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Uwe-Jens Heuer: Marxist und Jurist in zwei deutschen Staaten

Dezember 2004

Im Streit für den Sozialismus

Das im November 2001 fertiggestellte Buch „Im Streit“ von Uwe-Jens Heuer lässt sich nur schwer den üblichen Textsorten zuordnen. Es ist zwar die Biographie eines Wissenschaftlers und Politikers; von anderen Politikerbiographien unterscheidet es sich aber beträchtlich. Die persönliche Lebensgeschichte und die damit verbundene allgemeine Geschichte des politischen Geschehens sowie der politischen Theorien und Ideologien werden nicht, wie so oft, eigenverliebt und eigenzentriert dargestellt. Sehr fern liegt Heuer auch, seine Leser und Leserinnen z. B. mit dem „langen Lauf zu sich selbst“ und dem Schwinden seiner Fettzellen zu behelligen. Dem Privaten und Persönlichen kommt in dem Werk des 1927 geborenen Heuers eine, abgesehen von der Jugendzeit, derart marginale Rolle zu, dass es schwer fällt, überhaupt von einer Biographie im eigentlichen Sinn zu reden. Für Heuer ist seine Biographie lediglich der rote Faden, um allgemeine Grundfragen der marxistischen Philosophie und Ideologie, des Rechts und der politischen Entwicklung in den beiden deutschen Staaten in ihrer Verknüpfung mit den je eigenen Erkenntnisinteressen und konkreten politischen Zielsetzungen zu verfolgen.

Heuer hatte als Professor und Akademiemitglied in der DDR einfluss- und einblickreiche Positionen inne und war später auch unmittelbar politisch tätig als Mitglied der Volkskammer und über zwei Legislaturperioden hinweg als Mitglied des Bundestages; so liest sich das Buch auch in vieler Hinsicht als juristische und politikwissenschaftliche Abhandlung zur Geschichte der DDR und einer bestimmten Periode der BRD. Eine Gesamtdarstellung der Geschichte der DDR oder der BRD ist aber keineswegs intendiert, vielmehr dient die Lebensgeschichte der Strukturierung von Darstellung und Analyse.

Auch Titel und Untertitel des Buches sind nicht ganz zutreffend. „Im Streit“ befand sich Heuer zwar eigentlich immer, denn der ist kein Wissenschaftler, der sich nicht auch im engagierten und mitunter heftigen wissenschaftlichen Meinungsstreit befindet und streitbar muss jeder politisch Handelnde sein, der für Veränderungen in Gesellschaft und Staat kämpft. Aber vom üblichen Politikerstreit um Macht und Einfluss, persönliches Prestige und persönlichen Vorteil war Heuer ebenso weit entfernt wie vom Streit jener eitlen Wissenschaftler, die nicht nach der Wahrheit suchen, sondern mit ihrem Wissen und ihrer Formulierungskunst glänzen wollen und bestrebt sind, mittels Zitatkartellen und Seilschaften durch Stellenbesetzung ihren Einfluss in den Wissenschaftsorganisationen und in den Stiftungen der Großkonzerne zu mehren; die sich also emsig bemühen, die These von Marx, dass die herrschenden Ideen die der Herrschenden seien, stets aufs Neue empirisch zu belegen.

Heuer konnte sich zwar hervorragend streiten – er war z.B. bekannt als Zwischenrufer im Bundestag, der nicht nur den Nagel auf den Kopf, sondern auch manch empfindliche Stelle seines Kontrahenten zu treffen wusste – aber nicht der Streit, vielmehr die Suche nach der richtigen Erkenntnis und der richtigen Politik sind kennzeichnend für die Auseinandersetzungen, die er nie scheute.

„Ein Jurist in zwei deutschen Staaten“, so lautet der Untertitel und auch hier untertreibt Heuer ein wenig. Jurist war und ist Heuer gewiss und ein bekannter und bedeutender auch, das wird niemand leugnen. Aber Heuer ist und war stets Marxist und zwar marxistischer Jurist und als solcher notwendigerweise Gesellschaftswissenschaftler; er war Wirtschaftsjurist in der DDR und somit zugleich auch zum guten Teil Wirtschaftswissenschaftler und schließlich war und ist er nicht zuletzt Politiker. Vor allem aber war er nicht nur Marxist in der DDR, sondern ist auch in der BRD Marxist geblieben. „Ein Marxist in zwei deutschen Staaten“, also und damit etwas recht Seltenes und Besonderes. Wer in der DDR wichtige Positionen im Wissenschaftsbetrieb innehatte, war selbstverständlich Marxist – oder maskierte sich als solcher – aber auch in der BRD Marxist zu bleiben, als Scharen von Wendehälsen in alte westliche oder in neu gerodete östliche Saatfelder einfielen, ist durchaus ungewöhnlich.

Der Marxist und die Politmacher

Heuers Weg zu Marx, von dem er nie abgeirrt ist, wurde ihm als Jugendlicher durch die antikommunistische Schrift eines Bischofs gewiesen, dessen Wort also auf sehr fruchtbaren Boden fiel; zwei Schriften wurden dort als wesentlich für den Marxismus bezeichnet: Das kommunistische Manifest und die Schrift Stalins über dialektischen und historischen Materialismus. Seine Entscheidung für den Sozialismus und den Osten als Antwort auf Faschismus und Krieg wurde durch diese Schriften maßgeblich gefestigt.

Heuer beschreibt und analysiert sehr klar und sachlich und stets selbstkritisch die politischen, ideologischen und persönlichen Voraussetzungen und Umstände seiner wissenschaftlichen Karriere und gibt damit zugleich einen sehr informativen Einblick in den Wissenschafts- und Universitätsbetrieb der DDR. Die einzelnen Stationen seiner wissenschaftlichen Laufbahn können hier nicht aufgezeigt werden, noch können seine Erkenntnisse, Urteile und Einschätzungen zu den gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Verhältnissen und deren Entwicklung im Detail nachgezeichnet werden. Auf einige Problemkomplexe sei jedoch hin gewiesen, weil sie aktuell sind und weiterhin kontrovers diskutiert werden.

Bei der Analyse der Bedeutung und der Folgen des XX. Parteitags der KPdSU teilt Heuer die Meinung derer nicht, die behaupten, der Parteitag habe zur Selbstentwaffnung vieler marxistisch-leninistischer Parteien geführt und die Entspannungspolitik der fünfziger Jahre sei gleichbedeutend mit „der Einführung des Opportunismus in der Politik“ (Sarah Wagenknecht) gewesen. Heuer hielt es für erforderlich, eine Änderung der Politik vorzunehmen und von Dogmen der Stalinära Abschied zu nehmen, um unter veränderten Verhältnissen das Ziel, die sozialistische Gesellschaft, besser erreichen zu können.

Ein weiteres neuerdings wieder diskutiertes politisches Ereignis war die rechtswissenschaftliche Konferenz in Babelsberg 1958, bei der es auch um die Interpretation und die möglichen Auswirkungen des XX. Parteitags ging. Auch Heuer wurde dort gemaßregelt und als Mitarbeiter zum staatlichen Vertragsgericht in Berlin abgeordnet, was er nachträglich als Glück ansieht, weil er von der Wissenschaft in die juristische Praxis überwechseln konnte. Bei der Einschätzung der Bedeutung der Babelsberger Konferenz widerspricht Heuer der 1995 von K. A. Mollnau aufgestellten These, bei ihr sei es wesentlich darum gegangen, die persönliche Alleinherrschaft Walter Ulbrichts weiter auszubauen, vielmehr sei es um grundlegende ideologische Fragen gegangen.

Nach zwei Jahren konnte Heuer an die Universität zurückkehren und zwar als Dozent für den neuen Wissenschaftszweig Wirtschaftsrecht, seinem neuen und bleibenden Arbeitsschwerpunkt. Das 1963 eingeführte „Neue ökonomische System der Leitung der Volkswirtschaft und der Planung“ wurde von ihm begrüßt; ihn interessierten vor allem die demokratietheoretischen und juristischen Konsequenzen dieses Reformversuchs, mit dem die alten, administrativen Wirtschaftsmethoden und der Ressortgeist überwunden werden sollten. Walter Ulbricht stellte die Forderung auf, die Werktätigen müssten, wenn sie für den gesellschaftlichen Nutzen arbeiten, zugleich ihre eigenen, persönlichen Interessen verfolgen können und erklärte es für falsch, anzunehmen, die fehlende Berücksichtigung der materiellen Interessiertheit könnte durch Appelle an die Moral oder das ideologische Bewusstsein überbrückt werden; insgesamt müsse das Ziel eine stärkere Orientierung auf die wissenschaftlich-technische Revolution sein. Ulbricht erkannte, so Heuer, sehr klar, dass nur durch die Erhöhung der Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit der Wettbewerb mit den kapitalistischen Staaten gewonnen werden könne. Die materielle Interessiertheit müsste aber auch durch die Befriedigung des Interesses an Selbst- und Mitbestimmung in Betrieb und Gesellschaft ergänzt werden, wie Heuer in mehreren Schriften verdeutlichte. Der Abbruch dieses Reformprojektes in der Ära Honecker war ihm deshalb zugleich der Beginn des Niedergangs und der Konkurrenzunfähigkeit mit dem Westen.

Die Zeit danach wird denn auch im Kapitel mit der Überschrift „In der Sackgasse“ zusammengefasst. Das Ende des NÖS war für Heuer eine große Enttäuschung und es war nun schwer für ihn, seine Erkenntnisse zu verteidigen, insbesondere die über die Funktion des Rechts im Zusammenhang mit dem Wirken der objektiven Gesetze einer Gesellschaft ohne Privateigentum an den Produktionsmitteln. Man gewinnt immer wieder aufschlussreiche und interessante Einblicke aus der Sicht eines Insiders in den Wissenschafts- und Politikbetrieb dieser Ära. Auch psychologisch und soziologisch ist Heuers knappe, aber treffende Charakterisierung von Personen und Ereignissen oft höchst aufschlussreich.

Vom Recht im Sozialismus

Eines der Ergebnisse der Beschäftigung mit dem Wirtschaftsrecht war die 1982 erschienene Schrift „Recht und Wirtschaftsleitung im Sozialismus“, ein Werk, das nicht nur von historischem Interesse ist. Es gibt auch Anlass zu fragen, wie wohl die Geschichte der DDR verlaufen wäre, hätte es mehr Wissenschaftler, Politiker und Leiter von dem Mut und der analytischen Kraft eines Heuer gegeben.

Das Buch hat den Untertitel „Von den Möglichkeiten und von der Wirklichkeit des Rechts“. Wie sich aus dieser Formulierung ergibt, handelt es sich in diesem Teil des Buches, eher etwas verborgen von dem Haupttitel, um eine rechtstheoretische Abhandlung, die wieder einmal beweist, dass nichts so praktisch ist, wie eine gute Theorie. Gefragt wird in dieser philosophischen und juristischen Abhandlung wie der sozialistische Überbau, speziell das Recht, den Aufbau des Sozialismus unterstützen kann.

Obwohl somit gedacht als Grundlegung für die anschließende konkrete Analyse von Bedeutung und Funktion des Rechts für die sozialistische Wirtschaftsleitung, handelt es sich um einen konzentrierten, fundierten Grundlagentext der marxistischen Rechtstheorie, der als solcher bislang nicht angemessen wahrgenommen wurde. Den Überbau, insbesondere den rechtlichen Überbau betrachtet Heuer als einen eigenen Bereich, der zwar von der Basis bestimmt wird, „aber auch eigene abgeleitete Gesetzmäßigkeiten aufweist, die auf seiner eigenen Struktur, seinen inneren Widersprüchen beruhen“.

Die Basis der Produktionsverhältnisse ist also nicht nur bestimmend für den Überbau „sie bedarf auch seiner und könnte ohne ihn gar nicht als Basis existieren“. Die Funktion, die Basis zu stabilisieren, ihren Widersprüchen eine Bewegungsform zu geben und ihre Entwicklung zu organisieren, kann das Recht nur erfüllen, wenn es eine reale, relativ selbstständige Existenz besitzt und weder bloße passive Widerspiegelung der Basis noch ideologischer Schein ist; beides Positionen, die notwendigerweise zum Rechtsnihilismus führen.

Das Recht wird von Heuer als objektiv existierende, wirkende gesellschaftliche Erscheinung erkannt und erst diese Erkenntnis ermöglicht es, die dem Recht je eigenen Widersprüche zu bestimmen. Mit diesem Ansatz gelingt es Heuer, die Bedeutung der Rechtsnorm als „Zentralkategorie“ zu erfassen, den Zwangscharakter des Rechts herauszuarbeiten und auch einige Erkenntnisschneisen in die ausgeuferte und höchst scholastisch betriebene Diskussion über die Begriffe der materiellen und der ideellen Verhältnisse zu schlagen. Die Betonung der Eigenständigkeit der Rechtsnormen führt hinsichtlich der Planung in der DDR zu der wichtigen Unterscheidung der Tätigkeit des Staates, z. B. als Eigentümer unmittelbar bei der planmäßigen Wirtschaftsleitung und seiner Tätigkeit bei der Setzung und Durchsetzung des Rechts, insbesondere des Wirtschaftsrechts.

Mit diesen Buch hatte sich Heuer in der Tat in den Streit begeben und nach Meinung vieler der „unzulässigen Eingriffe in Ökonomie und Philosophie“ schuldig gemacht. Darüber berichtet er ausführlich; eine wenig erfreuliche Lektüre nicht nur im Lichte der weiteren Entwicklung.

Die relative Eigenständigkeit des politisch rechtlichen Überbaus gewinnt nach Heuer in Zeiten des Umbruchs besondere Bedeutung. Es geht um das Bedürfnis des Volkes nach eigener Herrschaft, um sein Verhältnis zum eigenem Staat, der aber immer Staatsapparat bleibt und somit ein Gebiet des Zwanges, es geht also um die Frage der Demokratie im Sozialismus.

Kein Sozialismus ohne Demokratie, keine Demokratie ohne Sozialismus

„Marxismus und Demokratie“ ist das Werk, mit dem Heuer hoffte, den Sozialismus durch die Entfaltung der demokratischen Potentiale der sozialistischen Gesellschaft zu stärken. 1989 gleichzeitig in der DDR und der BRD erschienen, konnte es politische Wirksamkeit in der DDR nicht mehr entfalten.

Für die Ausgabe im Nomos Verlag hat Werner Maihofer ein Vorwort vorangestellt, dessen Schlusssatz lautet: „Keine Demokratie ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Demokratie, das ist die Formel einer Wechselwirkung, die über die Zukunft entscheidet.“ Nachdem es den Sozialismus nicht mehr gibt, sieht alles danach aus, dass sich die maihofersche These bewahrheitet: Um die Demokratie in den kapitalistischen Staaten steht es jämmerlich, ihre Zukunftsaussichten sind düster, der kapitalistische Markt, die „grundlegende organisierende Kraft“ (Lenin) herrscht und nicht das Volk, das weltweit dessen Gesetzen unterworfen wird.

In den ersten zwei Kapiteln gibt Heuer einen informativen, sachlichen Überblick über die Grundlagen der marxistischen Demokratietheorie und die Probleme ihrer Umsetzung in die sozialistische Praxis. Die Politik Stalins wird, soweit sie den Personenkult begründete und schwere Verletzungen der Gesetzlichkeit praktizierte, verurteilt; aber Stalin habe gegenüber seinen Gegnern recht gehabt – und konnte deshalb auch Entscheidendes zur Vernichtung des Faschismus beitragen und die Weltmachtstellung der UdSSR begründen – ,weil er davon ausging, die Entwicklung der Produktivkräfte sei der entscheidende Prozess in der sozialistischen Gesellschaft und die Verschärfung des Kampfs zwischen Sozialismus und Imperialismus beherrsche auch die Widersprüche im Inneren.

Den inhaltlichen Schwerpunkt bildet das dritte Kapitel über die sozialistische Demokratie in den 80er Jahren. Die Bedeutung des Rechts wird erneut hervorgehoben, weil die demokratische Machtausübung notwendigerweise auch rechtlich geregelte Machtausübung sei. Der juristische Positivismus und „Formalismus“, der in der DDR (und nicht nur dort!) vielfach und oft genug wissenschaftlich niveaulos und politisch desorientierend abgewertet wurde, wird von Heuer in seinem spezifischen Wert für eine marxistische Demokratietheorie gewürdigt.

Heuer wendet sich gegen die Doktrinen der Identität von Staat und Gesellschaft, von individuellen und gesellschaftlichen Interessen, von sozialistischem Staat und Demokratie. Der Wegfall des Klassenantagonismus bedeute nicht zugleich den Wegfall der sozialen Widersprüche überhaupt. Daraus ergäben sich auch die demokratischen Bedürfnisse, die ihre Befriedigung erst finden in der vollen, freien Entwicklung eines jeden Einzelnen. Die Entwicklung des Individuums sei aber, wie bereits Marx hervorgehoben habe, die größte Produktivkraft, die zugleich zurückwirke auf die Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit; deshalb sei nach Aufhebung des Privateigentums die Demokratie eine „entscheidende Potenz des Sozialismus im Wettbewerb (der Systeme), nicht minder entscheidend als die Potenz des Staates, seines Apparates.“

Diese Potenz wurde bekanntlich nicht genutzt. Heuers Thesen wurden von der herrschenden Lehre in der DDR teils mit Unverständnis, teils mit Feindseligkeit aufgenommen.

Heuer und die Politmanager

Nachdem die DDR bei-getreten worden war, wurde „der Weg des Sozialismus ... der Weg von Marx“ erst einmal gründlich zerstört – was nicht heißt, dass er nicht weiterhin eingezeichnet ist und eingezeichnet bleiben wird in den Karten der Geschichte, die ihr Ende nicht gefunden hat in dem neoliberalen kapitalistischen System, das gegenwärtig herrscht in Deutschland und der Welt.

Auch der Lebensweg Heuers nahm eine Wende; nicht dass er aufgehört hätte als marxistischer Wissenschaftler zu arbeiten, aber der Schwerpunkt seiner Tätigkeit war nunmehr für längere Zeit praktisch-politischer Art. Davon handelt der zweite Teil des Buches „Im Streit“.

Die sehr ausführliche, detailgenaue Darstellung der politischen Auseinandersetzungen und Kämpfe, in die Heuer sich begab oder in die er hineingezerrt wurde, kann nur dringend zur Lektüre empfohlen werden, um das geistige und politische Klima in der BRD kennen zu lernen. Die – zahlreichen – politischen Feinde werden ebenso wie die – wenigen – Freunde meist wörtlich zitiert; Wertungen von Personen werden nur selten vorgenommen, aber auf deren politischen Werdegang wird, soweit erforderlich, hingewiesen; so kann der Leser sich seine eigene Meinung bilden.

Aber Heuer geht es um die Sache, um den Sozialismus; allerdings wird Politik von Personen gemacht und Heuer scheut sich nicht, klar zu sagen, wer, wie, mit welchen Mitteln, mit welchen Bundesgenossen und zu welchem Zwecke Politik betreibt. Die Einblicke, die er dabei gewährt, sind oft erschreckend und deprimierend.

Das Objekt fast aller Auseinandersetzungen war die DDR und die Kapitalanalyse von Marx. So postulierte z. B. U. Briefs, das Projekt einer neuen Linken in Deutschland müsse sich aus der Kritik und der Negation der Verhältnisse in der DDR entwickeln. Dabei verband doch die gesamte „nichtorthodoxe“ Linke in allen ihren Schattierungen die radikale Ablehnung der Verhältnisse in der DDR; wäre es nur um die Kritik an der DDR gegangen, hätte es in der BRD eine viel erfolgreichere linke Politik geben müssen. Sie gab es bekanntlich nicht, im Gegenteil hat der Untergang der sozialistischen Staaten das Kapital sehr gestärkt und ihm ermöglicht, in der BRD und weltweit den Kampf gegen alle, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, zu verschärfen.

Demgegenüber kann sich nach Heuer eine linke Bewegung nur aus der Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen herausbilden. A. Brie allerdings meint, der Westen habe der PDS die „emanzipatorische Erfahrung voraus“, um diese Erfahrung beneide er viele. Da wird manches unterschlagen. Welche emanzipatorische Kraft z.B. ausgegangen sein soll von dem politischen Strafrecht, den Berufs- und Parteiverboten, den Medienkonzernen und ihrer Macht, den politischen Parteien, die wenig mehr fürchten als das Volk, das sie angeblich vertreten, der Arbeitsplatzunsicherheit, dem unerbittlichen Konkurrenzkampf, der ständig auf neue Gebiete ausgeweitet werden soll, dem Kapital, das immer stärker alle Lebensbereiche durchdringt, dem Leben an der Armutsgrenze, der Unterdrückung oppositioneller Bewegungen usw. usf. wird von ihm nicht erläutert.

Es ging bei den Auseinandersetzungen um höchst komplexe, interpretationsbedürftige Begriffe, vor allem um den des Unrechtsstaates und des Totalitarismus (die DDR sei totalitärer als der NS-Staat gewesen, jedoch so verbrecherisch wie er – nicht mehr, wie großzügig zugestanden wurde, aber also auch nicht weniger, so A. Brie), den der Menschenrechte; es ging um die Mauer, um die Schüsse an ihr und deren nachträgliche Strafbarkeit.

Über all diese Begriffe und die mit ihnen nur höchst unzulänglich bezeichneten Probleme und Sachverhalte gab es und gibt es eine wissenschaftliche, philosophische, ethische, und politische Diskussion; sie darf indes nur auf einem wissenschaftlichen Niveau geführt werden, das der Bedeutung der Probleme angemessen ist. Diese Diskussion aber wurde mit Heuer und den anderen Mitgliedern des von ihm mitbegründeten Marxistischen Forum in und außerhalb der PDS gerade nicht geführt, jedenfalls nicht in einer der Sache auch nur einigermaßen angemessenen Form. Dass seine parteipolitischen Gegner von rechts sich meist damit begnügten, ihn als Marxisten und DDR-Kumpel zu beschimpfen, erstaunt wenig. Bedrückend für den Zustand der linken Bewegung, zu der die PDS überwiegend gerechnet wird und der sie sich selbst zuordnet, ist jedoch, wie diese Begriffe und Bewertungen von PDS-Funktionären in objektiver Zusammenarbeit mit den Parteigegnern als Diffamierungs- und Totschlagskeulen gegen die innerparteilichen Gegner genutzt wurden, um sich den Weg freizukämpfen zu dem Ziel, das, obwohl unrealistisch, dennoch vorrangig war und ist: der Sitz auf der Regierungsbank und sei es mit Schröder und Fischer.

Aufschlussreich und lesenswert auch die Art und Weise, wie die Auseinandersetzungen geführt werden. Gerade diejenigen, die nicht laut genug von der Demokratie künden können, praktizierten in Wirklichkeit reichlich undemokratische Verfahrensweisen, indem sie an den Parteigremien vorbei und unter Missachtung der Verfahrensvorschriften durch Zeitungsartikel und Interviews die parteiinterne Willensbildung vorwegzunehmen versuchen, wie z.B. G. Gysi auf dem Parteitag in Münster, als er den Einsatz der Bundeswehr bei UN-Mandat durchzusetzen versuchte – um sich dann gekränkt zurückzuziehen, als die Mehrheit ihm nicht zustimmte. Für eine Geschichte des Einflusses der (ehemaligen) Mitglieder von K-Gruppen auf die bundesrepublikanische Politik, insbesondere auf die der PDS – ein Desiderat der Politikwissenschaft auch im Hinblick auf gender studies – findet man bei Heuer einiges an Material, das durchzuarbeiten, aber wenig erfreulich ist; man schlage im Namensregister nach, z.B. unter J wie Jelpke oder L wie Lederer.

Einig in der entschiedenen und bedingungslosen Ablehnung aller Gesellschaften, die, mit welchen gravierenden vermeidbaren und unvermeidbaren Fehlern auch immer behaftet, jedenfalls der Herrschaft des Kapitals ein radikales – und anders als radikal geht es nun mal nicht – Ende bereitet haben, sind sich die ehemaligen K-Gruppen Aktivistinnen und Aktivisten in der PDS und anderswo mit einer anderen Gruppierung, die ebenfalls einer genaueren Untersuchung wert wäre: Gemeint sind die Pfarrer und Synodalen; sehr nachvollziehbar, dass sich Heuer explizit gegen die pastorale Art eines Gauck wendet, Politik zu machen – eine übrigens alles andere als sonderlich rechtsstaatliche. Bemerkenswert ist, dass ausgerechnet eine ehemalige Pastorin und ehemalige Maoistin, die jetzt in Kultur macht, indem sie sich in Bayreuth dem Volk zeigt und den Abriss des Palasts der Republik, die Entschuldigung der Kultusminister bei den Schülern für die Rechtschreibreform sowie eine Quote für deutsche Lieder im Rundfunk fordert, als Vizepräsidentin des Bundestags den demokratisch gewählten Abgeordneten Heuer in einer Weise traktierte, die von einem beträchtlichem Maß an pastoral-maoistisch-grüner Unverfrorenheit zeugt.

Heuer schließt seinen Bericht über seine Arbeit im Bundestag und der PDS mit der Erkenntnis, die sein wissenschaftliches und politisches Handeln von Beginn an bestimmt hat: Der Sozialismus bleibe auf die Dauer die einzige Alternative zum Fall in die Barbarei und historisch bedeutsam sei, dass sich gezeigt habe: Eine andere, nicht vom Profit bestimmte Gesellschaft ist möglich.

In dem 3. Teil des Werkes wird Bilanz gezogen und werden einige theoretische Überlegungen zur gegenwärtigen Epoche, zu Politik, Recht und Ideologie angestellt. Dadurch wird das Buch von 458 auf über 600 Seiten erweitert und seine Lesbarkeit leider nicht erleichtert. Es wäre wohl sinnvoll gewesen, die Überlegungen zusammenfassend gegliedert und ergänzt als eigenständige Abhandlung herauszugeben.

Zum Epochenbegriff vertritt Heuer in eingehender Auseinandersetzung mit anderen Epocheneinteilungen die These, nicht die Oktoberrevolution, sondern der Ausbruch des ersten Weltkriegs sei der Beginn einer neuen Epoche gewesen. Der zweite welthistorische Umschwung fand nach ihm 1990/91 seinen Abschluss mit der Restauration der kapitalistischen Weltherrschaft auf neuem technischen, ökonomischen, sozialen und politischen Niveau. Die Hauptaufgabe linker Kräfte in der Gegenwart sieht Heuer darin, „antikapitalistisches Denken zu erhalten, die heutige Situation rückhaltlos marxistisch zu analysieren und diese Erkenntnis zu verbreiten, sich entwickelnde Gegenbewegungen zu unterstützen.“

In einem weiteren Kapitel stellt Heuer die etwas sehr komplexe Frage „Was sind Politiker für Menschen“; dazu kann er aus reicher Lebenserfahrung viel beitragen und auch Selbstzeugnisse der Politiker heranziehen. Daraus ergeben sich nicht nur allgemeine Einsichten zum Typus des Berufpolitikers, sondern auch interessante Details zur Biographie einzelner Politiker. Eine der Schlussfolgerungen Heuers lautet: „sich allein auf den Charakter der Politiker zu verlassen, ist wohl naiv“; diese Feststellung umweht allerdings selbst schon ein Hauch von Naivität.

Die in einem weiteren Kapitel gestellte Frage: „Immer noch Rechtspositivist“? wird von Heuer eindeutig mit „Ja“ beantwortet soweit es um die Interpretation und Anwendung des Rechts geht, nicht um seine Abhängigkeit von der Basis der Produktionsverhältnisse. Schon früh hat Heuer in Auseinandersetzung vor allem mit Mollnau und Klenner um die Einhaltung des Rechts auf allen Gebieten gekämpft und das Problem der Rechtsanwendung mit dem der Demokratie verknüpft. Es geht ihm um die Normativität des Rechts und die Einhaltung des demokratisch erzeugten Gesetzes, das nicht aufgrund politischer oder moralischer Erwägungen beiseite geschoben werden dürfe, wie viele auch linke Autoren es für erlaubt, wenn nicht gar für geboten hielten und halten.

Mit der Frage „Ende der Ideologie“ befasst sich das letzte Kapitel des Heuerschen Werkes. Dabei geht es u.a. auch um die Frage, inwieweit Ideologen andere Ideologen als Ideologen abwerten; ein auch für die PDS-interne Diskussion relevantes Problem. Heuer setzt sich eingehend mit den verschiedenen Begriffen von Ideologie auseinander sowie mit den in zahlreichen Varianten vertretenen Theorien vom Ende der Ideologien und ihres Zeitalters. Nach ihm gibt es kein ideologisches Vakuum. Die Frage nach der Funktion der Ideologie ist auch die nach der Funktion der Intellektuellen und des weit verbreiteten Anti-Intellektualismus. Ihr geht Heuer nach und zitiert zustimmend Bert Brecht. „Hauptsächlich in nichtrevolutionären Situationen kann eine revolutionäre Intelligenz die Revolution in Permanenz halten.“ Dieser Aufgabe hat Heuer sich gestellt.

Politische Theorie als Theorie der gesamten Gesellschaft

Auch in seiner 2004 nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag veröffentlichtem Abhandlung über „Marxismus und Politik“ will er die gesellschaftsverändernden Handlungsmöglichkeiten der Politik bestimmen. Bezugnehmend auf Wolfgang Abendroth ist für Heuer politische Theorie eine umfassende Theorie der gesamten Gesellschaft. Staat, Recht und Politik sind immer Staat, Recht und Politik einer bestimmten Gesellschaft und können nicht selbständig und unabhängig von dieser Gesellschaft existieren und agieren. Da Marx für Heuer kein „toter Hund“ ist – seine Theorie vielmehr gerade auch für die gegenwärtige Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaftswelten von hohem Erkenntniswert ist und sie, wie der Globalisierungsprozess zeigt, ihre Voraussagekraft bewiesen hat – ist die entscheidende Frage, welcher Raum denn der Politik bleibt angesichts der Entwicklungsgesetzmäßigkeiten des Kapitalismus.

Heuer hält die „prinzipielle Unterscheidung zwischen ökonomischen ‚Naturgesetzen’ und den Gesetzen des politischen Lebens bei Marx und Engels für einen zentralen Ausgangspunkt, ihr Gedankensystem zu erfassen und zu nutzen.“ Die von Marx und Engels durchgängig verwandte Begrifflichkeit von der naturgesetzlichen Entwicklung, die letztlich in der Selbstaufhebung des Kapitalismus ende, ist oft missverstanden worden; gefragt wurde dann, wozu eine politische und revolutionäre Bewegung, wenn ohnedies alles seinen gesetzmäßigen Gang gehen werde, man kämpfe schließlich auch nicht für das Aufgehen der Sonne. Heuer zitiert zur Klarstellung u.a. Adorno: „Die Naturgesetzlichkeit der Gesellschaft ist Ideologie, soweit sie als unveränderliche Naturgegebenheit hypostasiert wird. Real aber ist die Naturgesetzlichkeit als Bewegungsgesetz der bewusstlosen Gesellschaft“. Diese Bewusstlosigkeit hat Marx in seiner Analyse des Wertgesetzes und des Fetischcharakters der Ware auf ihre Ursachen zurückgeführt. Im Austausch der Waren werden diese von den Austauschenden als Werte gleichgesetzt; die Menschen „wissen das nicht, aber sie tun es“. (MEW 23, S.88) In den Austauschverhältnissen der kapitalistisch produzierten Arbeitsprodukten setzt sich die „zu deren Produktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit als regelndes Naturgesetz gewaltsam“ durch, „wie etwa das Gesetz der Schwere, wenn einem das Haus über dem Kopf zusammenpurzelt.“ (MEW 23, S.89)

Die durch Marx ermöglichte Erkenntnis der Gesetze der kapitalistischen Produktions- und Aneignungsweise hebt weder diese Gesetze auf – eben so wenig wie die Erkenntnis des Gesetzes der Schwerkraft die Schwerkraft aufhebt – noch verändert diese Kenntnis die Bewusstlosigkeit der Gesellschaft, deren Ursache diese kapitalistischen Austauschverhältnisse sind. Erst wenn aus der Kenntnis dieser Gesetze sich das gesellschaftliche Bewusstsein und der politische Wille entwickelt, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse abzuschaffen und dann die gesellschaftlich notwendige Produktion auch gemeinsam geplant und entwickelt wird, können die Menschen im vollen Bewusstsein ihrer Möglichkeiten handeln.

Bei der Vermittlung der Erkenntnisse der Klassiker und ihrer Schüler lässt Heuer in erster Linie diese selbst zu Wort kommen. Wer sich mit den Grundzügen der marxistischen politischen Ökonomie vertraut machen will, wer sich orientieren will über die Kontroversen zwischen Kautsky und Bernstein, zwischen Rosa Luxemburg und Lenin, wer sich einen ersten Einblick verschaffen will in die gegenwärtigen Kontroversen über den Zustand des kapitalistischen Systems und seine Entwicklungstendenzen, der sollte Heuers Ausführungen lesen und seinen Lektürehinweisen folgen. Aber auch, wer sich mit der marxistischen Theorie bereits befasst hat, wird viele Anregungen erhalten, wird immer wieder zum Überdenken seiner eigenen Ergebnisse veranlasst werden. Die Zusammenfassung der Ausführungen von Marx zu den Problemen des Staates und des Rechts zeigt, dass eine ausgearbeitete, widerspruchsfreie marxistische politische Theorie nicht vorliegt und die marxistische Theorie in diesem Bereich vor allem der Überarbeitung und Fortentwicklung bedarf.

Die umfassende und profunde Kenntnis der Literatur verführt Heuer nicht dazu, seine Kenntnisse und Erkenntnisse weitschweifig auszubreiten, vielmehr gelingt ihm das Einfache, das so schwer zu machen ist: höchst komplexe Probleme in unprätentiöser Form auf ihren Kern zurückzuführen. Das betrifft auch die Theorieentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die marxistische Theorie ist ihm kein Steinbruch, aus dem man sich beliebig Steine herausbricht, um sie als Wurfgeschosse gegen politische oder wissenschaftliche Gegner zu verwenden oder um mit ihnen den Sockel zu errichten, auf den man sich zur Selbsterhöhung stellt. Stets geht es Heuer um die Sache selbst und ihre bestmögliche Erfassung und Vermittlung.

Dabei wird meist auch ein Blick auf aktuelle Fragen linker Politik und Theorie geworfen. Oft auch auf die politischen Vorstellungen der PDS und auf das, was die Macher dieser Partei und ihre Wahlstrategen als marxistische Theorie ausgeben; das ist lebensgeschichtlich zwar verständlich, aber insgesamt doch etwas zu viel der Ehre für eine Partei, die mit beträchtlicher Energie recht erfolgreich daran arbeitet, sich auf das Niveau der heutigen Sozialdemokratie herunterzubringen. Auf die ausgedehnte Diskussion der siebziger Jahre in der BRD über die sogenannte Staatsableitung geht Heuer dagegen nicht ein; erstaunlich auch, dass die Staats- und Rechtstheorie der sozialistischen Staaten einer näheren Diskussion nicht für wert befunden wird. Der Sache nach mag das berechtigt sein, aber einer Begründung ist es doch bedürftig.

Die beiden letzten Kapitel sind dem Versuch gewidmet, die Epoche nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus zu charakterisieren und die Frage zu beantworten, ob die marxistische Theorie geeignet ist, diese Epoche in ihren wesentlichen Strukturen und ihren Entwicklungstendenzen zu erkennen.

Viel Anregendes und Treffendes ist in diesen Schlusskapiteln z.B. über die Internationalisierung und Globalisierung sowie über die Veränderung der Reproduktion des Kapitals enthalten, auch Zitate und Literaturhinweise die Fülle, aber die Analyse der Situation und der möglichen Handlungsziele und -strategien, die sich daraus ableiten lassen können, wurde nicht mit letzter Konsequenz und Klarheit vorgenommen.

Das Wüten des Kapitalismus oder Vom Schlürfen des Fortschritts aus den Schädeln der Erschlagenen

Heuer hat sich an vielen Stellen seines Gesamtwerks mit den Fragen der marxistischen Basis-Überbaulehre auseinandergesetzt, das kann auch gar nicht anders sein; aber eine zusammenfassende, systematische Untersuchung fehlt und doch wäre es eben diese Analyse, die Aufschluss geben könnte über das Wesen der vergangenen und der gegenwärtigen Epoche.

Die Kernfrage lautet, ob die kapitalistischen Produktionsverhältnisse nicht doch gegenwärtig immer noch diejenigen Produktionsverhältnisse sind, die dem Stand der Produktivkräfte und deren Entwicklungsmöglichkeiten entsprechen. Eine hochnotpeinliche Frage, nur unter Qualen zu beantworten. Karl Marx hat die Antwort nicht gescheut und auf die Abhängigkeit der Produktionsverhältnisse vom Stand der Produktivkräfte hingewiesen. „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“ (MEW 13, S.9).

Seit der Oktoberrevolution hat der Kapitalismus die Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit enorm gesteigert. Deshalb ist die Frage, ob das Scheitern der sozialistischen Staaten in erster Linie ihre Ursache in erster Linie nicht in den Mängeln der staatlichen Organisation und Tätigkeit, im Fehlen von Demokratie und Gesetzlichkeit sowie den vielen anderen politischen und rechtlichen Fehlentwicklungen hatte, sondern darin, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse die fortschrittlicheren waren hinsichtlich der Beherrschung der Natur durch die gesellschaftliche Arbeit – und möglicherweise heute noch sind. Andererseits gilt, was Engels vor mehr als hundert Jahren zum Problem des Fortschritts schrieb, heute in noch weit höherem Maße: „Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern dass wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und dass unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.“ (MEW 20, S.453) Für jeden Sieg über sie, räche sich die Natur an uns.

Aber dennoch haben Marx und Engels nie irgendeinen Zweifel daran gelassen, dass die Menschen Hunger, Not und Elend nur dann entfliehen, sich nur dann von der Arbeitsfron befreien und ihre Persönlichkeit frei entfalten können, wenn sie sich aus der Knechtung durch die Natur soweit wie irgend möglich befreien – aber zugleich auch aus der Knechtschaft durch das Kapital und den von ihm geschaffenen staatlichen, rechtlichen, politischen und ideologischen Überbau; vom Kapital, an das sie gekettet sind, weil sie stets auf Neue ihre Arbeitkraft zum Zweck der Mehrwerterzeugung verkaufen müssen.

Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse wurden deshalb von Marx und Engels als fortschrittliche bezeichnet, weil sie diesen Fortschritt der Produktivkräfte bewirkten. Auf höchst widersprüchliche Weise allerdings; dem Aufzeigen dieser Widersprüche ist das gewaltige Werk der Klassiker gewidmet. Aber dennoch gilt: „Die bürgerliche Periode der Geschichte hat die materielle Grundlage einer neuen Welt zu schaffen: einerseits den auf der gegenseitigen Abhängigkeit der Völker beruhenden Weltverkehr und die hierfür erforderlichen Verkehrsmittel, andererseits die Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte und die Umwandlung der Produktion in wissenschaftliche Beherrschung der Naturkräfte.“ Aber erst wenn der Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker unterworfen worden seien, „erst dann wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar aus den Schädeln der Erschlagenen trinken wollte.“ (MEW 9, S.226). Es spricht einiges für die These, dass die Eroberung der Welt durch das Kapital, dass die Umwandlung aller materieller und immaterieller Güter in Waren noch kräftig weitergetrieben werden wird und dass mit der Entwicklung der Produktivkräfte zugleich die Widersprüche des Kapitals sich vertiefen werden, ehe im Schoße dieser Gesellschaft sich dann die neue, sozialistische Gesellschaft herausbilden kann.

In dieser Situation, in der mit Hilfe der neoliberalen Ideologie das Kapital gegen alle wütet, die sich seinem Profitinteresse nicht unterwerfen, in der die einzelnen Kapitalfraktionen zum globalen Wettkampf sich aufstellen, in der Staat, Recht und Kultur neu für die Kapitalinteressen formiert werden sollen, ist unverzichtbare Voraussetzung für linke Politik die Kenntnis der von Marx und Engels aufgezeigten Gesetze und Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise. Und deshalb gilt: Heuer lesen!