Staat – Recht – Entdemokratisierung

„Im Zweifel für die Sicherheit"

Innere Sicherheit und Tendenzen des Grundrechteabbaus

Juni 2004

Zwei Nachrichten aus den letzten Wochen haben relativ wenig Beachtung gefunden, wären es aber wert gewesen, über die Grundrichtung der deutschen Innenpolitik einmal gründlich nachzudenken. Erste Nachricht: Der Spiegel meldete am 5. April 2004: „Die Fahndung nach Straftätern über das Handy entpuppt sich als Flop.“ Im Bestreben, sich als „roter Sheriff“ von niemandem rechts überholen zu lassen, hatte Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) die ans Lächerliche grenzende Idee geboren, ein Heer von „Hilfssheriffs“ anzuwerben. Diese sollten sich registrieren lassen und dann von der Polizei Fahndungsaufrufe per SMS auf ihre Handys bekommen. Dieser Auswuchs des Polizeistaats, bei dem quasi jeder Passant jeden Passanten überwacht und sich Taxifahrer oder Omnibuschauffeure als Amateurdetektive fühlen dürfen, stieß aber auf einhellige Ablehnung auch bei den Polizeipraktikern. Nur ein Polizeipräsidium machte davon Gebrauch. Sogar Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU), anerkannter Hardliner und Geistesverwandter seines Duzfreundes Schily, wollte von der SMS-Fahndung nichts wissen.

Zweite Nachricht: Das Fernsehmagazin Panorama berichtete ebenfalls Anfang April über einen weiteren Flop: Durch die nach dem 11. September 2001 durchgeführte Rasterfahndung konnte kein einziger verborgener „Terrorist“ enttarnt werden. Zwar hätten die Landeskriminalämter 8,3 Millionen Datensätze ausgewertet und bundesweit 19 000 Fälle näher geprüft. Doch als Ergebnis sei nur ein einziges Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. In das Fahndungsraster fielen unter anderem alle in Deutschland lebenden Moslems, die jünger als 40 Jahre sind und noch studieren.

Freiheitsrechte unter Vorbehalt

Die beiden Vorgänge zeigen exemplarisch, wie in Deutschland Sicherheitspolitik gemacht wird. Auf jedes aktuelle Ereignis, das als Bedrohung der inneren Sicherheit angesehen wird, reagiert die rot/grüne Bundesregierung – und das gleiche gilt für die SPD-, CDU- und CSU-Innenminister in den Bundesländern – mit hektischer Betriebsamkeit, die jedes Augenmaß vermissen lässt. Damit soll das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung bedient und vermieden werden, dass man der jeweiligen Opposition auf diesem Felde eine Angriffschance bietet. Die polizeilichen und geheimdienstlichen Machtbefugnisse werden ohne Rücksicht auf die Erfolgsaussichten und die Verhältnismäßigkeit der Mittel breitestmöglich eingesetzt. Eine Abwägung zwischen den Grundrechten der von den Eingriffsmaßnahmen Betroffenen und dem staatlichen Sicherheitsinteresse findet nicht statt oder führt im Ergebnis immer zu Schilys neuem Leitsatz: „In dubio pro securitate“. Im Zweifel für die Sicherheit.

Sogar der konservative Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Professor Hans-Jürgen Papier, mahnte in einem Interview mit der Welt am 9. April 2004: „Die maßgeblichen Freiheitsrechte stehen unter Gesetzesvorbehalt, von dem der Staat bereits mannigfaltig Gebrauch macht. Wenn Sie etwa an die Zahl der Telefonüberwachungen denken, dann werden Sie feststellen, dass das Grundrecht des Fernmeldegeheimnisses bereits in erheblichem Maße eingeschränkt wird. Ich warne dringend davor, das durchaus legitime Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung zu nutzen, um Freiheitsrechte gewissermaßen schon einmal vorsorglich und über das Maß der Verhältnismäßigkeit hinaus einzuschränken.“

Dieser zarte Hinweis auf die Bedeutung der Grundrechte findet jedoch bei den führenden Innenpolitikern in Deutschland keine Beachtung. Gebetsmühlenartig werden immer neue Gesetzesverschärfungen mit immer neuen Eingriffsmöglichkeiten für die Sicherheitsorgane verlangt und meist mit Unterstützung des Bundestags und der Länderparlamente durchgesetzt. Eine die Grundrechte wahrende Gerichtsentscheidung wie das Karlsruher Verdikt zum großen Lauschangriff wird dabei nur als störend empfunden. Man kann sicher sein, dass die rot/grüne Koalition den Lauschangriff alsbald mit geringfügigen Modifizierungen der Strafprozessordnung wieder „praxistauglich“ machen wird und dass sich die Zahl der Lauschangriffe demnächst erhöhen und nicht etwa verringern wird.

Zu der gesetzlichen Aufrüstung kommt die finanzielle, personelle und technische Ausstattung der Polizeien und der Geheimdienste. Behördenchefs und Interessenverbände nutzen die Ängste in der Bevölkerung, um eigene Interessen zu artikulieren. So berief sich der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Konrad Freiberg, in der Welt vom 7. April 2004 auf die noch unveröffentlichte Kriminalstatistik. Demnach seien die allgemeinen Straftaten im vergangenen Jahr bundesweit um rund 1,4 Prozent auf 6,6 Millionen gestiegen. Die Hälfte davon machten Diebstähle aus. Bei Gewaltverbrechen sei die Zahl um mehr als drei Prozent auf über 200 000 Fälle gestiegen. Freiberg wäre ein schlechter Gewerkschafter, wenn er diese Statistik nicht für die Forderung nach mehr Personal nutzen würde. Die personell ausgedünnte Polizei müsse derzeit Kräfte aus der Bekämpfung der allgemeinen Kriminalität für die Abwehr des so genannten islamistischen Terrorismus abstellen. Somit könnten „normale Straftaten“ nicht mehr verhindert werden, zumal ständig Stellen abgebaut würden. So hat nach Angaben der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) allein Baden-Württemberg aufgrund leerer Haushaltskassen bis zu 2000 Stellen gestrichen. Die Arbeitszeitverlängerung von 40 auf 41 Wochenstunden setze noch einmal 700 Stellen frei. Außerdem würden von den 560 Polizeiposten in ländlichen Gegenden rund 200 geschlossen. Ähnliche Tendenzen gebe es in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Bayern. Die Polizeigewerkschaften verlangen, diesen Trend zu stoppen und umzukehren. Die aufgeregte Debatte um die innere Sicherheit gibt ihnen gegenüber den Finanzministern das durchschlagende Argument an die Hand, neues Personal zu bekommen.

Tendenzen des Grundrechteabbaus

Gesetzliche, personelle und technische Aufrüstung waren schon vor dem Bombenanschlag von Madrid am 11. März 2004 fester Bestandteil der deutschen Innenpolitik. Sie sind keine unmittelbare Folge der so genannten terroristischen Bedrohung, sondern in Wahrheit eine Funktion der Krise des kapitalistischen Systems. Diese Krise führt weltweit zu einem immer stärkeren Auseinanderklaffen der Schere zwischen arm und reich, zu Sozialabbau und damit zu einer Zuspitzung der systemimmanenten Widersprüche. Die logische Konsequenz ist verstärkter Widerstand gegen den immer dreisteren Sozialabbau, auch in Deutschland. Schon immer gehörte es zu den Reaktionsmustern des Kapitalismus, darauf mit einer Militarisierung der Außenpolitik und einer Verschärfung der Repression nach innen zu reagieren. Ereignisse wie der 11. September 2001 oder der 11. März 2004 liefern dafür eine zusätzliche Scheinlegitimation. So zeigt eine genaue Analyse, dass der Grundrechteabbau, wie er nach dem 11. September 2001 in großem Stil durchgeführt worden ist, weit vor dem 11. März 2004 fortgesetzt werden sollte, also lange bevor mit Bombenanschlägen in Europa ernsthaft gerechnet worden ist. Hierzu einige Beispiele:

Ende Dezember 2003 wurde bekannt, dass nach einem der Innenministerkonferenz vorliegenden Konzept alle Kraftfahrzeuge durch Videokameras erfasst werden sollen, die an den Autobahnen installiert werden. Die Kfz-Kennzei­chen sollen dann automatisch mit den polizeilichen Fahndungscomputern verglichen werden. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar warnte in einer Erklärung vom 30. Dezember 2003, es werde nicht dabei bleiben, mit dieser Technik gestohlene Pkw’s aufzuspüren. Wenn eine solche Infrastruktur erst einmal geschaffen sei, wären künftig weitergehende Eingriffe möglich, etwa die Erstellung von Bewegungsbildern und damit eine lückenlose Überwachung politisch missliebiger Personen. Solche Bedenken werden nach dem 11. März mit leichter Hand übergangen. In mehreren Bundesländern (Hessen, Bayern, Thüringen, Niedersachsen) wird bereits an der gesetzlichen Umsetzung dieser Variante des „Big Brother“ gearbeitet.

Widerstand beim Abbau von Bürgerrechten vernimmt man von den Justizministerien – eigentlich nach ihrer Aufgabe Wächter des Rechtsstaates – so gut wie nie. Aber auch im Bundestag hat sich die Konstellation zum Nachteil der Bürgerrechte verändert. Die Grünen sind seit 1998 selbst Teil der Bundesregierung und fallen seither als kritisches Korrektiv weitgehend aus. Oft genug segnen sie ab, was in Wahrheit in einer informellen großen Koalition von Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) und der CDU/CSU (unter Federführung des bayerischen Innenministers Günther Beckstein) vereinbart worden ist. So wurden mit den „Antiterrorpaketen“ Schily I und Schily II tiefe Einschnitte in die Grundrechte beschlossen. In Schily I wurde das „Religionsprivileg“, das vor Vereinsverboten geschützt hat, aufgehoben, um missliebige Ausländer leichter zu kriminalisieren und abzuschieben. Schily II brachte den Geheimdiensten zusätzliche Befugnisse wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Sie dürfen legal nahezu unbegrenzt das Fernmelde- und Postgeheimnis brechen und haben nun zusätzlich Zugriff auf Bankkonten und Flugpassagierlisten. Rechtsschutz dagegen gibt es kaum, weil der Betroffene nicht benachrichtigt werden muss, wenn sonst der Zweck der geheimdienstlichen Maßnahme gefährdet wäre. Vor allem aber dürfen so gewonnene Daten in weitaus größerem Maße als in der Vergangenheit an die Polizei weitergegeben werden. Das bedeutet in der Praxis, dass das Trennungsgebot von Geheimdiensten und Polizei unterlaufen wird. Die Polizei bekommt jetzt auf diesem Umweg Erkenntnisse, die sie mit rechtsstaatlichen polizeilichen Methoden nicht erlangen würde. So werden die aus guten Gründen zum Schutze der Bürger eingeführten Beschränkungen polizeilichen Handelns in den Polizeigesetzen umgangen. Die Grünen haben all dem zugestimmt. Sie sind regelmäßig damit zufrieden, dass sie Befristungen neuer Gesetze erreichen. Dabei handelt es sich um nichts anderes als Beruhigungspillen, denn einmal beschlossene Verschärfungen werden selten später wieder zurückgenommen. Daran ändert auch die häufige Forderung der Grünen nach „Evaluierungen“ (also Überprüfung, was Gesetze in der Praxis bewirkt haben) nichts. Jüngstes Beispiel hierfür sind die verdachtsunabhängigen Kontrollen durch den Bundesgrenzschutz. Vor der Bundestagswahl 1998 hatten die Grünen als Oppositionspartei gegen diese – aus dem preußischen Polizeirecht von 1850 entlehnten – neuen polizeilichen Befugnisse gestimmt. Als Regierungsfraktion stimmten die Grünen für eine Verlängerung um weitere fünf Jahre und gaben diese Befristung als politischen Erfolg aus. Tatsächlich glauben sie selber nicht, dass die verdachtsunabhängigen Kontrollen jemals aus dem Bundesgrenzschutzgesetz wieder gestrichen werden, zumal auch die Länderpolizeien längst die Befugnis zur verdachtsunabhängigen Schleierfahndung erhalten haben.

In Anbetracht der schwach ausgeprägten parlamentarischen Kontrolle wagt es die Bundesregierung sogar, bei Polizeieinsätzen ganz auf gesetzliche Grundlagen zu verzichten. Im letzten Jahr ergab sich daher die bisher einmalige Situation, dass ein Auslandseinsatz des Bundesgrenzschutzes ohne rechtliche Legitimation durchgeführt wurde. Mitglieder der BGS-„Eliteeinheit“ GSG- 9 wurden in den Irak entsandt, obwohl dies gesetzlich nicht zulässig war. Wenn es dann zu Todesfällen kommt und öffentliche Kritik einsetzt, wird eben nachträglich das BGS-Gesetz den politischen Bedürfnissen angepasst.

Bei Vorhaben der Europäischen Union (EU) fehlt es ohnehin an einer wirksamen kritischen Öffentlichkeit. Die Justizpolitik wird seit dem Amsterdamer Vertrag von 1999 schrittweise immer mehr in die Zuständigkeit der Europäischen Union überführt. Dort entscheiden in geheimen Sitzungen Justiz- und Innenminister der EU-Mitgliedsländer über tiefe Einschnitte in traditionelle Grundrechte. So war seinerzeit das allgemeine Erstaunen groß, als den Polizeibeamten von Europol Immunität für im Amt begangene Straftaten eingeräumt wurde – ein in der deutschen Rechtskultur undenkbarer Vorgang. Das jüngste Beispiel für den Abbau von Verfahrensrechten ist der EU-Haftbefehl. Er erleichtert die Auslieferung in andere EU-Staaten, ohne dass die bisher hierfür geltenden rechtsstaatlichen Schranken eingehalten werden müssen. Hiergegen äußerten etwa die Anwaltsverbände massive rechtsstaatliche Bedenken. Denn es kann künftig passieren, dass ein Beschuldigter in ein anderes Land ausgeliefert wird, obwohl er dort nicht dieselben Verfahrensrechte wie in Deutschland hat, etwa das Recht auf sofortige Beiziehung eines Verteidigers. Bürgerrechtsorganisationen forderten daher, vor Einführung des EU-Haftbefehls erst einmal die Verfahrensrechte anzugleichen, damit überall derselbe rechtliche Standard zugunsten des Beschuldigten gewahrt wird. Ein „Grünbuch“ der EU-Kommission hierfür ist sogar schon in Vorbereitung und man hätte dieses Grün­buch ohne weiteres noch abwarten können. Nach Madrid versprachen aber Schily und Justizministerin Brigitte Zypries (SPD), dass auch Deutschland den Europäischen Haftbefehl sofort umsetzen werde (Pressemitteilung vom 19. März 2004). Weiterer Widerstand wird erfolglos sein.

Ein massiver Abbau von Grundrechten läuft auch allenthalben in den Bundesländern. Seit dem CDU-Wahlsieg in Niedersachsen im Januar 2003 brüstet sich Innenminister Uwe Schünemann damit, das schärfste Polizeigesetz Deutschlands durch das Parlament gebracht zu haben. Aber auch die einzige sozialliberale Koalition, nämlich die Landesregierung von Rheinland-Pfalz, plant mit einem neuen Polizeigesetz die Ausdehnung der heimlichen Überwachung mit Videokameras, Wanzen und Richtmikrofonen. Klassische polizeiliche Aufgabe ist die Abwehr konkreter gegenwärtiger Gefahren. Telefonkontrollen und Lauschangriffe sind bisher auf diese Zwecke beschränkt. Nun sollen diese polizeilichen Überwachungsmethoden darüber hinaus auch für die Bekämpfung künftiger Straftaten eingesetzt werden dürfen. Die Definition einer „künftigen Gefahr“ ist naturgemäß vage und kaum abgrenzbar. Daher sind bei einem solchen Grundverständnis der Polizeiarbeit Überwachungsmaßnahmen nahezu schrankenlos möglich. Vorbeugendes (!) Filmen und Belauschen ist dann erlaubt gegenüber Personen, die möglicherweise irgendwann Straftaten begehen könnten. Damit nicht genug: „Vorbeugende“ Telefonüberwachung und großer Lauschangriff erstrecken sich nicht nur auf Verdächtige, sondern auch auf deren Kontakt- und Begleitpersonen und das Umfeld. Dies ist eine Abkehr von grundlegenden Prinzipien des Rechtsstaates. Der Staat beschränkt sich nicht mehr auf die Verfolgung von Straftaten und die Abwehr konkreter gegenwärtiger Gefahren. Er dehnt seine Tätigkeit immer mehr ins Vorfeld aus. Der Eingriff ohne konkreten Anlass, die Überwachung auch unverdächtiger Personen wird mehr und mehr Thema polizeilichen Handelns.

Diese schon bestehende Tendenz hat sich nach Madrid verstärkt. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) gibt die Marschroute vor. Man möchte so viel wie möglich an „Vorfeldinformationen“ gewinnen. Schily im ZDF: „Diese islamistischen terroristischen Gruppierungen wählen in der Mehrzahl der Fälle so genannte ‚weiche Ziele’. Diese können wir unmöglich alle schützen. Also kommt es darauf an, dass wir den Tätern zum frühest möglichen Zeitpunkt auf die Spur kommen.“ (ZDF-Morgenmagazin vom 15.3.2004)

Schilys Ankündigung heißt nichts anderes, als dass das gesamte Arsenal von geheimdienstähnlichen Methoden der Polizei enorm verstärkt werden wird. Der große Lauschangriff, Telefonüberwachungen, Schleierfahndung, Einsatz verdeckter Ermittler, Rasterfahndung werden mit der Begründung gerechtfertigt werden, dass man es nicht zu Anschlägen kommen lassen dürfe. Damit verwischen sich die rechtsstaatlichen Grenzen für Polizeihandeln. Denn wenn nicht mehr an konkrete Straftaten oder konkrete Planungen von Straftaten angeknüpft wird, sondern schon das „Vorfeld“ polizeilich durchleuchtet wird, gibt es kaum nach klar abgrenzbare Schranken für die polizeilichen Eingriffe in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger. Diese Befugnis für Vorfeldermittlungen wollte das Bundeskriminalamt schon nach dem 11. September 2001. Das war damals noch nicht durchsetzbar. Heute muss man befürchten: Die Zeit scheint reif dafür zu sein, dass alle rechtsstaatlichen Dämme brechen werden.

Internationale Informationsvernetzung

Das nächste Zauberwort ist die europaweite Zusammenarbeit. Bisherige Einschränkungen für die Verwendung und Weitergabe von Daten werden dann nicht mehr gelten. Schilys Äußerungen in dem zitierten Fernsehinterview (ZDF-Morgenmagazin, 15.3.2004) lassen nichts Gutes ahnen: „Wir müssen uns auch in Europa stärker vernetzen, einen stärkeren Informationsverbund zu Stande bringen. Dazu gehört beispielsweise ein Vorschlag von mir, den ich schon vor längerer Zeit gemacht habe, dass wir allen Mitgliedstaaten den Zugang zu den gentechnischen Spuren eröffnen oder auch zu den Fingerabdruckdateien, die die jeweiligen Staaten haben, dass wir aber auch bei unseren Diensten, den Inlandsnachrichtendiensten, aber auch den Auslandsnachrichtendiensten, eine stärkere Verzahnung der Informationen haben. Da kommt es auch auf die Schnelligkeit der Informationen an. Da ist durchaus noch einiges verbesserungswürdig.“ Keine Rede ist davon, wer eigentlich den Datenfluss kontrolliert, welchen Rechtsschutz der einzelne Bürger gegen unberechtigte Aufnahme in die diversen Dateien haben soll und wie denn das Trennungsgebot von Polizeien und Geheimdiensten gewahrt werden soll, wenn alle untereinander alle Daten austauschen.

Die Datenschützer haben ohnehin derzeit einen schweren Stand, trotz der erfolgreichen Verfassungsklage gegen den Lauschangriff. Nur gelegentlich und vorübergehend entfaltet die Rechtsprechung eine retardierende Wirkung. So müssen nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. Oktober 2003 Benutzer von Mobiltelefonen mit Prepaid-Karten ihre Identität beim Kartenkauf nicht preisgeben. Es ist zu erwarten, dass der Gesetzgeber dies bald im Sinne der Polizeiinteressen korrigieren wird. Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Klaus Jansen, hat bereits heftig kritisiert, dass die Politik den Ermittlern nicht das erforderliche kriminalistische Handwerkszeug zur Verfügung stelle (Welt vom 7. April 2004). Bei ethnisch und religiös abgeschotteten Gruppen könne die Polizei nur erfolgreich sein, wenn sie verdeckte Methoden anwenden dürfe. Von zentraler Bedeutung für die Ermittlungen seien die Prepaid-Handys. Diese Mobiltelefone seien in Madrid zu Bombenzündern umgebaut worden. Die Daten über die Kartenbesitzer führten laut Jansen zu den Tätern. Einen Fahndungserfolg wie in Madrid hält Jansen wegen der Rechtslage in Deutschland aber für nahezu ausgeschlossen. Schon verlangt die CDU/CSU bei der Novelle des Telekommunikationsgesetzes eine Vorschrift, die die Registrierung der Handy-Käufer erlaubt. Im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat wird Rot/Grün auch hier nachgeben. Wer will sich schon nachsagen lassen, dass er Fahndungserfolge behindere?

Erfolglos agieren die Datenschützer auch innerhalb der EU. Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung verlangen die USA seit Monaten von den Fluggesellschaften die Übermittlung einer Vielzahl von persönlichen Daten der Reisenden. Das geht von üblichen Angaben wie Geburtsdaten und Passnummer über die präzise Ausforschung der Reisetermine und Reisezwecke bis hin zur Angabe der Kreditkartennummern. Seit Monaten bemühen sich Datenschützer auf der europäischen Ebene, diesem Ansinnen der US-Sicherheits­be­hörden Widerstand entgegenzusetzen. In einer einstimmigen gemeinsamen Erklärung brachten sie ihre Sorge zum Ausdruck, dass die Übermittlung von Passagierdaten den Anforderungen der EG-Datenschutzrichtlinie nicht entspreche.

In der Erklärung vom 29. Januar 2004 heißt es: „Hier geht es um private Daten, die für gewerbliche Zwecke erhoben worden und in den Datenbanken und den damit verknüpften Reservierungssystemen von Fluggesellschaften erfasst sind, die Flüge von der EU nach den oder durch die USA anbieten. Dass diese privaten Daten an eine staatliche Behörde weitergegeben werden, indem der Behörde Zugriff auf derartige Systeme ermöglicht wird, ist beispiellos in den Beziehungen zwischen der EU und den USA und stellt eine Abweichung vom Datenschutzgrundsatz der Zweckbindung dar.“ Die EU-Kommission ist jedoch in dieser Frage gegenüber den USA eingeknickt und ignorierte die Bedenken. Noch mehr: Neuerdings verlangen die USA auch von Reisenden aus Deutschland Fingerabdrücke und Gesichtsfotografie. Zu einer gemeinsamen Verhandlungsposition, mit der man diese Zumutung hätte verhindern können, war die EU nicht in der Lage. Das wundert einen auch nicht, wollen doch maßgebliche Mitglieder der EU-Innenministerkonferenz wie Otto Schily selbst die Einführung weiterer biometrischer Daten in den Reisedokumenten vorantreiben. Ihnen kommt es sogar zugute, sich auf die USA berufen zu können, da diese hier wie auch sonst innerhalb der kapitalistischen Welt den Ton angeben. Verlangen die USA biometrische Merkmale, werden die Europäer diese Forderung erfüllen und selbst übernehmen.

„Sicherheitsfrage“ und innere Aufrüstung

Über die stärkere Verzahnung von Informationen wollen viele deutsche Innenpolitiker noch deutlich hinausgehen. Sie fordern einen massiven Ausbau des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Köln. Dieses soll die Befugnisse der Landesverfassungsschutzämter mit übernehmen. Vor einem solchen Mammut-Inlandsgeheimdienst schützt noch am ehesten der von einigen Bundesländern stark gepflegte Föderalismus. Bayerns Innenminister Beckstein (CSU) will offenbar wie bisher die wenigen Linken und Abweichler im Freistaat durch den eigenen Verfassungsschutz überwachen lassen und hat daher solchen Plänen eine Absage erteilt, ebenso wie NRW-Innenminister Fritz Behrens (SPD).

Dagegen nehmen Schilys alte Pläne für eine „deutsches FBI“ immer mehr Gestalt an. In der aktuellen Debatte ist viel die Rede davon, die bestehenden Bundespolizeien (Bundeskriminalamt, Bundesgrenzschutz, Zollfahndung) stärker zu verzahnen. So könnte Schilys zunächst gescheiterter Versuch, das BKA in Berlin zu konzentrieren, doch noch Erfolg haben.

Nicht verstummen wollen die Rufe nach einem Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Eine besonders seltsame Variante hat der europapolitische Sprecher der Unionsfraktion, Peter Hintze (CDU), hierzu beigetragen. Die „amerikanischen Freunde“ fest im Blick hat er sich für die Schaffung einer „Nationalgarde“ ausgesprochen. „Innere und äußere Sicherheit greifen immer mehr ineinander“, sagte Hintze. „Aus diesem Grund sollte die Bundeswehr neu organisiert werden. Ein Teil für den Heimatschutz, so im Sinne etwa einer Nationalgarde, und ein Teil für das internationale Krisenmanagement. Der Teil, der für den Heimatschutz zuständig wäre, müsste in bestimmten Fällen in enger Kooperation mit der Polizei einsetzbar sein.“ (ZDF, 16.3.2004) Unverdrossen wiederholt auch der CDU-Spitzenpolitiker Wolfgang Schäuble ständig den Ruf nach Verfassungsänderungen für Einsätze der Bundeswehr im Inneren. Wenn auch viele Bürger bei dem Gedanken an Panzern vor Bahnhöfen noch schaudert, verfängt doch zunehmend Schäubles simple Argumentation, es sei nicht einzusehen, warum die Bundeswehr im Ausland Polizeibefugnisse wahrnehmen dürfe, im Inland aber denselben Schutz nicht gewährleisten solle. Statt dieser beabsichtigten Militarisierung der Innenpolitik eine klare Absage zu erteilen, hat Verfassungsgerichtspräsident Papier Verständnis gezeigt. In der Welt vom 9. April 2004 forderte er Rechtsklarheit. Es würde dem Verteidigungsminister helfen, den Befehl zum Abschuss eines entführten Passagierflugzeugs durch die Luftwaffe zu geben, wenn dies im Grundgesetz klar geregelt werde. Genau dies hat Rot/Grün ohnehin vor. Statt einem solchen Ansinnen entgegenzutreten und eine faktische Abschaffung des Grundrechts auf Leben für die betroffenen Passagiere abzulehnen, streitet die Koalition mit der CDU/CSU nur um Zuständigkeitsfragen. Demnächst wird Rot/Grün diese Form des Schießbefehls im Luftsicherheitsgesetz im Bundestag beschließen.

Damit setzt die Union ihre Strategie fort, alte Forderungen, die früher nicht durchsetzbar waren, nach Madrid neu aufs Tapet zu bringen. Als wirksamen Hebel hierfür nutzt sie die Verhandlungen zum Zuwanderungsgesetz im Vermittlungsausschuss. Die CDU/CSU weiß, dass Schily dieses Gesetz unbedingt will. Die Grünen schwanken noch, haben aber sonst bei innenpolitischen Reformen nicht viel vorzuweisen und werden daher ein Zuwanderungsgesetz als Erfolg feiern, auch wenn es längst der Abschottung dient. Daher hat die CDU/CSU gute Aussichten, ihr Ultimatum durchzusetzen, dass sie dem Gesetz nur zustimmt, wenn ihre Forderungen zu „Sicherheitsfragen“ erfüllt werden. Aus der ursprünglich geforderten „Verdachtsabschiebung“ von Ausländern ist zwar mittlerweile eine „Gefährdungsabschiebung“ geworden, was aber nichts an der Abkehr von der Unschuldsvermutung ändert. Damit Verdächtige schnell abgeschoben werden können, soll der Instanzenzug verkürzt werden. Dabei haben SPD und Union die Grünen auf ihrer Seite. Für die Grünen erklärte deren parlamentarischer Geschäftsführer Volker Beck, er begrüße Schilys Vorschläge zur vereinfachten Abschiebung „terrorverdächtiger“ Ausländer. Auch dass der Bundesinnenminister die Zuständigkeit für die Ausweisungsentscheidung erhalten soll, bezeichnete Volker Beck als grundsätzlich richtig. Schließlich sei der Plan, die gerichtliche Überprüfbarkeit auf eine Instanz beim Bundesverwaltungsgericht zu konzentrieren, ein „diskutabler Vorschlag“. So wird aus einem ehemaligen Kernstück grüner Reformpolitik, dem Zuwanderungsgesetz, in Wahrheit ein Instrument zur Demontage des Rechtsstaats.

Es ist ein schwacher Trost, dass weitere Ungeheuerlichkeiten (noch) abgewehrt werden. Unionspolitiker hatten Schily aufgefordert, das Völkerrecht im Zuge der Terrorismusbekämpfung zu verändern. Er solle „die erforderlichen supranationalen Schritte zur Lockerung des absoluten Abschiebeschutzes nach der Europäischen Menschenrechtskonvention einfordern“, damit „kriminelle Extre­misten“ letztlich auch abgeschoben werden könnten. Im Klartext heißt dies, dass nach Auffassung der CDU/CSU das Verbot der Abschiebung bei Folter (Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention) aufgekündigt werden soll. Soweit wird es zwar gegenwärtig nicht kommen. Aber es ist schon schlimm genug, dass der Bundesinnenminister eine andere Idee in die Diskussion gebracht hat. Schily will Personen mit angeblich terroristischem Hintergrund in eine Art Vorbeugehaft nehmen. Sogar Dieter Wiefelspütz, innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, ging auf Distanz. „Ich verstehe Schily so, dass er auf das bestehende Polizeirecht der Länder hinweisen will“, versuchte Wiefelspütz abzulenken (Pressemitteilung vom 30. März 2004). Aber allein diese Debatte zeigt, wie weit das Rechtsbewusstsein mittlerweile erodiert ist.

Somit sind die weiteren Perspektiven schlecht. Der Grundrechteabbau wird fortgesetzt werden. Mit einer Novelle des Gesetzes zu Artikel 10 GG werden die Abhörbefugnisse der Geheimdienste noch einmal erweitert werden. Die rechtsstaatlich bedenkliche Kronzeugenregelung steht auf der Wunschliste der Polizeipraktiker. Die Bundesländer drängen auf eine Ausweitung der DNA-Analysedateien. Das Bundesverfassungsgericht hat die Speicherung von DNA-Analysen zwar nur bei schwerwiegenden Straftaten gestattet. Die Forderung nach der Aufbewahrung der DANN-Daten aller Straftäter (also auch bei Bagatelldelikten) wird aber bereits ernsthaft diskutiert. Von da ist es nicht mehr weit bis zur Erfassung aller Menschen ab Geburt oder bei Einreise in einer allumfassenden DNA-Datei.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die wirtschaftliche und soziale Krise des Kapitalismus einhergeht mit einer Militarisierung der Außenpolitik und einer Aufrüstung von Polizeien und Geheimdiensten in der Innenpolitik. Der Widerstand gegen den Grundrechteabbau, den Bürgerrechtsorganisationen organisieren, findet in der Politik kaum Unterstützung, zumal die Grünen, aber auch die PDS, in diesen Fragen immer mehr abtauchen. Sie sind nur schwache und willfährige Bündnispartner der sozialdemokratischen Law-and-Order-Politiker. Gelegentlich bremst das Bundesverfassungsgericht den Weg in den Überwachungsstaat. Äußere Ereignisse wie die Anschläge von Madrid liefern aber den Innenministern von Bund und Ländern den Vorwand, die Repression nach innen wie geplant fortzusetzen.