Berichte

Europas Zukunft im Lichte der Verfassung

Initiative für einen Politikwechsel mit Unterstützung der DGB-Region Frankfurt-Rhein-Main, 26. Februar 2005 in Frankfurt/M.

Juni 2005

Bisher ist die europäische Integration ein neoliberales Projekt. Im Kern sind ihre Zielsetzungen darauf gerichtet, Märkte zu integrieren und europäische Unternehmen zu fördern, um die Stellung Europas in der Triade-Konkurrenz zu festigen. Dabei wird in den letzten Jahren auch die militärische Dimension Schritt für Schritt aufgewertet. Politische Partizipation, soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit sind demgegenüber nachgeordnet. Auf diesen Feldern war es in der Vergangenheit nur möglich, einige den Binnenmarkt flankierende Zugeständnisse zu ertrotzen. Den kleinen Fortschritten steht die Gefahr eines Abbaus sozialer Standards und eines Sozialdumpings gegenüber. Dass die wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Prognosen der Befürworter dieses Projekts sich nicht erfüllen, ist für sie kein Grund, ihre Therapie zu überdenken. Sie treten dafür ein, die Dosis zu erhöhen und die europäische Integration noch stärker an einer Radikalisierung des Wettbewerbs, am weiteren Abbau öffentlicher Dienstleistungen, an Entdemokratisierung und Militarisierung auszurichten. Abgesichert wird das Projekt durch die Institutionalisierung von Entscheidungszentren und -regeln, die dem demokratischen Prozess entzogen sind. Die Abstimmungsverfahren über eine europäische Verfassung folgen in der Bundesrepublik Deutschland der gleichen Logik, und mit der Verabschiedung des Entwurfs für eine europäische Verfassung im Bundestag im April droht das neoliberale Projekt weiter gefestigt zu werden.

Auf der von Horst Schmitthenner (Verbindungsbüro Soziale Bewegungen bei der IG Metall) und Richard Detje (Zeitschrift „Sozialismus“) moderierten und mit einem Grußwort von Harald Fiedler (DGB-Regionsvorsitzender) eingeleiteten Tagung wurde der skizzierten Entwicklung der Slogan „Für Demokratie und Frieden statt Neoliberalismus und Militarisierung“ entgegengesetzt. Vor knapp 100 Teilnehmern wurde gefordert, die Auseinandersetzung um den Verfassungsentwurf im Vorfeld der Abstimmung im Deutschen Bundestag dafür zu nutzen, die Konsequenzen und Gefahren einer Fortschreibung des neoliberalen Projekts in die Öffentlichkeit zu tragen und für eine europäische Verfassung zu streiten, die die Tür für alternative Entwicklungspfade zumindest einen Spalt breit offen hält. Bei dem vorgelegten Verfassungsentwurf ist dies nach Francis Wurtz (Vorsitzender der Parlamentsfraktion Vereinigte Europäische Linke/Vereinigte Grüne Linke im Europäischen Parlament) nicht der Fall. Vielmehr drohe das neoliberale Projekt mit der Verabschiedung des Entwurfs festgeschrieben zu werden und die europäische Integration damit nicht zu fördern, sondern vielmehr zu gefährden.1[1] Denn wenn einseitig auf wirtschaftliche Konkurrenz gesetzt und der Abbau sozialer Standards vorangetrieben werde, erleichtere dies Rechtspopulisten und Nationalisten die Mobilisierung gegen eine europäische Integration. Der Gefahr einer Renationalisierung müsse entgegengewirkt werden – nicht zuletzt mit einem „pro-europäischen Nein“ bei der Abstimmung des Verfassungsentwurfs.

Wurtz erhob den Vorwurf, dass der Verfassungsentwurf und die ihn begleitenden Dokumente den Blick auf den Gehalt der Schriftstücke vernebelten. Die Papiere seien umfangreich, für die Öffentlichkeit nicht ohne weiteres zugänglich, und die konkrete Bedeutung der einzelnen Paragraphen sei schwer zu durchschauen. Teilweise würden Aussagen durch angehängte Erläuterungen in ihr Gegenteil verkehrt. Er demonstrierte dies an zwei Artikeln der Sozialcharta, zu denen er die zum Verfassungsentwurf gehörenden Konkretisierungen in der „12. Erklärung betreffend die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“ 2[2] vortrug. So wird in Artikel 21 (1) der Sozialcharta unter der Überschrift „Nichtdiskriminierung“ festgehalten: „Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.“ In einem der letzten Abschnitte des ca. 400 Seiten langen Verfassungsentwurfs wird dann allerdings stark einschränkend festgehalten: „In Absatz 1 des Artikels 21 […] wird weder eine Zuständigkeit zum Erlass von Antidiskriminierungsgesetzen in diesen Bereichen des Handelns von Mitgliedstaaten oder Privatpersonen geschaffen noch ein umfassendes Diskriminierungsverbot in diesen Bereichen festgelegt. Vielmehr behandelt er die Diskriminierung seitens der Organe und Einrichtungen der Union im Rahmen der Ausübung der ihr nach anderen Artikeln der Teile I und III der Verfassung zugewiesenen Zuständigkeiten und seitens der Mitgliedstaaten im Rahmen der Umsetzung des Unionsrechts.“

Als zweites Beispiel führte Wurtz Artikel 34 (1) der Sozialcharta an. Dort wird unter der Überschrift „Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung“ festgehalten: „Die Union anerkennt und achtet das Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und zu den sozialen Diensten, die in Fällen wie Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebedürftigkeit oder im Alter sowie bei Verlust des Arbeitsplatzes Schutz gewährleisten, nach Maßgabe des Unionsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.“ Wer hinter dieser Formulierung die Bereitschaft zum Ausbau einer europäischen Sozialpolitik vermutet, wird in den Erläuterungen enttäuscht. Dort heißt es: „Durch den Hinweis auf die sozialen Dienste sollen die Fälle erfasst werden, in denen derartige Dienste eingerichtet wurden, um bestimmte Leistungen sicherzustellen; dies bedeutet aber keineswegs, dass solche Dienste eingerichtet werden müssen, wo sie nicht bestehen.“ Wurtz vermutete, dass die „Erklärung betreffend der Erläuterung der Charta der Grundrechte“ vermutlich zahlreichen Mitgliedern des Europäischen Parlaments unbekannt sei. Zudem fehle sie in den Unterlagen, die in französischen Postämtern bereit liegen, um – dem Anspruch nach – der französischen Bevölkerung als Entscheidungsgrundlage für die Volksabstimmung zu dienen.3[3]

Was ein Europa des Kapitals für abhängig Beschäftigte und ihre Vertretungen bedeutet, veranschaulichte Rainer Einenkel (Betriebsratsvorsitzender Opel Bochum) in seinem Bericht über die jüngsten Auseinandersetzungen mit dem General Motors Management. Mit der Radikalisierung des Profit-Center-Gedankens werde der Grat zwischen dem Erhalt des eigenen Werks und der Vernichtung eines anderen immer schmaler. Einenkel schilderte, wie die Opel-Belegschaften gezwungen werden, miteinander in einer Art internem Ausschreibungsverfahren um den Erhalt von Produktionskapazitäten zu konkurrieren. Bei Überkapazitäten und der zunehmenden Möglichkeit, die Produktion zu anderen Werken zu verlagern (angestrebt werde, dass alle Opel-Werke in Zukunft alle Typen bzw. Teile fertigen können), gelänge es dem Management in erheblichem Umfang, den Beschäftigten Zugeständnisse abzuringen. Einenkel forderte, der neuen Schärfe der Auseinandersetzung und einem ruinösen „Häuserkampf“ auf der betrieblichen Ebene durch flexiblere Gegenmaßnahmen in der Auseinandersetzung und eine angemessene Ausgestaltung von Flächentarifverträgen (sowie letztlich auch von europäischen Regelungen) entgegenzuwirken.

Hans-Jürgen Urban (Leiter des Funktionsbereichs Gesellschaftspolitik/Grundsatzfragen beim Vorstand der IG Metall) skizzierte nach einer Analyse der europäischen Integration als einem in erster Linie neoliberalen Projekt weitere Handlungsfelder, über die ein Beitrag für ein Europa mit „soviel sozialer Gerechtigkeit wie möglich und soviel Wettbewerb wie nötig“ geleistet werden könne. U.a. ginge es um eine wachstumsorientierte Geldpolitik, eine stärkere steuerliche Entlastung unterer und Belastung hoher Einkommen, eine politische Regulierung von Wettbewerb, die einen „Dumping-Wettbewerb“ verhindere und eine Unternehmens- und Betriebsverfassung, die mehr Mitbestimmung ermögliche. Die EU-Mitgliedstaaten sollten einen Wettbewerb um die besten sozialen Standards statt um die weitestgehende Deregulierung führen. Bei allen politischen Entscheidungen und Reformen seien dabei die Konsequenzen für Länder außerhalb der EU zu bedenken. Urban wies darauf hin, dass es wichtig sei, eine „sozialpartnerschaftliche“ Einbindung der Gewerkschaften in die weitere Ausgestaltung des neoliberalen Projekts zu verhindern. Wie stark die Einbindung allerdings vorangeschritten ist, veranschaulichte ein bei der Veranstaltung ausliegender DGB-Aufruf zur Teilnahme an einer Demonstration für ein soziales Europa am 19. März 2005 in Brüssel. Dort hieß es: „Wir nehmen die Europäische Verfassung beim Wort: Das Prinzip muss Soziale Marktwirtschaft heißen.“ Mit solchen Schritten bekommt man vielleicht einen Fuß in die Tür. Es ist aber fraglich, ob sie damit einen Spalt breit für ein anderes, sozialeres Europa geöffnet bleibt.

1[4] Vgl. im Gegensatz dazu die Debatte zur Verfassung für die Europäische Union im Bundestag, in der bei den Rednern die Auffassung überwog, dass die europäische Integration vor dem Hintergrund der schrecklichen Kriege der Vergangenheit und der gegenwärtigen Herausforderungen überwiegend unkritisch als Fortschritt gewürdigt wurden (160. Sitzung des 15. Deutschen Bundestages am 24.2.2005; s. dazu Das Parlament Nr. 9/10 v. 28.2./7.3.2005).

2[5] Amtsblatt der Europäischen Union, C 310/438 ff. DE 16.12.2004.

3[6] Die Erläuterung fehlt auch in dem in der Bundesrepublik Deutschland für mehr als 50 € verkauften Verfassungsentwurf. (Hoffentlich) vollständig wurde er im Amtsblatt der Europäischen Union C 310 DE vom 16.12.2004 veröffentlicht, das über die Internet-Seiten der Europäischen Union (www.eu-int[7]) kostenlos heruntergeladen werden kann.

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