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„Eine verbrecherische Organisation"

„Das Amt und die Vergangenheit"

September 2011

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Das Oberkommando der Wehrmacht, das vor den Armeeführern der Antihitlerkoalition bedingungslos hatte kapitulieren müssen, setzte mit seinem letzten Bericht vom 9. Mai 1945 die Legende in die Welt, die Wehrmacht sei „ehrenvoll unterlegen“ und habe „die Waffenehre des deutschen Soldaten gewahrt“.[2] Im selben Kalenderjahr legte die Anklagebehörde dem Internationalen Gerichtshof in Nürnberg Berge von Beweisen über Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dieser so „sauberen“ Wehrmacht vor. Im Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher wurden drei Führer dieser Wehrmacht zum Tode verurteilt, Hermann Göring, u.a. Chef der Luftwaffe, Wilhelm Keitel, Chef der Oberkommandos der Wehrmacht und Alfred Jodl, Chef des Wehrmachtführungsstabes. Keitel und Jodl wurden im Oktober 1946 gehenkt, während sich Göring der Vollstreckung des Todesurteils durch eine Giftkapsel entzog.

Doch die Berge von Beweisen in Nürnberg und die seither veröffentlichte wissenschaftliche Literatur hinderten Tausende westdeutscher Bürger, die gegen die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“, die von 1995 bis 1999 gezeigt wurde, protestierten, nicht daran, ihre Überzeugung in der Losung kundzutun: „Unsere Großväter waren keine Verbrecher!“

Die Legende vom Auswärtigen Amt als einem Hort des Widerstandes und der Resistenz gegen die Kriegs- und Vernichtungspolitik der Hitlerregierung wurde in die Welt gesetzt, als am 4. November 1947 vor dem US-Militärgericht in Nürnberg der 11. Nachfolgeprozeß (Ministries Case) begann. Von den 21 Angeklagten waren acht Angehörige des Auswärtigen Amtes, nach dessen Dienstanschrift Wilhelmstraße 26 in Berlin der Prozeß auch als Wilhelmstraßenprozeß bezeichnet wird. Neben diesen acht saßen Minister und Staatssekretäre der Hitlerregierung auf der Anklagebank sowie der Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Mitarbeiter Görings aus dem Vierjahresplanamt und hohe SS-Offiziere. Die heterogene Zusammensetzung der Angeklagten erklärt sich aus der Tatsache, daß unter den Bedingungen des Kalten Krieges die USA ihr Prozeßprogramm radikal zusammengestrichen hatten und schnellstens abschließen wollten, so daß mehrere separat geplante Verfahren zusammengefaßt wurden.

Legende vom Hort des Widerstandes

Amtsintern hatte die Legendenbildung unmittelbar nach dem „Dritten Reich“ begonnen. In einem Memorandum zur eigenen Entnazifizierung hatte der ehemalige Berufsdiplomat Wilhelm Melcher den Kreis der noch aus der Weimarer Republik oder dem Kaiserreich stammenden Diplomaten des AA um Staatssekretär Ernst von Weizsäcker zu einer Keimzelle der Verschwörer vom 20. Juli 1944 stilisiert und als ein Kraftzentrum oppositioneller Gruppen im AA dargestellt. Der politische Kopf dieses Kreises sei Staatssekretär Ernst von Weizsäcker gewesen. Die Behauptungen spielten 1947/48 für die Verteidigungsstrategie eine tragende Rolle, schließlich ging es darum, Weizsäcker vor dem Galgen zu retten. Es gelang der Verteidigung auch, alle im Prozeß als Zeugen gehörten ehemaligen Mitarbeiter des AA auf diese Linie einzuschwören: Es „bildete sich unter den alten Beamten der Wilhelmstraße eine fast geschlossene Phalanx gegen die amerikanischen Strafverfolgungsbemühungen“. (380) Die Richter nahmen dem Angeklagten Weizsäcker allerdings „den von der Verteidigung inszenierten Widerstandsgeist“ nicht ab, zumal ihm seine angebliche Opposition bei den häufigen Verhören vor Prozeßbeginn nicht in den Sinn gekommen war. Sie waren auch nicht bereit, das klassische Rechtfertigungsargument der Staatsbeamten, aus Loyalität auf dem Posten geblieben zu sein, zu honorieren. Hätten die Richter allerdings vor ihrem Urteil gewußt, daß Staatssekretär von Weizsäcker die Berichte der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD abgezeichnet hatte, folglich über den begonnenen Genozid Bescheid gewußt hatte, wäre er wohl kaum vor dem Galgen bewahrt worden. 1949 wurde er zu sieben Jahren Haft verurteilt, alsbald begnadigt und entlassen. Entscheidend für die überaus milden Urteile war der inzwischen entbrannte Kalte Krieg zwischen den früheren Alliierten der Antihitlerkoalition, auf den auch die Verzögerungstaktik der Verteidigung setzte.

Einmal geboren, erwies sich die Legende vom AA als Hort des Widerstands gegen Hitlers Kriegs- und Vernichtungspolitik und von Weizsäcker als dessen Kopf als brauchbar für weitere Zwecke. Nach Abschluß des Nürnberger Verfahrens wurde sie zur Leitlinie der personellen Restauration im AA der Bundesrepublik, der sich auch ehemalige amtsinterne Gegner Weizsäckers anschlossen. Diese Legende über das AA fungierte als informelle Norm der Geschichtsfälschung wie der Selbstwahrnehmung des Amtes. Und sie erweist sich bis in die Gegenwart als zählebig, wie die unlängst publizierten Attacken ehemaliger Beamter des AA gegen das Buch „Das Amt und die Vergangenheit“ belegten.

Daß es dieses Buch gibt, ist ein Verdienst des ehemaligen Bundesaußenministers Joseph Fischer, der 2005 eine Historikerkommission zu dem Zweck berufen hatte, aus den archivalischen Quellen des Amtes selbst dessen Nazivergangenheit und die seiner Mitarbeiter sowie den Umgang des bundesdeutschen Amtes mit dieser weitestgehenden Perpetuierung zu erforschen. Anlaß der Einsetzung war ein Proteststurm ehemaliger Beamter gegen die Entscheidung Fischers gewesen, die Würdigungen des AA für verstorbene Mitarbeiter, die ehemals der NSDAP angehört hatten, endlich einzustellen.

Setzten sich die Autoren des unmittelbar nach Erscheinen 2010 zum Bestseller hochgepushten Buches die Widerlegung und Destruktion der zählebigen Legende zum Ziel, so ist ihnen das gelungen, und zwar für die gesamte Dauer des Nazireiches und nicht erst für die Zeit nach Ribbentrops Amtsübernahme 1938, bei der mehrere Dutzend NSDAP- und SS-Funktionäre aus der Dienststelle Ribbentrop ins AA übernommen worden waren, die nicht den elitären und meist adligen Kreisen entstammten, aus denen sich das AA bisher rekrutiert hatte.

Freilich sind die Verfasser des Buches nicht die ersten, die die Verbrechen von Diplomaten des „Dritten Reiches“ bei der Kriegs- und Vernichtungspolitik enthüllten, einschließlich ihrer politischen Aktivitäten nach 1945 und der Personalpolitik des AA seit 1950. „Das Amt und die Vergangenheit“ wiederholt und bestätigt nicht nur im Grunde, sondern auch für alle erwähnten Personen jene Aussagen, die die Braun- und Graubücher der DDR über die Nazi- und Kriegsbrecher in Staatsämtern der BRD vor Jahrzehnten getroffen hatten. [3] Und es bekräftigt, was die Historiker Christopher Browning[4], Hans-Jürgen Döscher[5] und weitere über die Judenpolitik des AA längst recherchiert haben. Inhaltlich geht „Das Amt“ nicht über deren Arbeiten hinaus, wohl aber hinsichtlich mancher Personen. Die personalistische Anlage des Buches führt dazu, daß Lebensläufe von Angehörigen des AA mit recht unterschiedlicher Laufbahn, von Organisatoren des Massenmords über Schreibtischtäter bis zu aktiven Widerstandskämpfern, nebeneinandergestellt werden, um in einem mosaikartig differenzierten Bild möglichst keine Facette auszulassen, meist ohne Urteile über den Stellenwert der einzelnen Stränge für das Amt insgesamt.

Aufbau und analytischer Zugriff

Der mit 879 Seiten dickleibige Band gliedert sich in zwei ungleichgewichtige Teile. Der erste, kürzere behandelt „Die Vergangenheit des Amtes“ in den Jahren 1933-1945, der zweite Teil „Das Amt und die Vergangenheit“ untersucht die Auflösung des Amtes nach 1945, den Fall 11 der Nürnberger Nachfolgeprozesse, den Neuaufbau des AA nach Gründung der Bundesrepublik und der DDR sowie die Personalpolitik bei der Rekrutierung und dem Einsatz der wiedereingestellten Nazidiplomaten und den Umgang mit der eigenen Vergangenheit, sprich die Abwehr aller Angriffe auf die Vergangenheit und jeder selbstkritischen Untersuchung, die den Rahmen der Legende hätte sprengen können. Das Buch ist nach Personen strukturiert, es behandelt weder die Institution AA noch die von ihm praktizierte Außenpolitik, sondern beschränkt sich auf die Handlungen und Karrieren von Personen und die Personalpolitik des Amtes.

Der erste Band dokumentiert die Selbstgleichschaltung des traditionell höchst elitären und konservativen Korps des Auswärtigen Amtes unter der Regierung Hitler und dessen Nazifizierung von innen und von außen. Dieser Prozeß setzte nicht erst mit der Übernahme des Amtes durch Ribbentrop 1938 ein. Die Autoren stellen die Personalpolitik und die internen Netzwerke im AA in den Vordergrund, die Mitgliedschaften der Diplomaten in NSDAP, SS und SA und die Einflußnahme dieser Organisationen auf das AA. Sie verzichten auf eine systematische inhaltliche Analyse der Außenpolitik und fokussieren ihre Aufmerksamkeit auf die Mitwirkung des AA, seiner Abteilungen und seiner Dienststellen im Ausland bei der Verfolgung und später der Vernichtung der deutschen und europäischen Juden.

Diese Konzentration auf den einen Strang hat zur Folge, daß sie der Kooperation von Reichssicherheitshauptamt und Auswärtigem Amt beim Judenmord einen Stellenwert zuschreiben, dem die mit dem Verlauf des zweiten Weltkrieges immer randständigere Rolle des AA widerspricht. Je mehr Länder Europas die Wehrmacht besetzte, desto mehr Länder fielen aus dem Zuständigkeitsbereich des AA heraus. Zweitens ist es verfehlt, dem AA eine initiative Rolle bei der Entscheidungsfindung zum Völkermord an den Juden und an dessen Vollzug zuzuschreiben. Die Diplomaten haben vor keinem Verbrechen Nazideutschlands zurückgeschreckt und waren an allen Verbrechen gegenüber den Völkern der besetzten Länder aktiv beteiligt, doch eigenständig waren sie nicht und ihre Bedeutung sank mit jedem Kriegstag. Spielte das AA schon hinsichtlich der Okkupationspolitik in Polen und beim Völkermord an den polnischen Juden nach Kriegsbeginn keine Rolle mehr, so war es bei der Kriegs- und Okkupationspolitik gegenüber der UdSSR auch formal völlig ausgeschaltet. Dafür wurde ein eigenes Territorialministerium unter Alfred Rosenberg gegründet. Auch wenn dieses Ostministerium unter den die Besatzungspolitik bestimmenden Kräften die geringste Rolle spielte, lag das nicht am AA.

Von besonderer Bedeutung ist das letzte Kapitel des ersten Teils, in dem die Autoren zeigen, welche Angehörigen tatsächlich und in welcher Weise Widerstand gegen die Kriegspolitik der Hitlerregierung geleistet haben. Das waren Rudolf von Scheliha und Ilse Stöbe, Diplomaten wie Hans Bernhard von Haeften und Adam Trott zu Solz, die zum Widerstandskreis des 20. Juli 1944 gehörten, sowie die Außenseiter Fritz Kolbe und Gerhard Feine. Aber diese höchst seltenen Akte vereinzelten Widerstandes haben gerade nicht die spätere Selbstwahrnehmung des Amtes entsprechend der in Nürnberg vorgetragenen Legende bestimmt. Im Gegenteil: Die ermordeten Scheliha und Stöbe wurden als Landesverräter verfemt, und Fritz Kolbe nach 1950 nicht wieder ins Außenamt aufgenommen. Bis vor kurzem wurde Scheliha noch die Aufnahme in die Ehrengalerie der Opfer der Nazidiktatur verweigert, Stöbe fehlt dort bis heute.

Die Autoren widersprechen der Selbststilisierung eines Kreises um Weizsäcker mit den Brüdern Erich und Theodor Kordt, Albrecht von Kessel, Edmund Brücklmeier, Gottfried von Nostiz als Kern einer Opposition. Ihre Argumentation ist in dieser Hinsicht jedoch wenig konsistent, was aber dem Endredakteur nicht aufgefallen ist. Obwohl das ganze Buch überzeugend darlegt, daß die jeweiligen taktischen Differenzen dieses Kreises gegenüber der Außenpolitik Hitlers und Ribbentrops keine ernsthafte Opposition konstituiert und die betreffenden Diplomaten nicht daran gehindert haben, ihre Funktion für die Kriegspolitik und auch für die Judenmordpolitik zu erfüllen, werden sie an anderer Stelle umstandslos „der Kreis der Oppositionellen um Ernst von Weizsäcker“ genannt (296). Brücklmeier hielt Verbindung zu den Verschwörern vom 20. Juli 1944 und wurde 1944 in Plötzensee hingerichtet. Wenn aber, wie die Autoren schreiben, Ribbentrop nach dem Juni 1940 „wichtige Oppositionelle aus dem politischen Zentrum des Auswärtigen Amtes“ entfernte (S. 297/98), so gehörte Weizsäcker nicht zu den Entfernten, denn er blieb bis 1943 Ribbentrops Staatssekretär.

Wissenschaftlich bedeutender und politisch brisanter ist der zweite Teil des Buches, der unter anderem die früher als Verleumdung verfemten Dokumentationen des von Albert Norden in der DDR initiierten „Braunbuches“ über die im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik weiterhin tätigen Nazis und Kriegsverbrecher bestätigt. Das besondere Verdienst dieses Teils besteht in Analysen. Sie belegen erstens, wie systematisch das neue Auswärtige Amt aus jenen Mitarbeitern des alten aufgebaut wurde, die zu den alten, konservativ-elitären Diplomaten gehörten und sich streng auf den Boden der Selbstlegendierung der Gruppe um von Weizsäcker stellten. Sie wurden erneut rekrutiert, auch wenn sie der NSDAP oder der SS angehört hatten und auch wenn sie an Kriegsverbrechen beteiligt waren. Zweitens werden die jahrzehntelangen systematischen Bemühungen des AA, eine kritische Erforschung der eigenen Geschichte und der früheren Tätigkeiten seiner Diplomaten zu verhindern, zu unterlaufen oder zu konterkarieren, analysiert. Dieser Praxis des Amtes diente auch „eine ausgesprochen restriktive Archivpolitik“. Bis heute sind die Bestände des Politischen Archivs des AA nicht in das Bundesarchiv eingegliedert, wo sie hingehören. Ungeschminkt benennen die Autoren auch die Tatsache, daß weder die sozialdemokratischen noch die liberalen Außenminister der Bundesrepublik von Brandt bis Genscher es wagten oder für nötig hielten, dieser restriktiven Abwehr mit grundsätzlicher Kritik entgegenzutreten. Brandt und sein Vertrauter Bahr haben im AA nicht Remedour gemacht und das „kontaminierte Personal“ ersetzt. Unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Angriffe auf einzelne Diplomaten wegen der Verbrechen in ihrer Vergangenheit war die Geschichte des AA der Bundesrepublik seit Anbeginn eine einzige Kette von Skandalen. Die schweigende Duldung der verschworenen Netzwerke durch die jeweiligen Außenminister provozierte immer neue Glieder dieser Kette.

Weizsäcker-Prozeß

Zu den stärksten Kapiteln des zweiten Teils gehört die Analyse des Geburtsprozesses der Legende vom Auswärtigen Amt als einem Hort des Widerstandes während des 11. Nachfolgeprozesses. Die Anklage im Verfahren „Vereinigte Staaten versus Ernst von Weizsäcker et al.“ wurde von Robert W. Kempner verfaßt. Sie zielte darauf ab, „die Mittäterschaft einer Reihe von angeblich honorigen Diplomaten an Krieg und Massenmord“ (380) aufzuklären. Gegen die Diplomaten standen acht Anklagepunkte zur Verhandlung: 1. Verbrechen des Angriffskrieges oder Verbrechen gegen den Frieden, 2. Gemeinsamer Plan und Verschwörung zur Begehung von Verbrechen gegen den Frieden, 3. Kriegsverbrechen (Ermordung und Mißhandlung von Zivilisten und Kriegsgefangenen), 4. Verbrechen gegen die Menschlichkeit 1933-1938, 5. Verbrechen gegen die Menschlichkeit (1938-1945) 6. Plünderung, 7. Sklavenarbeit, 8. Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen. (S. 392)

Aus dem Auswärtigen Amt waren angeklagt: Ernst von Weizsäcker als Hauptangeklagter, von 1938 bis 1943 Staatssekretär und damit Stellvertreter Ribbentrops; 2. Gustav Adolf Steengracht von Moyland, Staatssekretär ab 1943; 3. Ernst Wilhelm Bohle, Chef der Auslandsorganisation der NSDAP, ebenfalls Staatssekretär im AA; 4. Wilhelm Keppler, Staatssekretär zur besonderen Verwendung, der ursprünglich in einem Industrieprozeß angeklagt werde sollte, der aber entfiel; 5. Ernst Woermann, 1938-1943 Leiter der Politischen Abteilung im AA im Rang eines Unterstaatssekretärs; 6. Botschafter Karl Ritter, amtierte von 1939 bis 1944 als Verbindungsmann des AA im OKW; 7. Edmund Veesenmayer, von 1941-1943 Sonderbeauftragter in Jugoslawien und der Slowakei und 1944 in Ungarn, 8. Otto von Erdmannsdorff, 1937-1941 Gesandter in Ungarn und 1941-1945 stellvertretender Leiter der Politischen Abteilung. (S. 391) Die beiden Außenminister der Hitlerregierung, Constantin von Neurath (1933-1938) und Joachim von Ribbentrop (1938-1945), waren bereits im Nürnberger Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher angeklagt und verurteilt worden, Neurath zu zwanzig Jahren Haft und Ribbentrop zum Tode durch den Strang.

Die acht Angeklagten aus dem AA waren in einem mehrstufigen Verfahren aus einer doppelt so großen Gruppe ausgewählt worden. Die Reduzierung ergab sich aus der Einbeziehung von Angeklagten aus anderen Ministerien in den Prozeß, zumal der Gerichtssaal nur Platz für 21 Angeklagte bot. Allerdings war die endgültige Auswahl der acht Diplomaten entsprechend der Hierarchie erfolgt. Die Nürnberger Ankläger setzten offensichtlich Dienstgrad und Verantwortung für die verhandelten Verbrechen gleich. So kam es, daß weder die beiden „Judenreferenten“ des AA, Franz Rademacher und Eberhard von Thadden, noch der Leiter der Gruppe II aus dem aufgelösten Deutschlandreferat, Horst Wagner, der für das AA die Verbindung zur SS hielt und für die Zusammenarbeit von RSHA und AA beim Judenmord eine Schlüsselstellung innehatte, auf der Anklagebank saßen. Kempner hatte in seiner Anklageschrift den Judenmord zum zentralen Aspekt des Verfahrens machen wollen, während die Außenpolitik und die Planung des Angriffskrieges mehr am Rande blieben. Das Protokoll der Wannseekonferenz war Anfang 1947 aufgefunden worden. Versuche, die Teilnehmer der Konferenz als Angeklagte in den Prozeß einzubeziehen, kamen jedoch nicht zum Zuge. „Bis auf die Verbrechen, an denen Veesenmayer beteiligt war, war damit die letzte Möglichkeit vertan, die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden als Verbrechen sui generis vor das Nürnberger Gericht zu bringen.“ (390).

Die Anklage erfolgte am 4. November 1947, die Gerichtsverhandlung fand vom 6. Januar bis 18. November 1948 statt. Die Anklageschrift ging davon aus, daß der Krieg und die Gewaltverbrechen nur möglich waren, weil die sog. alten Funktionseliten daran willig und aktiv mitwirkten. Sie waren nicht bloß „verstrickt“ bei mentalen Vorbehalten, sie waren Planer und Akteure dieser Politik und ihrer Verbrechen. Hauptankläger General Taylor und Kempner gingen zu Recht davon aus, daß das Auswärtige Amt ein zentraler Bestandteil des Machtapparates der faschistischen Diktatur war: „Sie hatten die Angeklagten anhand ihrer Dienststellungen identifiziert und mit der Riege der acht den Weizsäckerprozeß exakt nach dem Muster des Nürnberger Hauptverfahrens zugeschnitten.“ (391)

In der Anklageschrift des Falls 11 hieß es: „Ohne ihre Verwaltung und deren Umsetzung und ohne die Direktiven und Anweisungen, die sie entwarfen, hätte kein Hitler und kein Göring Angriffskrieg planen und führen können; kein Himmler hätte 6.000.000 Juden und andere Opfer der nationalsozialistischen Aggression und Ideologie auslöschen können.“ (Zit. 392) Von diesen acht Diplomaten waren die ehemaligen Staatssekretäre Weizsäcker und Woermann in allen acht Punkten angeklagt, die anderen in einigen der genannten Punkte. Doch konnte die Anklagebehörde nicht alle Anklagepunkte auch durchsetzen, vor allem nicht die Verschwörung gegen den Frieden. Auch hatte sie Schwierigkeiten, die persönliche Schuld einzelner Angeklagter am Judenmord dokumentarisch nachzuweisen, manche wichtigen Dokumente dazu wurden erst nach Abschluß des Prozesses aufgefunden.

Die Autoren rekonstruieren detailliert den Prozeßverlauf. Sie schildern, wie die Ankläger die einzelnen Anklagepunkte gegenüber den Angeklagten zu belegen vermochten und wofür diese schließlich verurteilt wurden. „Im Hinblick auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach 1938 (Punkt V) ging die Anklage von der These aus, daß das Auswärtige Amt die Deportation von Juden widerspruchslos unterstützt hat. Den Angeklagten mußte nachgewiesen werden, daß ihnen das weitere Schicksal der deportierten Juden bekannt war und sie die amtliche Kompetenz besessen hatten, in das Geschehen einzugreifen. Dies ließ sich sehr überzeugend im Fall Veesenmayer erhärten. Der ehemalige Reisebevollmächtigte in Ungarn mußte sich in fünf Anklagepunkten verantworten und wurde schließlich für Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Punkt V), Sklavenarbeit (Punkt VII) und Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen (Punkt VIII) verurteilt. Mit Veesenmayers Berichten an die Zentrale in Berlin konnte die Anklage belegen, „daß er die Deportationen aus Ungarn vorangetrieben hatte, daß er über die Tötungen in Auschwitz im Bilde war und daß er in Ungarn mit Rückendeckung des Amtes nach Gutdünken schalten und walten konnte“. (395)

Wirkungen bis in die Gegenwart

Die Rekonstruktion des Prozeßverlaufs ist auch für die Gegenwart von politischer Brisanz, weil die Autoren anhand der Entlastungsstrategien der Angeklagten und ihrer Verteidiger zeigen, wie die Geschichtslegende über das Auswärtige Amt in den Prozeß eingeführt und zur Geltung gebracht wurde, wie mehr oder weniger alle als Zeugen auftretenden ehemaligen Angehörigen des AA auf diesen Mythos eingeschworen und ihr Auftreten vor Gericht entsprechend beeinflußt und gesteuert wurde, wie die Verteidigung ein Netzwerk ehemaliger Mitarbeiter organisierte, das dann beim Wiederaufbau des AA in der Bundesrepublik als Rekrutierungsreserve diente. Eine zentrale Rolle als Koordinator der Verteidigung und der Steuerung des Netzwerkes als einer „Entlastungsfabrik“ hinsichtlich Zeugenaussagen und Persilscheinen spielte der Verteidiger Weizsäckers, Hellmuth Becker.

Damit nicht genug. Mit der Gründung des Bundesrepublik und ihres Auswärtigen Dienstes wurde aus dem Mythos vom AA als Hort des Widerstandes der Honig gesogen, der es dann möglich machte, die Wiedereinstellung ehemaliger Nazidiplomaten als Wiedergutmachung auszugeben. Wer wirklich Widerstand geleistet hatte, wurde aus dem wiederum elitären Kreis ausgeschlossen, nationale wie internationale Angriffe auf die wiederverwendeten Kriegsverbrecher und Verbrecher gegen die Menschlichkeit wurden systematisch abgewehrt, notgedrungen eingesetzte Untersuchungsausschüsse ließ man ins Leere laufen.

Die Unterordnung der Diplomaten unter die mit dem Mythos gesetzte informelle Norm beschränkte sich nicht auf die „Ehemaligen“, sondern wurde über die Ausbildung der nächsten Generationen tradiert. Wie zuverlässig die Indoktrination wirkte, zeigte sich noch 2005, als die Anordnung des damaligen Außenministers Joseph Fischer, verstorbenen Angehörigen des Amtes, die früher NSDAP-Mitglied waren, den ehrenvollen Nachruf im Amtsblatt künftig zu verweigern, einen Sturm der Entrüstung unter den Beamten im Dienst wie außer Dienst hervorrief. Die loyalen Staatsdiener organisierten aus dem Stand eine Kettenreaktion der Illoyalität gegenüber dem amtierenden Minister.

Der Wiederaufbau des Auswärtigen Amtes begann 1949, noch vor der Staatsgründung der Bundesrepublik. Hatten die ehemaligen Angehörigen sich bereits bei den Nürnberger Verfahren als eine Elite der Elite gebärdet, der weder Selbstkritik noch Entnazifizierung anstünden, so gelang ihnen beim Neuaufbau des Amtes die Beibehaltung der alten Organisationsstruktur sowie seiner Sonderstellung in der Behördenstruktur des Staates. Da das Amt am früheren Laufbahnprinzip festhielt, stand der weiteren Karriere auch jener Beamten meist nichts mehr im Wege, die Entnazifizierungsmaßnahmen der Alliierten unterlagen oder nach den alliierten Bestimmungen wegen schwerer Verbrechen gar nicht hätten zugelassen werden dürfen. Vehement und hartnäckig aber verhinderten die alt-neuen Beamten eine Rehabilitierung und Wiedereinstellung von Fritz Kolbe, der tatsächlich wirksamen Widerstand geleistet und mit US-Diensten zusammengearbeitet hatte, und ebenso eine Rehabilitierung und Ehrung des von den Nazis ermordeten Rudolf Scheliha, der noch über Jahrzehnte als Landesverräter verfemt wurde. Einen 1951 eingesetzten Untersuchungsausschuß des Parlaments zur Nazivergangenheit der Diplomaten konnten diese faktisch ins Leere laufen lassen, und überstanden ihn ohne Folgen. Der zweite Teil des Bandes bildet insgesamt einen überaus instruktiven Strang einer Geschichte der Bundesrepublik.

Kampagne gegen das Buch

Die nach der öffentlichen Präsentation gegen das Buch entfesselte Kampagne ist politisch nichts anderes als die Fortsetzung der Pro-Nazi-Proteste ehemaliger Diplomaten gegen den Fischer-Erlaß. Der Haushistoriker der FAZ, Rainer Blasius, hat innerhalb weniger Wochen in seinem Blatt allein sechs Verrisse publiziert. In dieser Kampagne verfolgen die Publizisten großer überregionaler Zeitungen, die Diplomaten a.D. mit ihren Leserbriefen und die gegen Autoren des Buches polemisierenden Historiker (vorrangig vom Münchener Institut für Zeitgeschichte) mehr oder weniger dieselbe Taktik: Sie leugnen den politischen Charakter ihrer Angriffe oder spielen ihn herab und versuchen, die Autoren durch den Nachweis fachlicher Mängel und fehlerhafter Teilaussagen zu disqualifizieren. Diese Verfahrensweise ist nicht neu, sie hat sich für derartige Kampagnen bewährt. Auch bei den politischen Angriffen auf die erste Ausstellung „Die Verbrechen der Wehrmacht“ hatte die FAZ, als alle Angriffe nichts halfen, ausländische Historiker mit dem Nachweis einiger fehlerhafter Bildunterschriften vorgeschickt.[6]

Nicht daß es solche fachlichen Mängel nicht gäbe: Die Konzentration auf den Anteil des AA am Judenmord z.B. überzeichnet dessen Rolle als mitentscheidend und initiativ. Der Großteil des Buches ist nicht von den vier Autoren, sondern von den Mitarbeitern ihrer Arbeitsgruppe geschrieben, deren Diktionen und Wertungen recht unterschiedlich sind, stellenweise gibt es Diskrepanzen zwischen den Passagen. Die Grenzen bürgerlicher Diplomatiegeschichtsschreibung sind nirgends überschritten, oft nicht einmal ausgeschöpft, das heißt die Kritik ist sehr gedämpft. Die meisten Klischees der westdeutschen Historiographie, z.B. jenes vom zweiten Weltkrieg als einem „rassenideologischen Vernichtungskrieg“ werden brav übernommen. Die personalistische Strukturierung führt notgedrungen dazu, systemische Zusammenhänge zu vernachlässigen und Funktionen der von den behandelten Personen verfochtenen Politik auch dort zu übergehen, wo sie sinnvoll einzubetten gewesen wären.

Die Vorwürfe, was die Autoren alles nicht untersucht und dargestellt haben, sind sicher zutreffend, doch war das unbedingt ihre Aufgabe? Sie selbst hatten den Ehrgeiz, die These vom AA als Hort des Widerstandes und der Resistenz gründlich zu widerlegen, und das ist ihnen gelungen. Andere Vorwürfe, was die Autoren alles hätten besser machen können und an welcher Stelle die Belege hätten dichter sein müssen, mögen im Einzelfall berechtigt sein, doch sie betreffen keine Fehlaussagen. Der gegenteilige Vorwurf, die Autoren hätten nur bekannte Aussagen, wiederholt, geht politisch ins Leere, da ja diese zum Teil seit Jahrzehnten bekannten und dokumentierten Sachverhalte erstens nicht nachhaltig ins öffentliche Bewußtsein der Bürger dieser Bundesrepublik gelangt waren und weil sie zweitens das erfolgreiche weitere Funktionieren der Legende nicht außer Kraft setzten. Das Verdienst des Projekts besteht politisch jedenfalls darin, auch längst bekannte Sachverhalte in einer Weise gebündelt und belegt zu haben, daß es für das AA ein einfaches Zurück hinter die hier öffentlich dokumentierten Aussagen nicht mehr geben kann.

Eine Abwertung des Buches zum Steinbruch für künftige Forschungen, da es sich nur um eine Aneinanderreihung von Einzeldaten handele und eine systematische Analyse fehle, geht am Anliegen ebenso vorbei wie der Vorwurf, bestimmte Archivalien des AA seien nicht herangezogen worden. Den Verfassern ging es schließlich darum, die Mitwirkung des AA an Kriegsverbrechen und an Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus den Akten des Amtes selbst zu belegen. Darüber hinaus konnten sie zahlreiche andere Archivalien weiterer Archive nutzen. In einer Nachbemerkung stellen die Autoren dem Politischen Archiv des AA kein schmeichelhaftes Zeugnis aus.

Weder im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß noch im Wilhelmstraßenprozeß war das Auswärtige Amt zur verbrecherischen Organisation erklärt worden. Wenn auch die Regierungen der BRD die Nürnberger Urteile nie für rechtens anerkannt hatten, beriefen sich ihre Vertreter genau dann apologetisch auf deren Wortlaut, wenn die Richter aufgrund noch unzureichender Quellen oder unter dem Druck der Politik des Kalten Krieges heute bekannte Sachverhalte – z. B. Schriftstücke Staatssekretär Weizsäckers – noch nicht berücksichtigen konnten oder in ihrer kritischen Beurteilung halbherzig blieben. Deshalb ist das Wutgeheul der Kritiker des Buches nur zu verständlich, wenn der Vorsitzende der Kommission Eckart Conze bei der Vorstellung des Buches öffentlich die Bilanz zog: „Das Auswärtige Amt war eine verbrecherische Organisation.“ Wenn das Buch auch manche Schwächen hat, diese Schlußfolgerung hat es noch einmal zureichend begründet.

[1] Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. Unter Mitarbeit von Annette Weinke und Andrea Wiegeshoff. Karl Blessing Verlag 2010, 879 S.

[2] Die Wehrmachtberichte 1939-1945, Band 3: 1. Januar 1944-9. Mai 1945, Köln 1989, S. 569.

[3] Braunbuch: Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Westberlin. Staat, Wirtschaft, Armee, Verwaltung, Justiz, Wissenschaft. Hg. vom Nationalrat der Nationalen Front, Berlin 1965; 2. Aufl. 1967; 3. Aufl. 1968. Neuausgabe, hg. von Norbert Podewin, Berlin 2002; Graubuch: Expansionismus und Neonazismus in Westdeutschland. Hintergründe, Ziele, Methoden. Eine Dokumentation, hg. vom Nationalrat der Nationalen Front, Berlin 1967,

[4] Christopher Browning: The Final Solution an the German Foreign Office. Study of Referat D III of Abteilung Deutschland 1940-1943, New York/London 1978, deutsch: Die „Endlösung“ und das Auswärtige Amt. Das Referat D III der Abteilung Deutschland 1940-1943, Darmstadt 2010.

[5] Hans Jürgen Döscher: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der Endlösung, Berlin 1987, ders. Verschworene Gesellschaft. Das Auswärtige Amt unter Adenauer zwischen Neubeginn und Kontinuität, Berlin 1995.

[6] Vgl. Werner Röhr: Die neue Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“. In: Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung, H. 18, Berlin 2000, S. 55-68.