Buchbesprechungen

Der große Krimi

von Michael Knoche-Gattringer zu Diederich/Löhlein
September 2010

Reiner Diederich/Gerhard Löhlein (Hrsg.), Entfesselte Wirtschaft – Gefesselte Demokratie, Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2009, 255 S., 19,90 Euro

Als der ehemalige DGB-Pressesprecher, Hans-Jürgen Arlt, und der ehemalige Chefredakteur der „Frankfurter Rundschau“, Wolfgang Storz, im Frühjahr ihre von der Otto-Brenner-Stiftung der IG Metall finanzierte Studie (Download unter www.otto-brenner-stiftung.de) über das Versagen des „Wirtschaftsjournalismus in der Krise“ vorstellten, war guter Rat billig: Weil die Mainstream-Medien – und hier speziell deren Wirtschaftsredaktionen – das „umfangreiche kompetente und prominente kritische Wissen“ über das Thema Finanzmärkte und Finanzmarktpolitik schlicht „ignoriert“ hätten, seien sie „ihrer Rolle als Frühwarnsystem der Gesellschaft nicht gerecht“ geworden. Exemplarisch genannt als kritischer und deshalb ungefragter Experte wurde der Z-Lesern nicht unbekannte und inzwischen verstorbene marxistische Ökonom Jörg Huffschmid.

In dem aus Anlass des 75. Geburtstags von Hans See, emeritierter Professor der Fachhochschule Frankfurt und Gründer des Vereins „Business Crime Control“ (BCC), von Reiner Diederich und Gerhard Löhlein herausgegebenen Sammelband „Entfesselte Wirtschaft – Gefesselte Demokratie“ sind sie (fast) alle zu finden, die von den Wirtschaftsredakteuren der tonangebenden Tagespresse, von „Tagesschau“ und „Deutscher Presse Agentur“ nicht oder kaum gefragt werden.

Und nach Lektüre dieses 255 Seiten starken Bändchens ist auch klar, warum: Um die lange „namenlose“ (Arlt/Storz) Krise zu verstehen und zu erklären, braucht es Expertise auf mehr als finanzökonomischem Gebiet, muss nicht die Perspektive der Anbieter und Anleger allein im Fokus der Berichterstattung stehen, ja nicht einmal die rein ökonomische Analyse. Gefragt wäre die interdisziplinäre, gesellschaftswissenschaftliche Erörterung eines Wirtschaftssystems, das diese Krisen regelmäßig hervorbringt: des Kapitalismus in seiner historischen Verfasstheit.

Die Ansätze dazu sind vielfältig und kontrovers. Das zeigt sich auch in den hier versammelten Beiträgen, die größtenteils exklusiv dafür geschrieben worden sind. Wie der episch kurze Aufsatz von Manfred Wekwerth, in dem er erzählt, wie er und Hans See „bei mediterranen Genüssen den ‚großen’ Krimi besprechen, mit dem das Kapital täglich, stündlich im Gegensatz zu den Fernsehkrimis real in die Lebenswelt jedes einzelnen eingreift, ohne dafür belangt zu werden“. Der Zusammenhang von Krise(n) und Demokratieverlust ist so etwas wie ein roter Faden, der sich durch das Buch und durch das publizistisch-politische Wirken des Jubilars zieht. Hier versammeln sich Zeit-Genossen – wenige Genossinnen. Biografische und politische Weggefährten von Hans See, viele (ehemals) tätig an der Frankfurter Fachhochschule. Allein das Autorenverzeichnis verrät das Dilemma, in dem sich eine kritische Wissenschaft nach 30 Jahren neoliberalem Rollback befindet – sie ist mittlerweile pensioniert. Das ist keine Kritik, nur eine Feststellung. In den Redaktionen sieht es, schon lange, noch düsterer aus.

Neben einigen Beiträgen, die etwas deplaziert wirken, weil sie sich quasi einzelwissenschaftlich weder mit der allgemeinen Krise noch mit der besonderen Kriminalität des Wirtschaftens beschäftigen, ragen die Kontroversen um Morbidität und Moral der Ökonomie und ihrer Herrschaft heraus. Während sich Stephan Hessler, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von attac, für einen „Minimalkonsens“ der Bewegung für ein Primat der Politik über den Markt ausspricht (144) und die liberalisierten Finanzmärkte als „Demokratiefeindlich – auch im Normalbetrieb“ bezeichnet, kritisiert Rainer Roth die von Gewerkschaftsseite vorgeschlagenen „Lösungen“ als pure Apologetik auf den Kapitalismus an sich, dem – frei nach Marx – nicht mit einer anderen Verteilungspolitik beizukommen sei. Auch Georg Fülberth macht wenig Hoffnung auf eine mögliche Alternative, weist aber zu Recht darauf hin, dass es sich bei der aktuellen Finanzmarktkrise im Kern um eine klassisch zu nennende Überakkumulationskrise handelt (81), deren Verlauf und Schärfe mit den vorhergehenden großen Krisen weitgehend identisch sei – in ihren Folgen vermutlich auch. Nicht die – real existierende – Linke werde sich dadurch und danach durchsetzen, vielmehr sei eine Stabilisierung des Kapitalismus wahrscheinlich, denn: „Niemals ist er lebendiger als in seinen Krisen.“ (84)

Dass die akademisch gescholtene Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung durchaus ihre Rolle reflektiert – hier Arzt am Krankenbett des Kapitalismus, da Motor für gesellschaftliche Veränderung zu sein – zeigt der in diesem Band erstmals veröffentlichte und überarbeitete Vortrag des Marburger Politikwissenschaftlers Frank Deppe über „Die große Krise und die Herausforderungen für die Gewerkschaften“, ursprünglich für den IG Metall-Bezirk Frankfurt gehalten. „Krisen bieten immer auch Chancen zu einer Neuorientierung ... Mir scheint, dass die Gewerkschaften wieder den Mut finden sollten, sich deutlicher zu einem solchen Alternativprogramm wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung zu bekennen“ (39).

Auf jeden Fall sollten sich auch die Gewerkschaften von der falschen begrifflichen und inhaltlichen Trennung von „Spekulation“ in Real- und Geldwirtschaft verabschieden. „Wer mit Grundnahrungsmitteln spekuliert, tötet Kinder“, sagt der ehemalige (!) UN-Sonderberichterstatter und Freund Hans Sees, der Schweizer Sozialdemokrat Jean Ziegler (249). Das klingt so gar nicht polit-ökonomisch, fast moralisch. Bringt die Sache aber auf den Punkt. Wie überhaupt die „ethischen“ Argumente gegen den Kapitalismus und seine Gesetze oft größere Überzeugungskraft zu genießen scheinen, als die „reine Lehre“, abgeleitet aus den Klassikern. Deshalb ist es gut, dass in diesem Band auch sozial-ethisch begründete Einsprüche wie von Friedhelm Hengsbach SJ und dem Wirtschaftskriminalist Uwe Dolata vertreten sind. Das ist immer noch mehr als in den Mainstream-Medien. Und eine gute Gelegenheit für die wie mit Gebetsmühlen wiederholte Forderung des „Ossietzky“-Heraus-gebers, Eckart Spoo, nach Demokratisierung der Medien.

Nur dann lassen sich auch ethisch-moralische, normative Anforderungen an das Mediensystem realisieren, wie sie Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz als Konsequenz aus dessen Versagen formuliert haben: „Es muss zur Regel werden, die Verflechtung von Interessen und die Verflechtung der Akteure in Interessen kontinuierlich offen zu legen.“

Michael Knoche-Gattringer