TTIP und Freihandelsideologie

Der kranke Mann des Multilateralismus

Krise und Bedeutungsverlust der WTO – Ursachen, Hintergründe, Perspektiven

von Peter Wahl
Juni 2014

Peter Wahl

Der kranke Mann des Multilateralismus

Krise und Bedeutungsverlust der WTO – Ursachen,
Hintergründe und Perspektiven

Es war ein richtiger Knalleffekt, als die Welthandelsorganisation (WTO) 1999 mit den spektakulären Bildern der „Battle of Seattle“, der Proteste gegen die WTO-Ministerkonferenz, ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit trat. Es war zugleich der erste global wahrgenommene Auftritt der globalisierungskritischen Bewegung. Obgleich schon 1995 formal ins Leben getreten, war die WTO bis dahin nur auf den Wirtschaftsseiten der Tageszeitungen präsent gewesen.

Die WTO sollte sich von der Krise in Seattle nie wieder richtig erholen. Dabei hätte die Konferenz ein großer Wurf werden sollen, der Auftakt einer neuen Welthandelsrunde, der der damalige EU-Handelskommissar, Leon Brittan, den leicht größenwahnsinnigen Titel „Millennium-Round“ (Jahrtausendrunde) gegeben hatte. Die WTO erschien als neuer Stern am Himmel der neoliberalen Globalisierung, die damals wenige Jahre nach dem Kalten Krieg noch ungebrochen als Triumph einer neuen Epoche galt. Umso größer war der Schock.

Bei den Ursachen für die Pleite kommt ein ganzes Bündel von Faktoren zusammen, von denen Kritik und Widerstand aus der Zivilgesellschaft nur einer und nicht einmal der Wichtigste war. Tatsächlich durchzog eine ganze Reihe von unterschiedlichen Widersprüchen und Konflikten die Konferenz, darunter die Differenzen zwischen der EU und den USA, sowie ein erstes Aufbegehren der Entwicklungs- und Schwellenländer gegenüber den Industrieländern. Da zudem der Präsidentschaftswahlkampf begonnen hatte, wollte die Clinton-Administration sich nicht auf Kompromisse einlassen, die ihr vor heimischem Publikum als Schwäche ausgelegt würden.

Nach der harten Landung in Seattle wurde ein neuer Anlauf genommen. Bei der Konferenz in Doha im Dezember 2001 wurde etwas entwicklungspolitisches Rouge aufgelegt und die neue Runde wurde „Entwicklungsrunde“ getauft. Damit sollte der Eindruck erweckt werden, es ginge vor allem um die Interessen der Entwicklungs- und Schwellenländer. Zwar gab es in der Tat einige Zugeständnisse – so sollten den Entwicklungsländern längere Übergangsfristen und Sonderbedingungen bei der Implementierung von Beschlüssen gewährt werden (special and differential treatment) – aber natürlich mutierte die WTO mitnichten zu einer Entwicklungshilfeorganisation.

Zunächst schien es auch so, als ob es wieder aufwärts ginge. Dazu beigetragen hatte, dass Doha zwei Monate nach den Anschlägen vom 11. September in einem psychologischen Klima stattfand, in dem sich niemand so recht traute, die nach wie vor vorhandenen Problem offen zu thematisieren. Zudem waren Proteste in dem feudalistischen Scheichtum am Persischen Golf nicht möglich. So machte sich wieder Optimismus breit, und man fasste für den Abschluss der Verhandlungen das Jahr 2005 ins Auge.

Aber bereits bei der folgenden Konferenz, 2003 im mexikanischen Cancùn, wurde deutlich, dass die Krise nicht vorbei war. Im Gegenteil, die Entwicklungs- und Schwellenländer hatten sich untereinander inzwischen koordiniert und organisiert und ihre Verhandlungsmacht deutlich gesteigert. Es kam wiederum zum Clash und die Konferenz endete ergebnislos.

In informellen Verhandlungen in Arbeitsgruppen zwischen den großen Konferenzen wurde eine Annäherung versucht. Dies gelang aber nur an wenigen und eher sekundären Punkten, sodass die nächste Konferenz 2005, in Hongkong, zwar kein völliges Desaster war, aber auch keinen Durchbruch brachte. Das Ziel für einen Abschluss war geplatzt.

Obwohl die Satzung der WTO vorsieht, alle zwei Jahre eine Ministerkonferenz durchzuführen, dauerte es jetzt vier Jahre, bis in Genf 2009 das nächste große Treffen möglich wurde. Doch auch dieses Meeting verlief ergebnislos, was aber kaum noch Aufsehen erregte. Selbst die Zivilgesellschaft hatte inzwischen weitgehend das Interesse verloren. Das Feindbild WTO begann zu verblassen, Proteste hatten sich anderen Themen zugewandt. Nur noch eine enge Fach-Community verfolgte das zähe Geschehen. Zudem stand die nächste Ministerkonferenz, 2011 ebenfalls in Genf, im Schatten der Finanzkrise. Einziges Ergebnis waren Verfahrensvorschläge, deren Zweck darin bestand, einen Ausstieg aus der verfahrenen Lage zu finden. Bei der jüngsten Konferenz im indonesischen Bali 2013 wurde schließlich ein Minimalpaket verabschiedet (s.u.). Aber 18 Jahre nach ihrer Gründung ist die WTO heute nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Die ursprüngliche Absicht, unter westlicher Führung eine globale Organisation für die Regelung des Welthandels unter einem Dach mit gleichen Regeln für alle schaffen zu wollen, war gescheitert. Die Dialektik zwischen Veränderungen der globalen Rahmenbedingungen und problematischen Binnenstrukturen führte schon in Seattle zur Handlungsunfähigkeit. Eine lange Agonie mit dramatischem Bedeutungsverlust war die Folge.

Enormer Kompetenzzuwachs

Die Gründung der WTO 1995 bedeutete zunächst einen qualitativen Sprung in der Geschichte der Welthandelsregulierung. Während ihr Vorläufer, das GATT (General Agreement on Trade and Tariffs) lediglich ein Vertrag war, der sich auf die Liberalisierung des Güterhandels konzentriert hatte, bildete nun eine eigene Institution mit einem Hauptquartier, mit Personal, Satzung und formeller Mitgliedschaft das Zentrum des Welthandelsregimes. Mit heute 159 Mitgliedsländern und 26 Beobachtern ist die WTO de facto universal und repräsentiert weit über 90 Prozent des Welthandelsvolumens. Die spektakulärsten Neueintritte nach der Gründungsphase waren China (2001) und Russland (2012). Keine Verbindung mit der WTO haben faktisch nur Nordkorea, Somalia, Südsudan und der Vatikan.

Im Vergleich zum GATT ist der Zuständigkeitsbereich der WTO beträchtlich gewachsen. So kam nicht nur der Agrarhandel – der vom GATT noch ausgenommen war – unter ihre Ägide, sondern auch eine Reihe völlig neuer Bereiche:

· geistiges Eigentum, also Patente, Copyright, Warenzeichen, Design, geographische Namen (Scotch, Cognac, Champagner, Roquefort) wurden im TRIPS-Abkommen (Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights) geschützt, um so kommerziell besser verwertbar zu sein. Angesichts der enorm gewachsenen ökonomischen Bedeutung von Wissen und Information ist das TRIPS-Abkommen von großer Tragweite;

· erstmals wurde in der WTO ein Rahmenabkommen für den Handel mit Dienstleistungen geschaffen, das GATS (General Agreement on Trade in Services).

Damit reagierte die WTO auf die gewachsene Bedeutung des Dienstleistungshandels. Es handelt sich dabei aber auch um genau jene Bereiche, in denen USA und EU eine führende Rolle spielen, darunter Finanzdienstleistungen, Telekommunikation, audiovisuelle Dienstleistungen, Luft- und Weltraumfahrt. Alles Bereiche, wo die alten Industrieländer über Wettbewerbsvorsprünge gegenüber dem Rest der Welt verfügen.

Auf diese Weise entstand in der WTO allerdings auch eine grundlegende Asymmetrie zwischen jenen, die auf diesen Gebieten wettbewerbsstark sind und dementsprechend international expandieren wollen und anderen, die dafür ihre Märkte öffnen sollen. Dies ist eines der strukturellen Probleme, die zur Krise der WTO führten.

Zu dieser Asymmetrie kommt hinzu die Konkurrenz zwischen den Industrieländern. Dabei geht es nicht nur um öffentlichkeitswirksame Fälle wie Hormonfleisch und Chlorhühnchen. Wichtiger sind z.B. die Finanzdienstleistungen, wo die Versicherungsbranche der USA ein brennendes Interesse am Zugang zu jenen Sektoren der Daseinsfürsorge (Gesundheit und Alterssicherung) hat, die in Europa häufig noch öffentlich organisiert sind. Auch Bildung und die audio-visuellen Medien, also öffentlich-rechtliches Radio und Fernsehen sowie die europäische Filmförderung sind hier im Visier.

Auch die Aufnahme des Agrarhandels in den Kompetenzbereich der WTO hat einen grundlegenden Widerspruch etabliert. Er berührt in starkem Maße die Interessen der Entwicklungsländer. Denn zum einen sind Agrarprodukte oft ihre wichtigsten Handelsgüter, und zum anderen ist damit die Ernährungssicherheit tangiert. Für Indien etwa, das heute die weltweit größte Armutsbevölkerung hat, stehen vitale Interessen auf dem Spiel. Gleichzeitig ist im Agrarsektor der Protektionismus der USA und der EU direkt oder indirekt (durch Subventionen) besonders ausgeprägt.

Die meisten Blockaden in den Verhandlungen sind daher auf den Feldern entstanden, wo ausgeprägte Asymmetrien oder hoher Konkurrenzdruck bestehen. Dabei hatten USA und EU ursprünglich sogar noch mehr „innovative“ Themen auf die Agenda packen wollen, wie Investitionen und öffentliche Beschaffung, konnten sich damit aber schon in Seattle nicht mehr durchsetzen.

Schiedsgericht und Sanktionen

Eine weitere neue Qualität im Handelsregime bringen die Schiedsgerichtsverfahren. Diese sind sanktionsbewehrt und haben damit eine völkerrechtliche Verbindlichkeit, wie sie auf anderen Politikfeldern – mit Ausnahme des UN-Sicherheitsrats – keine andere internationale Organisation einsetzen kann. Das Streitschlichtungsverfahren, so der erste WTO-Generalsekretär Ruggiero, sei die „zentrale Säule des multilateralen Handelssystems und der originellste Beitrag der WTO zur Stabilität der Weltwirtschaft.”[1] Entscheidungen des Gremiums berechtigen einen erfolgreichen Kläger, Schadensersatz zu verlangen bzw. Vergeltungsmaßnahmen in Form von Strafzöllen zu ergreifen. Damit verfügt die WTO juristisch sogar über weitergehende Befugnisse als die andere starke Organisation der Weltwirtschaft, der IWF.[2] Insofern ist mit den Schiedsgerichtsverfahren und den Sanktionsmöglichkeiten ein Moment von supranationaler Staatlichkeit entstanden. Die Kehrseite ist allerdings, dass die hohe Verbindlichkeit auch dazu führt, dass umso hartnäckiger verhandelt wird. Schließlich steht besonders viel auf dem Spiel.

Zwar ist die Etablierung eines Schiedsgerichts ein zivilisatorischer Fortschritt gegenüber einer Situation, in der sich das Recht des Stärkeren gegenüber der Stärke des Rechts ungebrochen durchsetzen kann. Allerdings ist die Ausgestaltung dieses Rechts im Wesentlichen von den Stärkeren bestimmt worden. Und diese wissen, dass ihre Interessen am besten über den stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse und deren Verkörperung im Freihandel verwirklicht werden.

Liberalisierung als permanente Revolution

Die Grundphilosophie der WTO beruht auf der Freihandelsdoktrin. In der Präambel der Satzung, dem „Agreement Establishing the World Trade Organization[3] ist die Liberalisierung des internationalen Handels als Organisationsziel verankert. Deren theoretischen Wurzeln gehen auf das 18. Jahrhundert, Adam Smith und David Ricardo und dessen These von den komparativen Kostenvorteilen zurück. Als wissenschaftliche Modellannahme trifft die Theorie zwar einige Dimensionen der Realität – so erklärt sie z.B. die internationale Arbeitsteilung und deren ökonomischen Vorteile – angesichts der Komplexität der heutigen Weltwirtschaft ist sie aber theoretisch völlig unzureichend und als Leitbild nur noch Ideologie.[4]

Die beiden wichtigsten Prinzipien zu Durchsetzung der Liberalisierung sind:

· das Nicht-Diskriminierungsgebot, d.h. dass ausländische Wettbewerber genauso zu behandeln sind wie inländische, und

· die Meistbegünstigungsklausel, wonach Handelsvorteile für ein Land, automatisch auch für alle anderen Mitgliedsländer der WTO gelten.

Dem Regelwerk der WTO ist damit die kontinuierliche und dynamische Weitertreibung der Liberalisierung inhärent, quasi die „permanente Revolution” des Welthandelssystems. Diesem Ziel dient auch die statutengemäße Vorgabe, nach Abschluss einer Handelsrunde immer wieder eine neue Runde zu starten. Bewirken das Nicht-Diskriminierungsgebot und die Meistbegünstigungsklausel der Ausbreitung der Liberalisierung in der Fläche, so soll der Druck zu stets neuen Handelsrunden die Ausdehnung in die Zeit gewährleisten.

Die Dynamik der permanenten Liberalisierung ist in einer ungleichen Welt aber eine systematische Überforderung und Benachteiligung der ökonomisch Schwächeren, während die Wettbewerbsstarken und ihre Unternehmen ebenso systembedingt davon profitieren.

Allerdings – und das ist wiederum eine überraschende Dialektik: Da die WTO eine globale Plattform bietet, haben die Schwellen- und Entwicklungsländer gelernt, sich in Unter- und Interessensgruppen zu organisieren und somit mehr Verhandlungsmacht zu bekommen. Sie sind damit in die Lage versetzt worden, Sand ins Getriebe der Liberalisierungsmaschinerie zu streuen oder sie auf einigen Gebieten ganz zu blockieren. Hier liegt einer der Hauptgründe für die Dauerkrise der WTO.

All dies ist bedeutet nicht, dass Liberalisierungsmaßnahmen immer und unter allen Umständen schlecht sein müssen. Eingebettet in einen politischen Rahmen, der die Souveränität demokratischer Akteure über den Handel gewährleistet, kann Liberalisierung Entwicklungsimpulse geben und zu Wohlfahrtsgewinnen führen. Die Liberalisierung des hoch protektionistischen EU-Agrarmarktes gegenüber den Entwicklungsländern wäre ein Beispiel. Doch das Problem beginnt dort, wo Liberalisierung zum immer und überall gleichermaßen gültigen Patentrezept verabsolutiert wird, dem alles andere unterzuordnen ist..

Die Demokratieprobleme der WTO

Formal funktioniert die WTO nach dem Prinzip Ein Land - eine Stimme. Ebenso gilt, dass Beschlüsse im Konsens zu fassen sind. Daher hat theoretisch jedes Land, auch das kleinste, ein Vetorecht. Insofern unterscheidet sich die WTO von den anderen großen multilateralen Institutionen der Weltwirtschaft, IWF und Weltbank, wo das Prinzip Ein Dollar – eine Stimme gilt, d.h. es gibt wie bei einer Aktiengesellschaft eine Stimmrechtsquote, die sich nach der Höhe der Kapitaleinlage richtet. Außerdem verfügen die USA über eine Sperrminorität, mit der Satzungsänderungen blockiert werden können. Dass das bei der WTO demokratischer ist, ist einer der Gründe dafür, dass die Entwicklungs- und Schwellenländer nach Seattle durch Selbstorganisation Einfluss auf die Organisation bekamen und einen ungehinderten Durchmarsch des Westens verhindern konnten. Andererseits liegt unter der Oberfläche der formalen Gleichberechtigung jedoch auch nach wie vor das, was Bourdieu „die verborgenen Mechanismen der Macht“ nennt,[5] wie z.B. der oben erwähnte. permanente Liberalisierungsdruck.

Das daraus resultierende Demokratieproblem der WTO hat mehrere Dimensionen. Die erste ist die Tatsache, dass Handelsliberalisierung in das Verhältnis zwischen (National)Staat und Privatsektor eingreift und dabei den Staat systematisch zugunsten der privaten Marktakteure schwächt. Er darf keine Zölle erheben und andere als Protektionismus gebrandmarkte Maßnahmen ergreifen. Abgesehen davon, dass dadurch vielen Entwicklungsländern eine Einnahmequelle entgeht, wird auch der regulatorische Zugriff auf einen wichtigen Teil des ökonomischen Prozesses eingeschränkt. Die Bindewirkung des ‚Multilateralismus’ der WTO beschränkt demokratisch legitimierte Regierungen und deren regulatorischen Eingriffsmöglichkeiten. Unter diesen Bedingungen wirkt Multilateralismus selektiv. Er läuft tatsächlich auf die Fesselung von Regierungen gegenüber der Wirtschaft, d.h. konkret gegenüber transnationalen Konzernen, hinaus. Dem Privatsektor dagegen wird freie Bahn bereitet, wovon wiederum am meisten die großen transnational operierenden Unternehmen profitieren.

Privilegierung von Handelspolitik gegenüber Sozialem und Umwelt

Eine weitere Dimension des Demokratiedefizits hat auf den ersten Blick gar nichts mit der WTO selbst zu tun, sondern erschließt sich erst, wenn man die WTO im Gesamtkontext der internationalen Institutionen betrachtet. Dabei geht es um folgendes: Der Handel hat Auswirkungen über die Wirtschaft hinaus, so z.B. in hohem Maße auf Soziales und Umwelt. Durch die Liberalisierung steigt der Wettbewerbsdruck und wenn nun beispielsweise wettbewerbsstarke Supermarktketten aus den USA und der EU auf afrikanische Märkte drängen, so führt dies dazu, dass afrikanische Anbieter verdrängt werden. Arbeitsplätze gehen verloren, soziale Probleme, Prekarisierung und Armut nehmen zu.

Für diese Problemlagen besteht aber kein dem Handelsregime vergleichbarer multilateraler Regulierungsrahmen, der gar mit Schiedsgerichten und Sanktionen operieren könnte. Zwar gibt es die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) so wie verschiedene UN-Organisationen, die sich mit sozialen und Entwicklungsproblemen befassen. Diese können aber nur Empfehlungen aussprechen, sog. soft laws, nicht aber bindende oder gar sanktionsbewehrte Entscheidungen treffen. Im Vergleich zur völkerrechtlichen und materiellen Durchgriffsfähigkeit des Handelsregimes sind sie also allesamt Papiertiger. Wenn dann z.B. die Industrieländer fordern, Entwicklungsländer sollten Subventionen für einheimische Nahrungsmittelpreise abschaffen, weil das ein Verstoß gegen das Nichtdiskriminierungsprinzip sei, dann ist das in handelspolitischer Logik durchaus zutreffend. Dass das aber zugleich die Nahrungsmittelsicherheit und damit existentielle Probleme von Millionen von Menschen berührt, wird dabei ausgeblendet. Hunger und Armut aber gehören ins Ressort Entwicklungspolitik – und dafür ist die WTO nicht zuständig.

Ähnlich sieht es im Bereich Umwelt aus. Dass die rasante Zunahme des Welthandels, z.B. über den Transportsektor, beträchtliche Auswirkungen auf die Umwelt hat, ist unbestritten. Der Verbrauch an Treibstoffen und die Emissionen von Flugzeugen, Schiffen und LKWs sowie der Landschaftsverbrauch von Verkehrsinfrastruktur sind zu einer enormen Umweltbelastung geworden. Der Verkehr ist zu etwa einem Drittel für die CO2-Emissionen verantwortlich.

Im Gesamtkontext der multilateralen Regulierungsversuche besteht also eine Asymmetrie zugunsten handelspolitischer Interessen während Arbeit, Soziales und Umwelt nicht über die gleichen Möglichkeiten verfügen.

Zwar ist auf die Privilegierung von handelspolitischen Interessen von zivilgesellschaftlicher Seite, von Gewerkschaften, NGOs und sozialen Bewegungen reagiert worden, indem versucht wurde, diese Fragen auf die WTO-Agenda zu setzen. Im Sinne von Agenda Setting ist dies zunächst auch tatsächlich gelungen. Unter dem Titel non-trade concerns wurden dazu bereits in Seattle Arbeitsgruppen eingerichtet. Doch stellte sich bald heraus, dass es dafür allenfalls unverbindliche Empfehlungen geben würde. Sozialstandards und umweltpolitische Beschränkungen werden von der großen Mehrheit der WTO-Mitglieder eher als Handelshemmnis und Wettbewerbsnachteil definiert.

Dabei verlaufen die Fronten durchaus auch quer durch die verschiedenen Ländergruppen. Während die Entwicklungs- und Schwellenländer Umwelt- und Sozialauflagen generell als verkappten Protektionismus ablehnen, sind die Kernarbeitsnormen der ILO zumindest in der EU meist ohnehin schon verwirklicht, in Nord- und Westeuropa sogar übererfüllt. Ganz anders jedoch in den USA, wo z.B. die Koalitionsfreiheit rechtlich nicht garantiert ist und die verbindliche Durchsetzung der ILO-Normen ein echter Fortschritt für gewerkschaftliche Organisationsfreiheit wäre.

Unterm Strich gilt für die Versuche, Sozial- und Umweltstandards über die WTO im Welthandel zu etablieren die resignierte Einsicht aus einem NGO-Papier: „Eine wirklich ernsthafte Auseinandersetzung um den richtigen Pfad zu einer nachhaltigen Entwicklung fand dagegen in der WTO nie statt.“[6]

Mangelnde Transparenz, parlamentarische Kontrolle und Lobbyismus

Weitere Aspekte des Demokratieproblems der WTO sind der Mangel an Transparenz der Verhandlungen und parlamentarischer Kontrolle, der Lobbyismus und die Kapazitätsprobleme der kleineren Länder.

Das fängt an mit den berüchtigten Green-Room Praktiken.[7] Gemeint ist damit, dass die WTO-Spitze oder der Konferenzvorsitz parallel zu den offiziellen Verhandlungen informelle Gespräche in kleinem Kreis führt, zu denen immer die USA und die EU gehören, sowie je nach Thema und Problemlage weitere Mitgliedsdelegationen eingeladen werden. Das ist natürlich nicht per se illegitim und wird auch in anderen Verhandlungen praktiziert. Allerdings wurde dies völlig intransparent gehandhabt und ging sogar so weit, dass Delegationsleiter von Entwicklungsländern vor den Türen von Green Rooms vom Sicherheitsdienst abgewiesen wurden.

Ein weiteres Problem, das vor allem kleine Länder betrifft, sind deren zu geringe Kapazitäten, bei den komplexen Verhandlungen wirklich gleichberechtigt mitzuwirken. Während die großen Handelsmächte mit Delegationen von über hundert Diplomaten vertreten sind,[8] verfügen kleinere Länder nicht über diese Möglichkeiten.

Hinzu kommt, dass die Gespräche zum großen Teil vertraulich sind und selbst den Parlamenten der Mitgliedsländer der Einblick in die laufenden Verhandlungen verwehrt ist. Sie können dann nur noch am Ende über das Ergebnis abstimmen. Da dieses in der Regel ein Gesamtpaket ist, stehen sie dann vor dem Dilemma, entweder das ganze Paket abzulehnen, oder die problematischen Elemente zu schlucken.

Last but not least sind die WTO-Verhandlungen Ziel intensiver Lobbybemühungen der einschlägigen Branchen. In Brüssel sind ca. 13.000 Unternehmenslobbyisten aktiv, die zwischen 750 Millionen bis einer Milliarde Euro aufwenden, um die Entscheidungsprozesse zu beeinflussen. In Washington ist der Lobbyismus noch massiver.[9] Dabei sagt der Aufwand auf Seiten der Unternehmen natürlich noch nicht per se etwas darüber aus, wie erfolgreich die Lobby ist. Dazu gehören immer zwei. Und da liegt eigentlich das noch größere Problem des Lobbyismus: In der EU weisen der Beamtenapparat und die zuständigen Kommissare durch Sozialisation, Ausbildung, politische Selektion und politische Präferenzen in ihrer großen Mehrheit eine große Affinität zur Freihandelsdogmatik auf. Ihr wirtschaftliches Leitbild ist Fleisch vom Fleische der Privatwirtschaft.

Genutzt hat dies der WTO alles nichts. Das Demokratiedefizit hat zum einen die Schwellen- und Entwicklungsländern dazu motiviert, ihre Interessen selbstbewusster und organisierter zu vertreten. In der Öffentlichkeit hat es die Imageprobleme der WTO verstärkt, sodass heute die Skepsis – auch unter Parlamentariern – zugenommen hat.

Das „Balipaket“ – die Rettung?

Mit der jüngsten Ministerkonferenz im Dezember 2013 wurde nach 18 Jahren schließlich ein Abkommen geschlossen, das sog. „Bali-Paket.“ Die Öffentlichkeit hat den Vorgang kaum mehr wahrgenommen. Zu sehr war der Bedeutungsverlust der WTO bereits fortgeschritten und zu sehr wurde die handelspolitische Agenda von anderen Projekten wie dem Transatlantische Investitions- und Handelsabkommen (TTIP) überlagert.

Gemessen an dem Anspruch, mit dem die WTO einst antrat, ist das Ergebnis sehr dünn. Es bezieht sich auf drei Themen: Handelserleichterungen, Landwirtschaft und Entwicklung. Bei den Handelserleichterungen geht es um administrative und technische Vereinfachungen. Die Bürokratie soll verschlankt und digitalisiert, Fristen sollen verkürzt, Verfahren vereinheitlicht und Abläufe an den Grenzen vereinfacht werden. Das ist sinnvoll und sollte eigentlich problemlos sein. Dass es aber selbst bei solchen einfachen Dingen so lange dauert, bis eine Einigung zustande kommt, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Lage der WTO.

Beim Thema Landwirtschaft hat man sich auf eine vierjährige „Friedensfrist“ bei Agrarsubventionen geeinigt. Hintergrund war die Forderung der Entwicklungsländer, Subventionen an ihre Bauern zahlen zu dürfen und Maßnahmen zur Ernährungssicherheit ergreifen zu können, wie z.B. staatliche Vorratshaltung. Das widerspricht natürlich den ideologischen Grundlagen der WTO, und vor allem die USA hatten sich vehement dagegen gestemmt. Die Vereinbarung sieht jetzt aber vor, dass bei diesem Thema keine Partei für vier Jahre beim Schiedsgericht Klage einreicht. Eine Art Moratorium.

Schließlich wurden für die Gruppe der ärmsten Entwicklungsländer Ausnahmeregeln zugelassen. Demnach bekommen sie privilegierten Zugang zu den Märkten der Industrieländer (auch für Dienstleistungen) und dürfen ohne Mengenbeschränkung und komplizierte Herkunftsregeln dorthin exportieren.

Die Zukunft der WTO

Bali hat keine grundlegende Wende gebracht. Zwar wurde ein Abkommen erzielt, aber es ist zugleich deutlich geworden, dass es nicht möglich ist, mit der WTO die großen und substantiellen Probleme des Welthandels zu lösen, vor allem wenn dazu beigetragen werden soll, Wohlfahrtseffekte für alle und nicht nur für die ohnehin schon ökonomisch Starken hervorzubringen.

Die Organisation wird sich deshalb nicht auflösen. Aber sie wird mit einem dauerhaften Bedeutungsverlust und einem viel engeren Mandat als ursprünglich gedacht leben müssen. Die Erwartung der USA und der EU, mit einer globalen und zentralistischen Organisation den Welthandel in ihrem Interesse regulieren zu können, wurde aus den hier dargelegten Gründen nicht erfüllt.

Damit steht die WTO freilich nicht alleine da. Auch bei anderen Politikfeldern, wie z.B. dem Klimawandel, scheitern globale Regelungen an der Heterogenität der Interessen und der Komplexität der Probleme.

Hinzu kommt, dass das internationale System insgesamt dabei ist, sich von der unipolaren Ordnung, die sich nach Ende des Kalten Krieges mit den USA als dem einzigen globalen Hegemon herausgebildet hatte, hin zu einem multipolaren System zu entwickeln. Handelspolitisch hatte es ohnehin schon so etwas wie ein Duopol gegeben, denn die Handelspolitik ist der einzige Bereich, in dem die EU tatsächlich eine Weltmacht ist. Die EU-Handelspolitik ist vergemeinschaftet, d.h. Brüssel hat die Federführung und das Außenhandelsvolumen der Union ist weltweit die Nummer eins und übersteigt das der USA deutlich.

Mit dem Aufstieg Chinas und anderer Schwellenländer, die begonnen haben, sich in der Gruppe der BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) locker zusammenschließen, entsteht ein macht- und auch handelspolitisches Gegengewicht zur traditionellen Triade aus USA, EU und Japan. Auch regionale Integrationsprozesse wie der MERCOSUR in Lateinamerika oder bilaterale Vereinbarungen mit neuem Charakter, wie die zwischen Südkorea und China, wonach der Handel nicht mehr auf Dollarbasis abgewickelt wird, zeigen eine Pluralisierung der Konzepte und einen Trend weg von großen, globalen Ansätzen.

Die USA und die EU haben aus all dem inzwischen selbst die Konsequenz gezogen, mit ihren handelspolitischen Interessen stärker auf bilaterale und plurilaterale (d.h. in ausgewählte Koalitionen) Abkommen zu setzen. Das nordamerikanische Handelsabkommen (NAFTA) oder die jeweiligen Abkommen der EU mit Kanada, mit Südkorea und mit dem MERCOSUR sind beredte Beispiele dafür. Im Kern unterscheiden sich diese Abkommen nicht von der Logik der WTO, sind aber aufgrund der geringen Zahl der Teilnehmer viel weniger komplex. Jüngste Beispiel sind das Transatlantische und das Pazifische Investitions- und Freihandelsabkommen. Hier kann man die Auswahl der Themen eingrenzen, die Anzahl der Mitspieler ist überschaubar und die Verhandlungsstärke lässt sich besser im Vorhinein kalkulieren. Insofern kann man das Scheitern der WTO nicht durchgängig als Niederlage für die führenden Handelsmächte interpretieren. Sie haben das Format gewechselt und können auch mit den neuen Formen ihre Interessen realisieren.

Als Konsequenz daraus droht der WTO ein ähnliches Schicksal wie der UNO: die USA und – mit Modifikationen – auch die EU marginalisieren sie und etablieren stattdessen parallele und multiple Formate, mit denen sich die eigenen Interessen einfacher durchsetzen lassen als in der universalen WTO.


[1] Ruggiero, Renato (1997), www.wto .org/wto/abaout/dispute0.htm

[2] Womit nicht gesagt ist, dass der IWF über geringere Durchschlagskraft verfügt. Zwar ist die Annahme von dessen Bedingungen bei der Kreditvergabe für die Empfängerländer „freiwillig.“ Wie aber gegenwärtig am Beispiel der Ukraine besichtigt werden kann, bleibt einem Land, dem das Wasser am Halse steht, letztlich keine Wahl.

[3] www.wto.org/wto/legal/04-wto.pdf

[4] Eine der besten Auseinandersetzungen mit Theorie und Praxis des Freihandels aus jüngerer Zeit und zu recht preisgekrönt ist: Chang, Haa-Joon (2002): Kicking Away the Ladder – Development Strategy in Historical Perspective. London. Eine kommentierte Literaturliste von Ingo Stützle zu Grundfragen der Freihandelstheorie findet sich unter: http://stuetzle.cc/ 2006/12/kommentierte-literatur-zum-thema-freihandel/. Vgl. auch den Artikel von Christa Luft in diesem Heft.

[5] Bourdieu, Pierre (1992): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg

[6] Frein, Michael/Reichert, Tobias (2012): Aus der Wüste in die Leere.Die politischen und ökonomischen Gründe für das Scheitern der Doha-Runde der Welthandelsorganisation. Bonn

[7] Der Name kommt von der Farbe der Tapete in kleineren Verhandlungsräumen am Hauptquartier der WTO.

[8] Und dahinter steht dann noch ein Apparat von wissenschaftlichen Diensten und Think Tanks.

[9] Action Aid International (2006): UNDER THE INFLUENCE. Exposing undue corporate influence over policy-making at the World Trade Organization. Johannesburg. S. auch: Corporate Europe Observatory (CEO)/Austrian Federal Chamber of Labour (Arbeiterkammer) Austrian Trade Union Federation (ÖGB) Hg. (2014): The fire Power Power of the Financial Lobby. Brüssel.

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