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Lenin und die Oktoberrevolution

Ruges Lenin-Biographie und Rabinowitchs Analyse des ersten Jahres der Sowjetmacht – parallel gelesen)

Juni 2011

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Beide Autoren behandeln denselben Gegenstand, nämlich Lenin und die Bolschewiki in der Oktoberrevolution. Beide sind davon überzeugt, daß diese Revolution „die Weltgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts nachhaltiger geprägt hat als irgend ein anderes Ereignis“. (AR, IX). Beide rekonstruieren die Verlaufsprozesse der Revolution und analysieren sie kritisch. Beide erörtern das Problem, wie sich die Partei der Bolschewiki, die ihren Erfolg 1917 der unwiderstehlichen Anziehungskraft ihrer Versprechen – sofortiger Frieden, Brot, Land für die Bauern, Basisdemokratie durch Mehrparteiensowjets – und nicht zuletzt ihrem relativ demokratischen und dezentralisierten Charakter und Handeln zu verdanken hatte, sich so schnell zu einer der am stärksten zentralisierten und autoritären politischen Organisation wandelte?

Die grundlegende Gemeinsamkeit der beiden Autoren täuscht allerdings. Aus ihrem unterschiedlichen methodischen Verfahren ergibt sich, daß Rabinowitch und Ruge selbst dann nicht denselben Gegenstand behandeln, wenn sie streckenweise dasselbe Geschehen beschreiben. Wenn die Sowjets 1917 demokratische Organisationen waren, Organe einer Volksherrschaft in embryonaler Form, wie konnte ihre Unabhängigkeit sowie die anderer Massenorganisationen in so kurzer Zeit zerstört werden? Die unzufriedenen Massen Petrograds, welche den Sturz der Provisorischen Regierung und die Machergreifung der Bolschewiki möglich machten, strebten eine egalitäre Gesellschaft, ein demokratisches sozialistisches System an, das vielen Parteien Platz bieten sollte, auch viele bekannte Bolschewiki verfolgten dieses Ziel. Wie läßt sich erklären, daß ihre Ideale in so kurzer Zeit ausgehöhlt wurden?

Alexander Rabinowitch (geb. 1934) ist emeritierter Professor der Indiana University in Bloomington. Er forschte jahrzehntelang über die Revolutionen des Jahres 1917, die Geschichte der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Er erhielt bereits in den 1970er Jahren Zugang zu sowjetischen Archiven und publizierte 1976 sein erstes Buch über den Weg der Bolschewiki an die Macht.[2] Rabinowitch konzentrierte sich für den jüngsten Band darauf, möglichst umfassend die vorhandenen Quellen über das revolutionäre Geschehen im ersten Jahr der Revolution zu erschließen. Sein materialreiches Buch spiegelt wider, wie ungeheuer komplex und widersprüchlich das revolutionäre Geschehen tatsächlich verlief, wie wenig das Handeln der verschiedensten Organisationen und der von ihnen mobilisierten Massen vorgefaßten Begriffen oder Revolutionsschemata entsprach, wie wenig die Revolution sich von der neuen Regierungspartei regulieren ließ, wie flexibel daher die Bolschewiki reagieren mußten, um die Gegner zu besiegen und die spontan immer wieder divergierenden Kräfte zu einen und die sich türmenden Schwierigkeiten von der Ernährung bis zur Kriegführung zu meistern. Rabinowitchs Verlaufsschilderung macht jede Inkriminierung der Oktoberrevolution als Putsch ohne Massengrundlage zuschanden, legt er doch den Akzent gerade auf die Dokumentation des Massenhandelns, der Debatten und der Entscheidungsfindung.

Wolfgang Ruges (1917-2006) nachgelassene Biographie Lenins ist 1994/95 als Vorlesungszyklus konzipiert und niedergeschrieben worden. Ruge schreibt die Biographie seines Helden als ein abgewendeter und enttäuschter Leninist, der dennoch in jedem Punkt seiner Kritik und Negation der Leninschen Positionen auf diese bezogen bleibt, wenn er sein früheres Ideal nun zum Idol erklärt. Ruge wurde kein Konvertit wie Wolkogonow, der nun haßt, was er früher anbetete, doch die Enttäuschung diktiert ihm Psychogramm wie Theorieanalyse. Er richtet seinen Blick auf das gesamte Leben und die politische Wirksamkeit Lenins und auf deren Folgen. Seine Biographie des Politikers und Theoretikers Lenin zielt auf die Begründung zweier Thesen, die der Autor zur Zeit der Niederschrift des Manuskripts postulierte: Erstens: Für das Scheitern der Zielvorstellungen Lenins hinsichtlich einer von der Revolution durchzusetzenden neuen, humanistischen, sozialistischen Gesellschaft macht Ruge wesentlich Lenins Theorie verantwortlich, die er in allen entscheidenden Positionen zu falsifizieren unternimmt. Zweitens: Der Bezugspunkt Ruges für die Beurteilung Lenins ist Stalin, Lenin wird von ihm rückwirkend als dessen Vorgänger gesehen, und das in mehrfacher Hinsicht, in der Theorie wie in der Praxis: Er habe Stalin nicht nur ermöglicht, sondern ihm die Knute in die Hand gegeben.[3] Besonders interessiert Ruge Lenins letzte Lebensphase, über die er bisher wenig bekannte Sachverhalte zutage fördert und analysiert.

Neue Quellenbasis für die frühe Phase der Sowjetmacht

Rabinowitch hatte die Rohfassung seines Buches bereits abgeschlossen, als er in den Jahren 1991 bis 2000 Zugang zu den relevanten russischen Archiven, auch dem KGB-Archiv, erhielt und nun Quellenmaterial über die Bolschewistische Partei, die Sowjets, die Tscheka sichten konnte, das seine bisherige Quellengrundlage vervielfachte. Die wichtigsten Archivbestände für sein Thema wurden die Sitzungsprotokolle des Petersburger Komitees der Bolschewiki 1918, die Protokolle anderer Petersburger Parteiforen, die Sitzungsprotokolle von Parteikomitees der Bolschewiki in Petersburger Stadtbezirken, die Sitzungsprotokolle des Rates der Volkskommissare, stenographische Aufzeichnungen von Sitzungen des Petersburger Sowjets und seiner Führungsgremien sowie der Stadtbezirkssowjets, außerdem Fallakten der Tscheka sowie Aufzeichnungen zahlreicher Gremien der Parteien, der Sowjetregierung, von Verwaltungs- und städtischen Gremien. Außerdem hat Rabinowitch alle erreichbaren zeitgenössischen Zeitungen aus Petrograd herangezogen. Wohl kein anderer Historiker der Welt hat bisher über einen solchen Quellenfundus über die Oktoberrevolution in Petrograd verfügen können. Seine Darstellung konzentriert sich auf Petrograd.

Oktoberrevolution bis zur Auflösung der Konstituante

Das Buch gliedert sich in vier Teile. Der erste behandelt die Phase von der Oktoberrevolution bis zur Auflösung der Konstituierenden Versammlung im Januar 1918. In dieser Zeit konnten die Bolschewiki ihre Macht in Petrograd festigen. Rabinowitch akzentuiert die inneren Diskrepanzen im Zentralkomitee der Bolschewiki, wie sie sofort nach dem 25. Oktober 1917 und unübersehbar als Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung zutage traten. Zwei Tage nach dem Sturz der Provisorischen Regierung verbot das Zentralkomitee der Menschewiki in kaum überbietbarer Arroganz jegliche Verhandlungen mit den Bolschewiki, bevor nicht deren „Abenteuer“ endgültig niedergeschlagen sei. Dreist forderten die Menschewiki das soeben siegreiche Revolutionäre Militärkomitee des Petrograder Sowjets auf, zu kapitulieren und sich aufzulösen. Die Führer der Menschewiki dünkten sich noch großzügig, wenn sie dem Petrograder Sowjet als Preis für die Auflösung von Regierung und Militärkomitee anbot, die persönliche Unversehrtheit von Lenin und Trotzki gewährleisten zu wollen, bis die Konstituierende Versammlung entschiedenen haben werde, sie vor Gericht zu stellen oder nicht. In Petrograd, so Rabinowitch, wußte jeder, daß diese Forderungen der Menschewiki auf ein konterrevolutionäres Blutbad hinausliefen. Doch die Kompromißbereitschaft der „gemäßigten Bolschewiki“ um Kamenew, Sinowjew, Miljutin, Nogin, Lunatscharski u.a., denen offensichtlich die Sympathie des Autors zuneigt, war faktisch eine Kapitulationsbereitschaft. Um eine inzwischen völlig illusionäre „Koalition aller sozialistischen Parteien“ selbst unter Preisgabe der Sowjetmacht zustande zu bringen, waren sie sogar bereit, den als conditio sine qua non geforderten Ausschluß Lenins und Trotzkis aus einer sozialistischen Regierung zu akzeptieren. Rabinowitchs Darstellung, mit welchen Kräften und um welche Fragen Lenin sich im Prozeß der Regierungsbildung Tag für Tag auseinandersetzen mußte, wie flexibel und geschickt er dabei vorging, widerlegt alle Vorstellungen von der Ausbreitung und Konsolidierung der Sowjetmacht als linearem Prozeß, in dem die Schwierigkeiten und Probleme allein von gestürzten Gegnern und ihren Helfershelfern unter den Arbeitern herrührten und die siegreiche Partei als Monolith unter Lenins Kommando erschien.

Neben den Auseinandersetzungen um die Regierungsbildung, in denen Lenin und Trotzki schließlich obsiegten, behandelt Rabinowitch jene Schwierigkeiten ausführlich, die der Übergang der Bolschewiki zur Regierungspartei mit sich brachte. Sie mußten nun die Versorgung mit Lebensmitteln, Brennstoff und Wohnraum, die Auszahlung der Löhne, das Transport- und Gesundheitswesen organisieren, doch ihre Kader hatten keine Erfahrungen mit diesen Verwaltungsaufgaben. Für die Arbeit in den Sowjets und im Militär mußten viele Parteimitglieder abgestellt werden, weitere wurden zur Unterstützung der Revolution aus der Hauptstadt in die Provinzen entsandt. Dies sollte für die Parteiorganisation in Petrograd selbst alsbald zum Problem werden.

Nicht nur die Regierungsbildung, auch die Politik gegenüber der Konstituierenden Versammlung stieß innerhalb der bolschewistischen Parteiführer auf eine starke Opposition. Lenins Gegenspieler in der eigenen Partei hegten die illusionäre Hoffnung, die bevorstehende Konstituierende Versammlung werde den Sozialisten wohlgesinnt sein und die Revolution in Rußland vorantreiben. Rabinowitch beschreibt die Wahlen zu dieser Versammlung, deren Versuch einer eigenen Konstituierung und sein Ende. Er widerspricht allen politischen und historischen Kritikern der Auflösung der Konstituante durch den Rat der Volkskommissare mit zwei Argumenten: Hinsichtlich ihrer Politik, die Konstituante aufzulösen, hatten die Bolschewiki die entschiedene Unterstützung der Petrograder Arbeiter. Und die Auflösung stieß in Rußland auf keinen nennenswerten Widerstand, sondern auf Gleichgültigkeit. Die Widersprüchlichkeit der Beziehungen der siegreichen Bolschewiki zu ihrem einzigen politischen Bündnispartner, den linken Sozialrevolutionären, analysiert Rabinowitch ebenfalls am Beispiel der Wahlen zur Konstituante.

Debatten um den Brester Frieden

Wohl in keiner Frage bewährt sich die reiche Quellengrundlage des Autors so sehr, wie in seiner Darstellung der erbitterten Auseinandersetzung innerhalb der Führung der Bolschewiki um den Brester Frieden. Diese bilden den Gegenstand des zweiten Teils. Rabinowitch beschreibt, wie Lenin Mitte Dezember 1917 zu dem Schluß kam, daß ein revolutionärer Krieg gegen das kaiserliche Deutschland nicht möglich wäre, und Sowjetrußland folglich zunächst einen schmerzhaften Frieden akzeptieren müsse. Gegen Wolkogonow wie Richard Pipes gewandt, belegt er, daß Lenin seine Haltung in der Friedensfrage nicht geändert hat und daß seine Überzeugung, ein sofortiger Frieden sei für das revolutionäre Rußland überlebenswichtig, mit jedem weiteren Kriegstag bestätigt wurde. Wie aber innerhalb der Parteiführer der Bolschewiki die selbstmörderische Politik der revolutionären Phrase in der Friedensfrage an Boden und selbst innerhalb des Zentralkomitees zeitweise die Mehrheit gewinnen konnte, und wie erbittert die Auseinandersetzungen um eine realistische Politik im Zentralkomitee geführt wurden, das verdeutlicht Rabinowitch durch seine stupende Quellenpräsentation wie kaum ein bisheriger Autor. Er gibt ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie wenig politische Stereotype hinsichtlich der Zuschreibung politischer Positionen geeignet sind, die Analyse der konkreten Position einzelner Parteiführer in einer konkreten politischen Situation zu charakterisieren. Galten Lenin und Trotzki im Oktober 1917 den „gemäßigten“ Bolschewiki im bolschewistischen Zentralkomitee als Linke, so bekämpften in den Auseinandersetzungen um den Brester Frieden die nach eigenen Selbstverständnis „Linkskommunisten“ um Bucharin Lenin als rechten Opportunisten. Bei der wichtigsten Abstimmung im Zentralkomitee der Bolschewiki stimmten am 23. Februar 1918 Lenin, Stassowa, Stalin, Sinowjew, Swerdlow, Sokolnikow und Smilga für die Annahme der deutschen Bedingungen, Bubnow, Urizki, Bucharin und Lomow dagegen und für den „revolutionären Krieg“, während sich Trotzki, Krestinski, Dsershinski und Joffe enthielten. Rabinowitch zeichnet die jeweiligen Positionen in den Entscheidungsprozessen präzise und quellengestützt nach. So rekonstruiert er ungeachtet seiner persönlichen Sympathien und stellenweise auch unzutreffender Kritiken an einzelnen Personen sehr nüchtern und ungeschminkt die revolutionären Prozesse. Rabinowitchs Darstellung der übermächtigen Probleme, vor denen die Bolschewiki in der Revolution standen, wird so ungewollt zu einem Zeugnis der intellektuellen Überlegenheit Lenins in der Beurteilung der Situation, in der Prinzipienfestigkeit, politischen Flexibilität und revolutionären Führungsfähigkeit, das dessen Persönlichkeit und historische Größe begreifbar macht.

Die Gefahr einer Erdrosselung der Revolution durch kaiserliche Truppen war trotz des Brester Friedens nicht gebannt. Die Flucht der Sowjetregierung aus dem bedrohten Petrograd nach Moskau im Frühjahr 1918 schuf neue, überaus gravierende Probleme in den Beziehungen der nun Moskauer Regierung zur Geburts- und Hauptstadt der Revolution, denen sich Rabinowitch aus der Sicht des Petrograder Parteikomitees bzw. der Nordkommune zuwendet, und die er, soweit ich es übersehe, als bisher einziger Forscher thematisiert hat.

Krise der Revolution

Der dritte Teil des Buches trägt den Titel „Die Sowjetmacht am Rande des Abgrunds.“ Rabinowitch präsentiert hier wenig bekannte oder übergangene Daten zur materiellen Grundlage der Krise der Revolution: Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung, zur Arbeitslosigkeit, zum Hunger, zur Choleraepidemie, zum Rückgang der Parteimitgliedschaft. Zwischen Januar und April 1918 waren 46 Prozent der Petrograder Industriearbeiter arbeitslos. Als der Hunger akut wurde, verließen viele dieser Arbeitslosen fluchtartig die Stadt. Auch während der Choleraepidemie im Sommer 1918 flohen Tausende Einwohner der Stadt aufs Land. Hatte Petrograd Anfang 1917 rund 2,3 Millionen Einwohner, so im Juni 1918 weniger als 1,5 Millionen. Mit der Bevölkerung nahm auch die Zahl der bolschewistischen Parteimitglieder in Petrograd rapide ab, von 30.000 im Februar 1918 schrumpfte sie auf 13.500 im Juni und auf 6.000 im September 1918. Die Partei der Bolschewiki lief Gefahr, ihre Verbindung zum Petrograder Proletariat zu verlieren.

Arbeitslosigkeit und Hunger, Choleraepidemie, Rückgang der Bevölkerung und der Parteimitgliedschaft bildeten die Grundlage für die Unruhe in Fabriken und in der Flotte. Die Bedrohung durch die deutsche Armee in der Ukraine und vor Petrograd blieb, der Bürgerkrieg spitzte sich zu, und der zunehmende weiße Terror der Konterrevolutionäre führte zu Attentaten auf führende Bolschewiki: In Petrograd wurde am 20. Juli der Propagandist Wolodarski und am 30. August der Petrograder Tscheka-Vorsitzende Urizki ermordet. Am selben Tag fand in Moskau das Attentat auf Lenin statt.

Wie Bolschewiki und linke Sozialrevolutionäre auf die Krisen reagierten, ist der Gegenstand im dritten Teil des Buches. In ihm geht Rabinowitch erstmals dazu über, die geschilderten Handlungen und Entscheidungen der bolschewistischen Führer expressis verbis zu beurteilen, und dabei unterlaufen ihm Fehlurteile. Zwar nennt er sein entsprechendes Kapitel „Der Selbstmord der linken Sozialrevolutionäre“, doch die These vom Aufstand der linken Sozialrevolutionäre hält er für falsch. Zwar ging der Mord am deutschen Botschafter Mirbach am 6. Juli 1918 direkt auf einen geheimen Beschluß des Zentralkomitees der Partei der linken Sozialrevolutionäre zurück, die damit einen Angriff der deutschen Armee provozieren wollten. Doch die Aufstandsthese sei schon deshalb falsch, so Rabinowitch, weil die linken Sozialrevolutionäre in Petrograd offensichtlich keine militärischen Aufstandsvorbereitungen getroffen hatten. Sein eigenes Material relativiert diese These, eine nähere Analyse aller zur Vorbereitung des Attentats getroffenen militärischen Maßnahmen unterläßt er.

Die entscheidende Grundlage des Konflikts zwischen den Bolschewiki und den linken Sozialrevolutionären lag in zwei überaus brisanten Sachverhalten: Erstens war der Konflikt über den Brester Frieden nicht ausgestanden. Die linken Sozialrevolutionäre waren zwar ebenso wie die „Linkskommunisten“ nach der Ratifizierung des Brester Friedens durch den Sowjetkongreß aus der Regierung ausgetreten, hatten aber ihre Ablehnung dieses Diktats nicht aufgegeben und unternahmen alles, den Brester Vertrag zu Fall zu bringen. Das wäre ihnen mit dem Attentat beinahe geglückt; die Bedingungen dieses Schmachfriedens wurden nun für die Sowjetmacht noch schlechter.

Zweitens führte die Politik der Leninregierung, die zur Bekämpfung der Hungersnot bewaffnete Abordnungen der Arbeiter aufs Land schickte, um Getreide für die hungernden Städte zu requirieren, zum Konflikt. Lenin hatte vorgeschlagen, den Bauern ausreichend Getreide für den eigenen Bedarf und für die Aussaat zu belassen und nur gehortete Vorräte der reicheren Bauern zu beschlagnahmen, insbesondere bei jenen, die Landarbeiter beschäftigten. Komitees der Dorfarmut wurden gebildet, die Getreidevorräte der reicheren Bauern aufspüren sollten. Proteste der linken Sozialrevolutionäre gegen diese Praxis der Getreidebeschaffung veranlaßten Lenin zweimal zu Stellungnahmen in der Presse, in denen er den linken Sozialrevolutionären vorwarf, sie seien die Partei der Charakterlosen, die den Kampf gegen die Kulaken fürchte, die Getreidebeschaffung hintertreibe und wie die einheimische und internationale Konterrevolution, nur insgeheim, gegen die Sowjetmacht agiere.[4] Nun war diese Praxis der Getreidebeschaffung bei vielen Bauern gar nicht populär, Lenin räumte selbst ein, daß die Bolschewiki im Umgang mit den Bauern „ganz außerordentlich gesündigt“ hätten: „Aber infolge der Unerfahrenheit der Sowjetfunktionäre, infolge der Schwierigkeit der Frage trafen die Hiebe, die dem Kulaken zugedacht waren, vielfach die Mittelbauernschaft.“ (27, 384) Rabinowitch ergreift in diesem Fall Partei für die linken Sozialevolutionäre.

Beide Streitfragen, die Haltung zum Brester Frieden und damit auch zur kaiserlich-deutschen Besatzungsmacht in der Ukraine, und die Getreidebeschaffung, waren auch die Grundlage für Unruhen in der Marine und die Auseinandersetzungen zwischen Trotzki und Alexej Schtschastny. Trotzki hatte angeordnet, die Versenkung der russischen Flotte für den Fall einer deutschen Eroberung vorzubereiten. Doch Schtschastny, der in der Marine den Vorwurf verbreiten ließ, die Bolschewiki hätten schon in Brest die Revolution verraten, befürchtete eine Abmachung der Bolschewiki mit der kaiserlichen Marineführung. Am 22. Juni 1918 begannen die Minenleger der Marine, unterstützt von enttäuschten Arbeitern einer der größten Fabriken Petrograds, einen bewaffneten Aufstand. Sie verlangten die Bildung einer einheitlichen sozialistischen Sowjetregierung bis zur Wiedereinberufung der Konstituierenden Versammlung. Gewissermaßen war das eine Vorwegnahme des Kronstädter Aufstandes drei Jahre später. Die Rebellion vom Juni 1918 wurde schnell niedergeschlagen, verdeutlichte aber, in welch tiefer Krise die revolutionäre Macht sich in Petrograd befand. Rabinowitchs Fehlurteil über Trotzkis Verhalten gegenüber Schtschastny kann hier übergangen werden. Verwunderlich ist allerdings, daß der akribische Forscher, der Berge von archivalischen Quellen durchforstet hat, die veröffentlichten Schriften Lenins und Trotzkis über dieselben Ereignisse anscheinend außer acht ließ.

In diesem dritten Teil behandelt Rabinowitch auch die Wurzeln und die Entwicklung des Roten Terrors durch die Sowjetmacht. Nach seiner Untersuchung war dieser Terror nicht in erster Linie eine Antwort auf die Morde an Wolodarski und Urizki und den Anschlag auf Lenin, sondern vor allem auf die Rückschläge in dem sich ausweitenden und verschärfenden Bürgerkrieg. Die schnell erreichte Schärfe des Roten Terrors führt er zurück auf die „Ungeduld eines Teils der Arbeiter in Petrograd, die sich während Urizkis Zeit als Chef der PTscheka aufgestaut hatte. Sie wollten endlich mit ihren vermeintlichen Feinden abrechnen“. (479)

Der vierte Teil des Buches fällt aus dem Rahmen der anderen Teile heraus, in ihm beschreibt Rabinowitch ausführlich die Vorbereitungen und die Feiern zum ersten Jahrestag der Revolution in Petrograd: Theateraufführungen, Konzerte, Filme, Paraden, Versammlungen, Feuerwerke und Dichterlesungen und sehr viel Essen, ein ganzer Tag der mehrtätigen Feiern war allein den Kindern gewidmet. Rabinowitsch führt mehrere Gründe an, warum die Petrograder Parteiführung das Jahresfest so aufwendig ausgestaltete: Die Sowjetmacht hatte ihr erstes Jahr überstanden, sie bestand damit länger als die Pariser Kommune, der Erste Weltkrieg war zu Ende gegangen, und in Deutschland war die Revolution ausgebrochen, eine (nominelle) Räteregierung war gebildet worden. Nicht zuletzt spielte beim Ausmaß der Festgestaltung auch der Anspruch Petrograds als Hauptstadt der Revolution eine Rolle in Konkurrenz zur Regierungsstadt Moskau, die eigene Festlichkeiten organisierte.

Rabinowitch ist ein empiristischer Historiker, der auf eine Reflexion seiner methodischen Voraussetzungen und Verfahren ebenso verzichtet wie auf die Explikation seines theoretischen Rahmens. Sein Buch verdankt seine Überzeugungskraft dem erschlossenen und analytisch aufbereiteten Materialfundus. Sein Empirismus hat nicht zuletzt die Konsequenz, entgegen seinen direkten Parteinahmen für die „gemäßigten“ Bolschewiki oder auch die linken Sozialrevolutionäre, entgegen seiner beinahe kompensatorischen Kritik an Charaktereigenschaften Lenins und Trotzkis die tatsächliche Rolle der wirklichen Führer der Oktoberrevolution, ohne die sie ihr erstes Jahr nicht überlebt hätte, unwiderleglich begründet zu haben.

Lenin als Vorläufer Stalins

Ruges Biographie Lenins ist anderer Art – hinsichtlich ihrer Ausgangspunkte, der herangezogenen Quellen, des Gegenstands der Analyse und hinsichtlich ihrer Ziele. Der Historiker Ruge war ein Meister der politischen Biographie, allerdings hatte er bis dahin ausschließlich Biographien deutscher bürgerlicher Politiker geschrieben (Stresemann, Hindenburg, Erzberger, Brüning, Hitler).

Ruge war erst 1956 in die DDR gekommen – aus der UdSSR, in die er 1933 als Jungkommunist geflohen war. Er lehnte das Angebot, über die Geschichte der Sowjetunion zu forschen, ab und wandte sich der Weimarer Republik als Gegenstand zu. Bis zum Erscheinen seiner Erinnerungen im Jahre 2003 hat sich Wolfgang Ruge nie öffentlich über seine Lebensjahre in der Stalinschen Sowjetunion geäußert, er hat in dafür konjunkturell günstigen Zeiten weder „entlarvt“ noch „ausgepackt“. Dennoch hatte er seine eigenen Erfahrungen in der sowjetischen Emigration und im Arbeitslager am Ural ausgiebig reflektiert und die Literatur über diese Geschichte umfassend studiert. Er war zweifellos einer ihrer besten deutschen Kenner.

Nach 1989 gehörte Ruge zu den wenigen Historikern der DDR, die zu den Fragen nach den geschichtlichen Ursachen der welthistorischen Niederlage des Staatssozialismus, des Stalinismus und des Untergangs und Auseinanderfalls der Sowjetunion in der Öffentlichkeit nicht geschwiegen haben. Es ging ihm um die Aufhellung der Wurzeln, der Ursachen und der Mechanismen des Stalinschen Terrors, um die Aufklärung der historischen Weichenstellungen auf dem Wege dorthin. 1991 erschien sein Buch „Stalinismus – eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte“, in dem er nicht als Opfer wehklagt, sondern als Analytiker Tatsachen auflistet und Zusammenhänge herausschält. Sein wichtigstes Zeugnis darüber ist kein wissenschaftliches Buch, sondern sein Erinnerungsband an die Zeit im sowjetischen Arbeitslager Sosswa.[5]

Von allen Themen, die Ruge nach 1989 selbstkritisch aufgriff, war keines schwieriger und schmerzlicher als seine Neubewertung von Lenins Tätigkeit in den Jahren 1917 bis 1923. Ausgangspunkt seiner Lenin-Biographie waren Resultate eigener Stalinismusforschung, die er rückwirkend als Konstruktionsprinzipien auf Lenins Werk übertrug: Lenin wird in diesem Buch als Vorläufer Stalins bestimmt, was soviel heißt: Lenins Politik habe verheerende Folgen für das russische Volk gezeitigt. Diese Folgen mit dem verkündeten Anliegen Lenins, eine sozialistische Gesellschaft zu begründen, vergleichend, wandelt sich Ruges Anliegen von kritischer Prüfung zur systematischen Kritik der Auffassungen Lenins, wobei er eine Reihe von Einwänden und Negationen aus jenen Quellenschriften übernimmt, die im Zuge der antileninistischen Welle während der Perestroika den sowjetischen Markt überschwemmten.

Fast alle der in seiner nachgelassenen Lenin-Biographie vertretenen Auffassungen und Positionen hat Ruge bereits in seinen zwischen 1989 und 1999 veröffentlichten Artikeln und Schriften publiziert. Sie wurden von Friedrich-Martin Balzer gesammelt und 2007 herausgegeben.[6] Die Biographie geht in zwei Punkten über diese Arbeiten hinaus. Erstens vertieft sie die Analyse der persönlichen Tragödie Lenins an seinem Lebensende. Zweitens nimmt sie Abstand vom Postulat der moralischen Integrität des Revolutionsführers. Sie hält ihn nun für demagogisch, heuchlerisch und amoralisch sowie, obwohl persönlich nicht grausam, für skrupellos gewaltorientiert und zynisch.

Partei neuen Typs als Weg in den Stalinismus

Ruges Biographie Lenins folgt nur lose dem kalendarischen Ablauf. Der Schwerpunkt liegt auf den Jahren 1917 bis 1923. Den roten Faden seiner Rekonstruktion von Lenins Leben und Wirksamkeit und zugleich den Kern seiner Kritik bildet Lenins seit 1902 entwickelte Lehre von der Partei neuen Typs. In ihren Prinzipien von Parteiaufbau, -tätigkeit und dem Prozeß, eine Partei von Berufsrevolutionären zu schaffen, sieht Ruge die entscheidende Quelle für jene schließlich exzessive Machtorientierung, die in der militärischen Verteidigung der Revolution erfolgreich war, aber, wie Ruge meint, die Grundlagen einer neuen Gesellschaft im Ansatz zerstört habe. Lenins seit 1902 entwickelte Parteikonzeption sei insofern eine Wurzel des späteren Stalinismus. Bekanntlich hatte Lenin gefordert, eine enge, konspirative politische Organisation von Berufsrevolutionären zu schaffen, neben der eine möglichst breite und möglichst legale Organisation von Arbeitern wirken sollte. Lenin ging davon aus, daß die Arbeiterklasse aus sich heraus keine revolutionäre Theorie entwickeln kann, allenfalls ein gewerkschaftliches Bewußtsein. Da aber eine revolutionäre Theorie Voraussetzung einer revolutionären Praxis sei, bräuchten die Arbeiter die Anleitung von Berufsrevolutionären, die meist aus der Intelligenz kamen.

Die Berufsrevolutionäre waren im vorrevolutionären Rußland eine verschwindende Minderheit unter der Industriearbeiterschaft, die ihrerseits selbst nur drei Prozent des bäuerlichen 165 Millio­nenvolkes ausmachte. Mit dem Sieg der Revolution ging die politische Macht in die Hände dieser Berufsrevolutionäre über, sie verwandelten sich über Nacht in Staatsfunktionäre. Ruges These lautet nun: „Es bestand – so wenigstens meine These – zu keinem Zeitpunkt, auch nicht unmittelbar nach der Oktoberrevolution eine Sowjetherrschaft. Es war immer eine Herrschaft der Partei, nicht nur der Partei, sondern der führenden Schicht der Partei.“ (GS, 261) Aus dieser Gruppe von Berufsrevolutionären, die anstelle der Räte die Macht übernahm, wurde dann eine Kaste von Staatsfunktionären. „Diese Gruppe von Berufsrevolutionären, das waren alles keine machthungrigen Leute, die wollten die Macht nicht um der Macht willen, das waren Leute mit einem hohen Idealismus, selbstlos, die absolut davon überzeugt waren, das Richtige zu tun.“ (GS, 261) Diese siegreichen Berufsrevolutionäre waren aber auch intolerant und „nicht willig und nicht fähig, eine Bündnispolitik zu betreiben“. (GS, 261) Und damit wurden ihre Mentalität und ihr Praxis nach Ruge zu einer Wurzel des Stalinismus.

Mehrfach hat Ruge Lenins letzte Schriften und seinen „Brief an den Parteitag“ analysiert, am ausführlichsten in der Biographie. Er kam dabei zu dem Schluß, daß Lenin weder entschieden genug Stalins Ablösung gefordert hatte noch inhaltlich dessen Praxis gerecht wurde. Mit der Charakterisierung von sechs weiteren Mitgliedern des ZK, die einzeln oder kollektiv als seine Nachfolger in Frage kämen, habe Lenin diese so stigmatisiert, daß faktisch einzig Stalin als Nachfolger übriggeblieben sei. Ruge kritisiert, daß Lenin zwar Stalins Ablösung wegen Grobheit empfahl, die Tatsache aber, daß überhaupt ein Generalsekretär unkontrolliert „unermeßliche Macht“ in seinen Händen hielt, an sich keineswegs als anstößig empfunden habe. Diese und weitere Halbherzigkeiten in Lenins „Brief an den Parteitag“ führt Ruge auf zwei Ursachen zurück, einmal auf dessen Blindheit gegenüber den Ursachen von Machtkonzentration und Gewaltobsession, zum anderen unterstellt er Lenin, angesichts der bürokratischen Entwicklung der Sowjetmacht gegenüber der selbstgestellten Aufgabe der Revolution resigniert zu haben. Zu dieser Zeit habe Lenin, der dann nach dem ersten Schlaganfall in Gorki von seinen eigenen Genossen gefangengehalten und Stalins „Obhut“ unterstellt wurde, die Sowjetmacht, sein Lebenswerk, als gescheitert angesehen und resigniert. Der Osteuropahistoriker Joachim A. Hösler weist in einer in den Gesammelten Schriften abgedruckten Analyse „Lernen aus der Geschichte“ auf Schwächen und Fehlurteile Ruges hinsichtlich des sogenannten Testaments hin und auf Annahmen, die von der Forschung korrigiert worden sind.

Die Lenin von Ruge zugeschriebene Vorläuferrolle für Stalin bestand zum wenigsten darin, daß er dem Vorschlag Kamenews, Stalin mit der Funktion des Generalsekretärs der Partei zu betrauen, zugestimmt hatte. Ruge sieht Lenin vielmehr am Weg zum Stalinismus weichenstellend beteiligt, durch seine Parteikonzeption und seine eigene politische Praxis, und seine Gewaltorientierung ein exzessives Machtsystem installiert zu haben, dessen sich Stalin bedienen konnte. Obwohl Ruge die Oktoberrevolution nach wie vor für eine weltgeschichtliche Pioniertat hält, sieht er die Keime des späteren Untergangs der Sowjetmacht bereits in deren ersten Schritten gegeben, auch wenn diese unvermeidlich waren. Von den notwendigen Einwänden gegen diese Kontinuitätsthese sei hier nur einer angeführt, den Ruge geringschätzt: Voraussetzung des siegreichen Stalinismus war die Vernichtung des Bolschewismus als politischer Kraft und die physische seiner Köpfe. Wadim Rogowim hat dies klar und überzeugend herausgestellt.[7]

Quellen der Leninforschung

In einer „Nachbemerkung zur Quellenlage“ umreißt Ruge die Literatur von und über Lenin, auf die seine Biographie sich stützt. Das sind zunächst die veröffentlichten Schriften. Auch wenn die Werkausgaben vom wachsenden Einfluß Stalins auf die Interpretation des Leninschen Erbes geprägt waren und zudem Tausende Dokumente wegen ihres „explosiven“ Inhalts nicht enthielten, erwartete Ruge von weiteren Veröffentlichung keine wesentliche Änderung des Bildes, als es die bis 1994 veröffentlichten Texte bieten. Eine zweite Quellengruppe der Leninforschung bilden die in russischen und amerikanischen Archiven lagernden Dokumente über Lenins Tätigkeit auf Partei- und Staatsebene. So übernahm die Harvard-University den Nachlaß von Leo Trotzki, während die Hoover Institution of War and Revolution in Kalifornien ihr Archiv auf dem Nachlaß des Menschewiken Boris Nikolajewski aufbaute. Die meisten dieser Dokumente sind veröffentlicht, manche wenigstens in Auszügen.

Eine dritte Quellengruppe bilden die Memoiren von Personen, die mit Lenin zusammengearbeitet haben oder zu tun hatten, angefangen von den Angehörigen über Kampfgefährten, die später zu seinen Gegnern wurden und deren Erinnerungen im Ausland erschienen, bis zu den Berichten jener Persönlichkeiten der russischen und internationalen Arbeiterbewegung, die bis Ende der 1920er Jahre in der Sowjetunion veröffentlicht wurden. Viele dieser Publikationen enthalten auch Dokumente. In der Hochzeit des Stalinismus verkamen Erinnerungsbände zu hagiographischen Auftragsarbeiten, die die Kontinuität Lenin-Stalin unterstreichen sollten, bis Stalin das nicht mehr nötig hatte und 1938 die Veröffentlichung weiterer Lenin gewidmeter Memoiren untersagte. Chruschtschow hob dieses Verbot 1956 wieder auf. Besonders streng zensiert waren aber auch danach Aufzeichnungen über den Verlauf von Lenins Krankheit, die hätten zeigen können, wie seine Nachfolger ihn zum Spielball ihrer Intrigen zu machen sich bemühten.

Unentbehrliche Quellen für die Lenin-Biographie stellt schließlich die wissenschaftliche bzw. pseudowissenschaftliche Literatur der Leninforschung bereit, getrennt nach sowjetischen bzw. westlichen Publikationen. Deren Spektrum reicht von grenzenloser Bewunderung bis zu Verdammung und Verteufelung, wobei extreme Polarisierung sich nicht mit der Scheidung in östliche und westliche Literatur deckt. Wolkogonow zum Beispiel, gegen den Ruge hier gern polemisiert, sprach 1989 von Lenins genialen Aprilthesen. Vier Jahre später war er zum Antikommunisten mutiert und sprach von den Bolschewiki verächtlich als „Lenin und Konsorten“. Die Leninliteratur ist als Quellengruppe für Ruge besonders wichtig, er zieht Lenin-Biographien von Autoren aus aller Welt vergleichend heran, zitiert ausführlich aus ihnen und polemisiert trefflich gegen manche. Eine besondere Relevanz hat als Quelle auch die in der Periode der Perestroika in der Sowjetunion veröffentlichte leninkritische Literatur. Ruges eigene Kritik an Lenin stimmt bis ins Detail mit zwei Kritikergruppen überein, erstens mit russischen Kritikern Lenins aus der Zeit nach der Oktoberrevolution wie Korolenko, dessen Briefe an Lunatscharski nun gedruckt wurden, zweitens mit jener zeitgenössischer Publizisten der letzten Jahre der UdSSR wie Igor Kljamkim, Wassili Seljunin, Alexander Zipko und Waldimir Schubkin.

Eine letzte Quellengattung bilden die Biographien Lenins, mit denen Ruge sich intensiv auseinandersetzt. Im Vordergrund stehen die Bücher von Richard Pipes und Wolkogonow, die beide Lenin uneingeschränkt negativ bewerten und verleumden, außerdem zieht er bevorzugt Arbeiten von Louis Fischer, Georg Wernadski, David Shub, Stanley Page und Robert Payne heran. Da auch die einschlägigen Stalin-Biographien ohne eine Berücksichtigung Lenins nicht auskommen, werden auch sie als Quelle herangezogen, so von Adam Ulam (Harvard).

Übernahm Ruge bereits viele Aussagen der leninkritischen menschewistischen Literatur nach dem ersten Weltkrieg bzw. der Perestroikaphase recht unkritisch, so verwundert die Übernahme von Nikolai Berdjajew dann doch. Der 1922 aus Sowjetrußland ausgewiesene russische Philosoph, schreibt Ruge, habe Mitte der 1930er Jahre in seinem Buch „Wurzeln des russischen Kommunismus“ das „erste tiefschürfende und ausgewogene Psychogramm Lenins“ (417) vorgelegt. Berdjajew hatte, wie später auch Payne, den terroristischen Abenteurer Sergej Netschajew aus den 1860er Jahren zum Vorläufer und zur Orientierungsfigur für Lenin erklärt. In seinem gegen die russischen Volkstümler geschriebenen Roman „Dämonen“ hatte der damals völlig reaktionär gewordene Schriftsteller Fjodor Dostojewski in der Figur des Schigalow, was auf deutsch Brandstifter bedeutet, Netschajew gestaltet. Sowohl Berdjajew als auch Payne versuchten, „sich über die Psychologie Zugang zum Phänomen Lenin zu verschaffen“ und Ruge folgt ihnen darin weitgehend.

Die politische Instrumentierung Lenins und seines Erbes durch Stalin, Chruschtschow und anfänglich auch Gorbatschow hat ihn, so Ruge, als einen weisen und moralisch makellosen Übervater weichgezeichnet. Ruge nun vollzieht keine dialektische Negation, sondern eine abstrakte, er ersetzt den kritisierten Fehler durch sein Gegenteil. Lenin wird nun als zynischer Einpeitscher von Gewalt und Terror, als ein amoralischer und gewissenloser Mensch geschildert. Aus dem selbstlosen Revolutionär wird ein zynischer Machtmensch, aus dem weisen Übervater ein Wunschdenker, der in höchstem Grade von sich überzeugt war und mit unbeugsamem Willen seine Irrtümer und realitätsfremden Vorstellungen mittels Gewalt durchzusetzen bestrebt war.

Ruges Lenin-Biographie verzeichnet ihren Helden, weil die Rekonstruktion der Entstehung und Entwicklung der Lehren Lenins und die Analyse seiner politischen Tätigkeit durchgängig wie im einzelnen von abstrakter Negation diktiert sind: Die Logik der systematischen Destruktion aus Enttäuschung am einstigen Ideal geht über die Absicht des Verfassers, eine wahre, differenzierte Analyse vorzunehmen, einfach hinweg. Die aus dem Konstruktionsprinzip erwachsene Linienzeichnung dominiert und ordnet sich auch jene Partien des Buches unter, in denen Ruge bisher weniger beachtete Zusammenhänge rekonstruiert, kaum bekannte Details bringt und scharfsinnige Analysen vorlegt, wie z.B. über Lenins Ohnmacht während seiner Krankheit. Das Ausgangsaxiom, Lenin als Vorgänger Stalins zu begreifen, ordnet Lenin einem Bewertungsmaßstab unter, der für die historischen Zusammenhänge seiner Einsichten und Entscheidungen irrelevant und aufgepfropft ist. Hier hebt ein Historiker das Prinzip der Historizität seiner Analyse- und Bewertungsmaßstäbe selber auf. Obwohl glänzend geschrieben, verfliegt die Faszination des Lesers vor offenkundigen Fehlkonstruktionen und Fehlurteilen. Rogowin hat vorgemacht, daß ein Historiker dieselben Sachverhalte benennen und analysieren kann, ohne in abstrakte Negation zu verfallen.

[1] Alexander Rabinowitch: Die Sowjetmacht. Das erste Jahr. Aus dem Amerikanischen von Andrea Rietmann und Peter Sondershausen. Mehring Verlag Essen 2010, 652 S.; Wolfgang Ruge: Lenin. Vorgänger Stalins. Eine politische Biographie. Bearbeitet und mit einem Vorwort versehen von Eugen Ruge, herausgegeben von Wladislaw Hedeler. Matthes & Seitz Berlin 2010, 470 S.

[2] Alexander Rabinowitch: The Bolshewiks come to Power, 1976. Eine russische Ausgabe erschien 1989.

[3] Zur Kritik an Ruges Stalinismusauffassung und seiner Kontinuitätsthese siehe: Werner Röhr: Zu Wolfgang Ruges Stalinismusauffassung – Quellen, Konzeption, Kritik, in: Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung, Heft 31/32, Berlin 2008, S. 133-164.

[4] Lenin, Werke, Bd. 27, S. 385-393.

[5] Wolfgang Ruge: Berlin – Moskau - Sosswa. Stationen einer Emigration, Bonn 2003.

[6] Wolfgang Ruge: Beharren, kapitulieren oder umdenken. Gesammelte Schriften 1989-1999, hrsg. von Friedrich-Martin Balzer, Berlin 2007.

[7] Wadim S. Rogowin: Die Partei der Hingerichteten. Aus dem Russischen übersetzt von Hannelore Georgi und Harald Schubärth, Essen 1999.