wird, ohne dass dem noch irgendeine Realität entspräche.

Peter stellt fest, innerhalb des gegenwärtigen Kapitalismus „ist der Begriff der Lohnabhängigkeit für eine Klassendefinition ungeeignet und der einer Arbeiterklasse gänzlich obsolet.“ Also: Keine Klasse, nirgends – mit einer allerdings erstaunlichen und bemerkenswerten Ausnahme: „Dagegen trifft der Klassenbegriff heute vielleicht am ehesten auf diejenigen zu, die sich am obersten gesellschaftlichen Rand konzentrieren.“ Gemeint sind die „herrschenden Besitz- und Machtgruppen“. Wer dazu ab welchem Einkommen, ab welchen Vermögen gehört, bleibt nun allerdings sehr unklar und einige von Peter ausgebreitete Lesefrüchte aus Analysen der Einkommens- und Vermögensverteilung tragen wenig oder nichts zu Begriffsklärung bei.

Was Peter fordert, also eine nicht nur ökonomisch, sondern auch soziologisch „dichte Beschreibung“ dessen, was eine soziale Klasse ist, wird von ihm für diese Klasse nicht geliefert. Ihm ist auch zu widersprechen, wenn er für diese Klasse die von ihm als so wesentlich erachtete „soziale Lebensweise“ gegeben sieht. Diese gemeinsame Lebensweise existierte in der feudal-aristokratischen Welt und auch weitgehend noch bei dem Bürgertum des neunzehnten Jahrhundert, das seine Lebensweise in den Grandhôtels von Abbazia, Nizza, Deauville und anderswo vorführte. Der heute Drittreichste Mann der Welt lebt aber in einem Reihenhaus und mancher Milliardär und Konzernherr lebt bescheidener als sein hoch bezahlter Manager; andererseits lässt sich ein durch den Verkauf von Schrauben zum Milliardär gewordener deutscher Unternehmer eine Yacht für hundert Millionen € bauen.

Aber es richtig, es gibt einen „obersten Rand der Gesellschaft“, deren Existenz Peter feststellt, wenn auch im Widerspruch zu seiner eigenen Begrifflichkeit. Und dieser „Rand“ hat auch einen guten, ehrwürdigen, altbekannten Namen: Man nennt ihn Kapitalistenklasse. Zwar sind die Unterschiede innerhalb der Klasse der Kapitaleigentümer nicht geringer als innerhalb derjenigen, die lohnabhängig arbeiten. Die jeweiligen Eigentumsverhältnisse und die jeweiligen Interessen zwischen einem Konzerneigentümer, der einige hunderttausend Lohnabhängige beschäftigt und einem kleinen Fabrikherrn, der mit dem Ankauf der Arbeitskraft von einigen hundert Arbeitern seinen Profit zu machen sucht, sind sehr verschieden. Aber ein einigendes Band hält sie fest umschlungen: das Privateigentum an den Produktionsmitteln.[6] Ganz gleich, wie groß das jeweilige Eigentum ist, ganz gleich, in welcher Form es als Kapital fungiert und ganz gleich auch, wo es als Kapital angelegt ist: in einem sind sich alle Kapitaleigner rund um den Globus einig: Das Privateigentum muss erhalten und kraftvoll-kämpferisch verteidigt werden.

Die Arbeiterklasse, die Industriearbeiterschaft, wie Marx sie beschrieben hat, ist nicht mehr der exemplarische Gegner der Kapitalistenklasse, insofern hat Peter Recht. Die Entwicklung der Produktivkräfte, vor allem durch die revolutionierende Kraft der Informationstechnologien, hat die Struktur und die Bedeutung der industriellen Arbeit und der Warenproduktion insgesamt grundlegend verändert. Peter bestreitet aber nicht nur das Vorhandensein einer Arbeiterklasse, sondern auch die Existenz einer Klasse der Lohnabhängigen; Lohnabhängigkeit sei eine „ziemlich formale und diffuse Kategorie“, die weiter präzisiert und konkretisiert werden müsse z.B. im Hinblick auf lohnabhängige Mittelschichten. Es ist offensichtlich, dass es sehr erhebliche Unterschiede gibt innerhalb der großen Mehrheit derjenigen, die lohnabhängig arbeiten; Peter weist zutreffend darauf hin und belegt dies Unterschiede eindrucksvoll. Es soll dahingestellt sein, ob daraus auch folgt, es gäbe keine Klasse der Lohnabhängigen. Denn auch die Lohnabhängigkeit ist eine letztlich abgeleitete soziale Beziehung.

Abhängig vom Lohn ist, wer seine Arbeitskraft verkaufen muss, um zu leben, um nicht zu verhungern, oder um leben zu können auf einem gesellschaftlich jeweils vorgegebenen Niveau. Nicht lohnabhängig also ist derjenige, der auch ohne ein Arbeitsentgelt angemessen leben kann, der „Privatier“ ist, der „privatisieren“ kann, wie man früher sagte; der also über ausreichend Privateigentum verfügt, der also Kapitaleigner ist.

Die kapitalistische Gesellschaft ist bis in ihre tiefsten Wurzeln und ihre feinsten Verästelungen aufgespalten in die Klasse der Kapitalisten und die Klasse der Nichtkapitalisten und beide Klassen stehen in einem antagonistischen Widerspruch zueinander, der nicht ausgeglichen, sondern nur aufgehoben werden kann.

Diese Klassenspaltung ist eine Tatsache. Sie kann nicht geleugnet werden und sie existiert auch hinter einem soziologischen Sprachnebel von Begriffsbruchstücken, von oberen und unteren Quintilen, von Schichten, Milieus, Kohorten usw. usf. Damit wird ein Bruchstückwissen vermittelt, dem zwar auch eine, eben partielle, Bedeutung zukommt, das aber eine Analyse der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Widersprüche nicht ersetzen kann.

Wenn, wie Peter meint, der Klassenbegriff heute „vielleicht am ehesten“ auf jene obere Randgruppe zuträfe, die bestehe aus „größeren und großen Kapitaleignern, Topmanagern, Spitzenbeamten und hohen Militärs, Stars in den Medien und im Sport und führenden Repräsentanten in Kultur und Wissenschaft“, so ist festzuhalten, dass dieser Klassenbegriff mit dem von Marx nichts zu tun hat. Für Marx sind die Kapitalisten keine Gruppe (als Gruppe wären sie für ihn lediglich eine Ansammlung von „Charaktermasken“)[7], sondern Agenten des Kapitals, die dessen Verwertungsprozess mittels Warenproduktion und dem Ankauf und der Verwertung von Arbeitskraft zum Zwecke der Mehrwertproduktion organisieren müssen bei Strafe ihres eigenen Untergangs als Eigentümer von Produktionsmittel.

Wer, wie Peter, mit großem Nachdruck die Existenz einer Arbeiter- oder einer Lohnabhängigenklasse leugnet, und allenfalls noch einen am oberen Rand der Gesellschaft angesiedelten, wild zusammen gewürfelten Haufen von Kapitaleigentümern und von – wie sie selbst sich gern bezeichnen lassen – Leistungs- und Verantwortungsträgern ausmacht, für den hat der Kapitalismus seinen Endsieg errungen, für den gibt es keinen Klassenkampf, für den gibt es keinen aus den Bewegungsgesetzen der kapitalistischen Warenproduktion selbst mit Notwendigkeit hervorgehenden Übergang zum Sozialismus, für den existiert der Grundwiderspruch des Kapitalismus zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten Aneignung der erzeugten Produktion durch die Kapitaleigner nicht, für den wird die Forderung, in der sich nach Marx die Theorie der Kommunisten zusammenfassen lässt: „Aufhebung des Privateigentums“[8], sinnlos.

Peter bejaht nicht etwa die „Erosion der Klassenstruktur“, er meint nur, sie feststellen zu müssen. Und selbstverständlich hat er Recht, wenn er davon ausgeht, dass in den entwickelten kapitalistischen Ländern der Übergang zum Sozialismus nicht gerade unmittelbar bevorzustehen scheint. Tagespolitisch gesehen ist es nicht unvernünftig, wenn er die Linke auffordert, „gemeinsame Schnittmengen, Berührungspunkte, Vernetzungsmöglichkeiten und Übereinstimmungen zwischen all denjenigen herauszuarbeiten, die, so sehr sich ihre materiellen und ideellen Lebensbedingungen unterscheiden mögen, gemeinsam unter der Herrschaft des modernen Kapitalismus und anderen Unterdrückungsverhältnissen zu leiden haben“.

Der moderne Kapitalismus bewirkt aber, dass die Konzentration und Zentralisation des Kapitals sehr groß ist und mit jeder Krise größer wird; die Kapitalien ballen sich zu Monopolen zusammen, werden größer und die Kapitalistenklasse wird kleiner. Zugleich wächst die Klasse derjenigen immer stärker an, die über kein Kapital verfügen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen und zwar unter stetig sich verschlechternden Bedingungen, trotz großer Produktivitätsfortschritte. Das Gefühl, dem Kapital und den von ihm geschaffenen Märkten ausgeliefert zu sein, verstärkt sich und in der Krise wird vielen deutlich, dass der Staat nicht nur das Privateigentum generell schützt, sondern dass der Schutz der Hochfinanz und des Großkapitals sein vordringliches Anliegen ist, für das ihm keine Belastung seiner Bürger zu hoch ist.

Deshalb kommt es darauf an, diejenigen, die unter Verhältnissen leiden, die ihnen undurchschaubar und unbeeinflussbar erscheinen, über diese Verhältnisse aufzuklären, deren Veränderbarkeit aufzuzeigen und die Klassenverhältnisse bewusst zu machen, mit dem Ziel, dass nicht für den Profit des Kapitals, sondern für die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen produziert wird; damit das, was gesellschaftlich produziert wird, auch gesellschaftlich angeeignet wird, denn, wie Hans Heinz Holz feststellt: „Die Alternative Sozialismus oder Barbarei stellt sich so unausweichlich wie zu der Zeit als Rosa Luxemburg sie formulierte.“[9]

[1] Lothar Peter, Was machen wir mit dem Klassenbegriff? Z 81, März 2010, S. 153 ff.. Alle wörtlichen Zitate sind, soweit nicht andere Belegstellen angegeben worden sind, diesem Beitrag entnommen.

[2] K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, S.115 ff., S. 198.

[3] Ebenda.

[4] Das 52. Kapitel des dritten Bandes des Kapitals „Die Klassen“ wurde nach 1½ Seiten abgebrochen, siehe K. Marx, Das Kapital, III. Band, MEW 25, S. 892.

[5] K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, a.a.O. S. 198.

[6] Vgl. dazu P. Römer, Das kapitalistische Privateigentum. Sein Begriff, seine gesetzmäßige Entwicklung, sein Recht. Beiträge Bd. 1, dialectica minora Bd.19, Köln 2009.

7 Vgl. K. Marx, Das Kapital. Vorwort zur ersten Aufl., MEW 23, S. 16: „Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen.“ Siehe auch: Volker Schürmann, Das gespenstische Tun von Charaktermasken. Ein Bericht , in: Unterwegs zu Marx, Topos H. 30, 2008, S. 53 ff.

[8] K. Marx, F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 475.

[9] H. H. Holz, Sozialismus statt Barbarei. Ein Beitrag zur Zukunftsdebatte, Essen 1999.