Berichte

„Kritische Wissenschaft, Emanzipation und die Entwicklung der Hochschule"

Tagung in Frankfurt am Main, 1.-3. Juli 2005

September 2005

In der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft ist die Universität nur selten der Brennpunkt einer kritischen Wissenschaft gewesen. Darüber waren sich die meisten Anwesenden auf der unter anderem vom BdWi, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, dem Rosa-Luxemburg-Forum Hessen und der Frankfurter AG Gegenhegemonie veranstalteten Konferenz „Kritische Wissenschaft, Emanzipation und die Entwicklung der Hochschulen“ einig. Die ambivalente Entwicklung der Akademisierung des Marxismus und der „Marxisierung“ der Universitäten im Rahmen der fordistischen Bildungsexpansion und der Studentenbewegung müsse rückblickend, so Heinz Steinert, als eine einmalige „historische Sondersituation“ begriffen werden. Gleichwohl sollte man, wie Alex Demirovic herausstrich, aus der neoliberalen Umgestaltung der Hochschullandschaft nicht den Schluß ziehen, dass die Universitäten als eines von mehreren Kampffeldern gegenhegemonialer Auseinandersetzungen nunmehr zu vernachlässigen seien. Das Stichwort „Marxismus Emeritus“ beschreibe die Situation nicht genau, weil es plötzlich und unerwartet an der einen oder anderen Universität (z.B. in Jena) zu einer Öffnung für linke Wissenschaftler gekommen ist.

Die Gegenwart des akademischen Feminismus wurde am Samstag Vormittag verhandelt. Sylvia Kontos, Hochschullehrerin an der FH Wiesbaden und Repräsentantin der ersten Generation der neuen Frauenbewegung, leitete ihren Vortrag mit einer groben Periodisierung ein: Den Sozialisationstheorien aus den 1970er Jahren, bei denen die geschlechtsspezifische Erziehung im Zentrum der Kritik gestanden hatte, folgte ab den späten 1970er Jahren die Erforschung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung mit einer auf die unbezahlte Reproduktionsarbeit zielenden Kritik. In den 1980er Jahren entfaltete sich die feministische Theorie zunehmend identitätspolitisch, und zwar in der Gestalt des Differenzfeminismus, der in den 1990er Jahren schließlich vom Dekonstruktivismus abgelöst wurde. Letzterer habe der Ausdifferenzierung der Kategorie „weibliches Geschlecht“ Rechnung getragen, indem er die Unterschiedlichkeit von „Heteras, Lesben, Migrantinnen und Müttern“ theoretisch reflektierte. Alles in allem sei diese theoretische Entwicklung als ein Fortschritt zu verstehen. In praktischer Hinsicht bezeichne der Dekonstruktivismus jedoch einen Zerfall der feministischen Bewegung: Er beseitige das im Zuge der Identitätspolitik geschaffene politische Subjekt. Der universitäre Dekonstruktivismus radikalisiere die Theorie, während der praktische Feminismus seinem Wesen nach differenzfeministisch bleibe und im Namen „der Frauen“ partikularistische politische Ziele durchsetze (Projektsubventionen etc.), ohne dabei zu reflektieren, daß seine Wurzeln eigentlich in der untergegangenen fordistischen Prosperitätsphase lagen. Der Dekonstruktivismus wiederum weigere sich, seine Verstrickung mit dem Neoliberalismus zu reflektieren. Genau wie dieser forciere er die Atomisierung der Menschen und trenne er die Subjekte von ihrer eigenen Geschichte. Die Abkopplung des Feminismus von den materiellen Verhältnissen verknüpfe ihn über die zentralen Momente des Dekonstruktivismus – Eigenverantwortung, Differenz, Individualität, etc. – direkt mit dem Neoliberalismus. Letzten Endes sei „der Neoliberalismus der größte Dekonstrukteur“. Ein Feminismus, der diese ideologische Nähe nicht reflektiere und sich in die Universitäten und einen akademisierten Feminismus zurückziehe, sei „blind gegenüber den eigenen Kontextbedingungen“. Es gelte, den Anpassungsdruck zu reflektieren, der auf den isolierten feministischen Wissenschaftlerinnen laste, für die es nur dann DFG-Stipendien gebe, wenn eine „Verwertbarkeit für neoliberal definierte Problemlagen“ erkennbar sei. Ein zeitgemäßer Feminismus habe sich anders als der Dekonstruktivismus mit den materiellen Realitäten und den „benennbaren Opfergruppen des Sozialabbaus“ auseinanderzusetzen, zu denen auch und gerade die Unterschichtsfrauen gehören. Zu fragen sei stets: „Wer profitiert von der gegenwärtigen Entwicklung und welche Rolle hat diese Entwicklung für die Geschlechterfrage?“ Die zwei zentralen Leitmotive für eine entinstitutionalisierte feministische Politik müssten eine neue Bescheidenheit und eine Distanz zur Universität sein, weil „kritisches Denken selten mit einer C4-Professur ausgestattet wird. Mit Bezug auf den Wissenschaftsbetrieb steht ein bißchen Marginalität jeder Frau!“

Ähnlich argumentierte auch Sünne Andresen, Mitglied der autonomen Argument-Frauenredaktion. Sie beschäftigte sich im Kontext der Ablösung des Feminismus von den sozialen Bewegungen mit den Anpassungszwängen des akademischen Feldes. Es gebe das Paradox, dass die Kürzungen im Wissenschaftsbereich seit den 1990er Jahren mit einer quantitativen Ausdehnung des akademischen Feminismus korrespondierten. Die ursprüngliche Frauenforschung sei im Kontext dieses Prozesses und im Rahmen der „anti-essentialistischen Revolution“ allerdings in die Geschlechterforschung transformiert worden, in deren Zuge der Feminismus sich stetig mehr von den materiellen gesellschaftlichen Verhältnissen entfernt habe. Eine zentrale Forderung an den akademischen Feminismus sei die unabdingbare „gesellschaftliche Rückbindung des dekonstruktivistischen Paradigmas“, seine Einbindung in die „gesellschaftstheoretische Analyse“. Der akademische Feminismus sei in seiner heutigen Form lediglich ein „Handlanger diversifizierten Humankapitals“. Andresen warf die Frage auf, ob kritisches feministisches Denken heute überhaupt noch im universitären Kontext stattfinden könne. Tatsächlich seien die „Universitäten von Anfang an kein guter Ort für eine kritische Frauenforschung“ gewesen und die Sonderbedingungen der Nach-68-Zeit seien vorbei.

Diese vehementen Angriffe auf den dekonstruktivistischen Trennungsaffekt und seine Weltabgewandtheit verstand Isabell Lorey als einen Angriff auf ihre eigene Position und akademische Tätigkeit, auf den sie in ihrem Vortrag einging. Das „Dekonstruktivismus-Bashing“ resultiere aus einem mangelnden Verständnis für den „von Judith Butler ausgegangenen Aufbruch“, der sich in der Kritik am „rassistischen weißen Mittelstandsfeminismus“ entzündet habe. Es ginge um eine rassismuskritische Feminismusperspektive, die bereits Früchte trage. Der universitäre Queer-Ansatz offenbare bereits „Rückwirkungen auf außeruniversitäre Zusammenhänge“. Zwar gebe es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem neoliberalen Selbstverhalten – dem kreativen Arbeiten, der Selbstbestimmung der Arbeitszeit, etc. – jedoch spräche die polemische In-Einssetzung von Dekonstruktivismus und Neoliberalismus jenem das „kritische Potential“ ab. Es gebe zwar ein „verstricktes Begehren“ von Neoliberalismus und dekonstruktivistischen Strömungen, es gelte aber (auch in deren Kontext) nach neuen Formen einer (selbstverständlich rein individueller Natur bleibenden) Widerspenstigkeit zu suchen. Der identitätskritische Dekonstruktivismus sei ökonomietheoretisch und gesellschaftstheoretisch zu erweitern.

Im zweiten Block des Tages ging man der Frage nach, inwiefern die deutsche Entwicklung europäisch verallgemeinerbar ist. Hierbei kam man zu dem Schluß, daß sich die jeweils betrachteten Länder – Deutschland, Frankreich (Jan Spurk), England (Bob Jessop) und die Niederlande (Michael Krätke) – bei allen Unterschieden mehr oder weniger in einem neoliberalen Umstrukturierungsprozeß mit sehr ähnlichen Zügen befinden, der sich in England und den Niederlanden allerdings in einem fortgeschritteneren Stadium befinde.

Auf dem Abschlußpodium wies Alex Demirovic – angesichts der überwiegend dem akademischen Milieu entstammenden Teilnehmer – insbesondere noch einmal auf die Wichtigkeit hin, das Spannungsfeld aus der eigenen Lebenssituation und der kritischen Theorie an den Universitäten im Allgemeinen zu reflektieren und die Wirkungsmacht des eigenen Denkens stets im Auge zu behalten. Der Forderung, die Universität angesichts ihrer wissenschaftlichen Standardisierung und Professionalisierung als einen zentralen Ort der kritischen Wissensproduktion zu vernachlässigen, trat Demirovic allerdings vehement entgegen. Er unterstrich, daß man sich der Problematik der vielfältigen Formen der Mikromacht und der „Wahrheitspolitik“ im akademischen Feld nicht durch die einfache „kritische Kritik“ und eine religiös-puristische Abkapselung von den zentralen Orten der Makromacht entziehen darf. Demirovic betonte, daß in diesen Institutionen wahrheitspolitische Kämpfe um die Definition dessen, was wahr und was falsch ist, zu führen sind. Andernfalls werde man zum „autodidaktischen Einzelgänger und Sektierer“.

Joachim Hirsch versuchte im Anschluß, das Gramsci-Althusser-Verhältnis umzukehren und Gramsci als die zivilgesellschaftlich-hegemonietheoretische Erweiterung des althusserschen Funktionalismus zu lesen. In der Tat seien die Universitäten „ideologische Staatsapparate“, deren Funktion darin bestehe, über die Mechanismen der Konkurrenz etc. Herrschaftswissen zu produzieren. Jedoch beschränke sich die Universität nicht auf diese Funktion, sondern in ihr bildeten sich auch Freiräume für die Schaffung von Gegenhegemonie. Die Institution Universität könne zwar nicht ohne „grundlegende gesellschaftliche Veränderungen übernommen“ werden, doch sei sie ein Kampffeld gesellschaftlicher Widersprüche. Der entscheidende Faktor hinsichtlich der konkreten Widerspruchsbearbeitung – die sozialen Bewegungen – liege außerhalb der Universität, weshalb es zwangsläufig immer zu einer „Verknüpfung der universitären mit den außeruniversitären Bewegungen“, mithin also zu einer (erneuerten) Einheit von Theorie und Praxis kommen müsse. Die Konzentration der wissenschaftlichen Linken auf die Hochschule, der „akademische Marxismus“, habe die Linke „abhängig von den Strukturen des ideologischen Staatsapparates Universität“ gemacht. Für eine Erneuerung des Bündnisses zwischen der Universität mit den sozialen Bewegungen gelte es allerdings, den „kritisch distanzierten“ Mittelweg zwischen den beiden Polen „Avantgardismus“ und „Dienstleister für die sozialen Bewegungen“ zu beachten.

Bernd Kaßebaum (IGM/BdWi) sprach sich schließlich für eine verstärkte Verknüpfung der Gewerkschaften mit den verbliebenen gewerkschaftsfreundlichen Universitätsangehörigen aus, wobei er zwei Dinge am gegenwärtigen Mainstream der Gewerkschaften kritisierte. Die IGM beispielsweise habe es versäumt, die neuen Arbeitsformen und Arbeitnehmer-Subjektivitäten in die Gewerkschaften zu integrieren. Zudem seien mit der Überlagerung der Arbeitshumanisierungs- durch die Verteilungsfrage zentrale Fragen kritisch-theoretischen Denkens (und Handelns) immer stärker in den Hintergrund gedrängt worden. Eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen universitären Intellektuellen und Gewerkschaftern könne Abhilfe schaffen und die Grundlagen für eine neue Offensivstrategie legen.

Als eine erste Verständigung über die Dynamik der Neoliberalisierung der Hochschulen in Deutschland kann die Frankfurter Tagung als gelungen angesehen werden, zumal sie – wie Krätke herausstrich – den Anwesenden eine Vorstellung über die in den Niederlanden und Großbritannien schon vorweg genommene Zukunft der deutschen Hochschullandschaft vermittelt habe. Für die Erneuerung einer fruchtbaren Partnerschaft zwischen den wechselseitig aufeinander angewiesenen sozialen Bewegungen und Universitätsintellektuellen allerdings, so könnte man kritisieren, beschränkte sich das Teilnehmerspektrum zu stark auf das universitäre Feld, das – wie John Sanbonmatsu in seiner Arbeit über den „postmodernen Fürsten“ gezeigt hat – als von den sozialen Bewegungen weitgehend abgekoppeltes Milieu zu opportunistischen „individual coping strategies“ neigt, sobald die Ressourcen und Spielräume knapper werden. So ist auch der Kritik Joachim Hirschs zuzustimmen, der am Ende der Veranstaltung anmerkte, daß eine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der verstärkten Widersprüche im akademischen Feld auf die Subjektivitäten der sich in ihm bewegenden Akteure gefehlt habe.