Buchbesprechungen

Intellektuelle in der DDR

von Günter Benser zu Siegfried Prokop
Juni 2011

Siegfried Prokop, Intellektuelle in den Wirren der Nachkriegszeit. Die soziale Schicht der Intelligenz der SBZ/DDR von 1956-1965, Teil II (= Edition Zeitgeschichte Bd. 49 II) Kai Homilius Verlag, Berlin 2011, 264 S., 19,90 Euro

Dieser Band schließt eng an die Analyse der Jahre 1945-1955 an (vgl. Rezension in Z 84), was formal darin seinen Ausdruck findet, dass die Seitenzahlen beider Bände durchnummeriert wurden. Etwa ein Drittel des Buches wurde einer die Jahre 1945 bis 1965 umfassenden Zeittafel eingeräumt. Zahlreiche Tabellen erhöhen die Aussagekraft der Darstellung.

Die gewählte Zäsur markiert in der Intelligenzpolitik den Beginn der mit dem XX. Parteitag der KPdSU zusammenhängenden Periode des „Tauwetters“, die wiederum durch den erfolgreichen Start des ersten Sputniks einen nachhaltigen Impuls erhielt. So durchkreuzten sich in jenen Jahren vorwärtsweisende und gegenläufige Tendenzen. Die Darstellung beginnt mit dem Aufbegehren von vorwiegend der SED angehörenden Intellektuellen gegen Folgen des Stalinismus und der als Kampf gegen den Revisionismus firmierenden Gegenoffensive der SED-Führung. Gleichwohl interessieren den Autor nicht ausschließlich mehr oder weniger dissidente Intellektuelle und deren Schicksale, sondern auch die mit dem Namen Walter Ulbrichts verbundenen Reformansätze. Er stellt die bemerkenswerte und gewiss diskussionswürdige These auf: „An die Bereitschaft Ulbrichts, sich an die Spitze der Reformkräfte zu stellen, hätten Walter Janka, Gustav Just und Wolfgang Harich anknüpfen sollen. Aber das Gespräch, das Ulbricht Harich gewährte, wurde dafür nicht genutzt.“ (284) Immerhin ist dies die Wertung eines Historikers, der sich in der Vita Harichs besser auskennt als jeder andere. Selbstverständlich wird das repressive Vorgehen der SED und der Staatsmacht gegen Intellektuelle verurteilt, doch im Unterschied zu manchen anderen Veröffentlichungen im Rahmen einer umfassenderen Sicht auf die Intellektuellen und die Intelligenzpolitik.

Der mit der 30. Tagung – m.E. wohl schon mit der 28. Tagung – des Zen­tralkomitees der SED eingeleitete veränderte Umgang mit der Intelligenz wird von Prokop als eine „Politik von Zuckerbrot und Peitsche“ (326) charakterisiert. Hierzu gehörten nicht zuletzt Gespräche von Spitzenfunktionären mit den Vertretern der Intelligenz. Ausführlich wird auf jene Veranstaltungen eingegangen, an denen Walter Ulbricht oder Otto Grotewohl teilnahmen. Besonders Ulbricht ließ keine Zweifel aufkommen, wo die Grenzen zwischen Offenheit und Disziplinierung verliefen. Bei Grotewohl verwundert der heute nicht mehr nachzuvollziehende Zweckoptimismus bezüglich des Wettbewerbs der beiden Weltsysteme und der Chancen für die Lösung der deutschen Frage. Insgesamt wird indes eingeschätzt, dass „die Intelligenz-Gespräche dazu beitrugen, die 1956/57 aufgerissenen Gräben zwischen SED-Führung und Intellektuellen einzuebnen“ (367).

Zu den Vorzügen der Darstellung gehört, dass in ihr auch naturwissenschaftliche Debatten, die Bildung des Forschungsrates der DDR, der organisatorische Aufbau der Kernforschung in der DDR, die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit im RGW und deren Grenzen thematisiert werden. In diesem Zusammenhang wird auch auf den „Göttinger Appell“ eingegangen, mit dem 18 Atomwissenschaftler den Verzicht der Bundesrepublik auf atomare Bewaffnung forderten, und der von Kernforschern der DDR unterstützt wurde.

Wie Teil I bietet auch dieser Band instruktive Informationen und statistisches Material zur strukturellen und sozialen Entwicklung der Intelligenz – unter Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse – als Dynamik des Wandels der Eliten. Faktenreich belegt wird das Ansteigen der DDR-Flucht, deren Ausmaß und deren Folgen, die sich nicht mehr durch Erschließung neuer Arbeitskräftereserven kompensieren ließen. Prokop meidet dabei moralisierende Verurteilungen und analysiert stattdessen die sich auftuenden realen volkswirtschaftlichen und infrastrukturellen Probleme sowie die Bemühungen um Gegensteuerung. Obwohl die Zahl der Hoch- und Fachschulkader beträchtlich anstieg, wird resümierend festgestellt: „Die DDR erreichte Ende der 50er Jahre die gestellten ehrgeizigen Ziele der politischen und sozialen Entwicklung ihrer Eliten nicht.“ (381)

Im Unterschied zu der kontinuierlich bis 1965 geführten Zeittafel brechen die Darstellung und damit auch die Analyse des Tatsachenmaterials am Vorabend des 13. August 1961 ab. Genauer gesagt, sie münden in einen äußerst knappen Ausblick, der die Zeitangabe im Buchtitel eigentlich nicht rechtfertigt. Hier bleibt also noch eine Lücke zu schließen. Natürlich ließen sich auch für den dargebotenen Hauptteil noch manche Wünsche anmelden, zum Beispiel was die künstlerische Intelligenz und die von ihr geschaffenen Werke betrifft oder die sich in Erfindungen, Neuerungen und Patenten niederschlagenden Leistungen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz. Aber diese verdienstvolle Publikation sollte nicht überfordert werden. Ihr Titel lautet ja nicht zufällig „Intellektuelle in den Wirren der Nachkriegszeit“, womit der Fokus auf die sozialen und politischen Prozesse gerichtet wurde. Und auf diesem Felde hat der Autor Pionierarbeit geleistet.

Günter Benser