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Ideologietheorie/Alle Buchbesprechungen

von Lothar Peter zu Carolin Amlinger
Dezember 2015

Ideologietheorie

Carolin Amlinger, Die verkehrte Wahrheit. Zum Verhältnis von Ideologie und Wahrheit bei Marx/Engels, Lukács, Adorno/Horkheimer, Althusser und Žižek, Hamburg 2014, LAIKA, 191 S., 19,90 Euro.

„Ideologie“ gehört bis heute zu den besonders umstrittenen Begriffen in Theorien über Gesellschaft, die sich auf das Denken von Marx und Engels berufen. Mit ihrer Studie „Die verkehrte Wahrheit“ unternimmt Carolin Amlinger, die zum Zeitpunkt der Abfassung ihres Buches als Doktorandin am Frankfurter Institut für Sozialforschung arbeitete, den verdienstvollen Versuch, das Verhältnis von Ideologie und Wahrheit am Beispiel der im Untertitel genannten Autoren zu rekonstruieren und für den gegenwärtigen Diskurs über Gesellschaftskritik aufzubereiten. Unter Wahrheit versteht sie das „Negativum“ von Ideologie, das sich in unterschiedliche Dimensionen ausdifferenziert, aber immer in Bezug auf Ideologie (wie umgekehrt Ideologie auf Wahrheit) gedacht werden müsse (12 f.).

Bei Marx und Engels arbeitet Amlinger zwei unterschiedliche Stufen des Ideologieverständnisses heraus. Indem das Bewusstsein sich gegenüber seinen materiellen Entstehungsbedingungen verselbständigt, werden, wie Amlinger Terry Eagleton zitiert, die Widersprüche der gesellschaftlichen Wirklichkeit einer „Logik der Inversion und Entfremdung“ unterworfen. Friedrich Engels habe deshalb von „falschem Bewusstsein“ gesprochen; denn Philosophen würden zwar bewusst vorgehen, aber in ihrem Denken die objektive Wirklichkeit falsch reproduzieren. Zu Recht sieht Amlinger darin insofern den Ansatz für die Ideologie- und Religionskritik von Marx und Engels, als es nicht genüge, nur gegen die „verkehrten“ Konstrukte des philosophischen Denkens zu polemisieren. Vielmehr müsse die Wirklichkeit selbst zum Gegenstand der Kritik gemacht werden. Während diese erste Stufe der Ideologiekritik von Marx und Engels mit der Frühphase ihres Werks zusammenfällt, entspricht die zweite Stufe nach Amlinger der Entstehungsphase des „Kapital“. Sie sieht die spezifische Differenz zur ersten Stufe darin, dass Ideologie nun nicht mehr nur die wirkliche Welt verkehrt widerspiegelt, sondern notwendig als „objektive Gedankenform“ aus den kapitalistischen Produktions- und Zirkulationsverhältnissen hervorgeht.

Amlinger wendet sich hier ausführlicher dem berühmten, immer wieder zu neuen Deutungsversuchen herausfordernden Abschnitt über den „Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“ im „Kapital“ zu. Ohne zwischen der frühen Phase und der des „Kapital“ einen künstlichen Gegensatz zu konstruieren, wie das oft in der Diskussion über Marx und Engels geschieht, betont Amlinger allerdings, dass der Analyse im „Kapital“ entsprechend das Bewusstsein der Produzenten nicht deshalb „notwendig falsch (ist), weil es von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens abstrahiert, sondern – ganz im Gegenteil – mit ihm übereinstimmt. Im Warenfetisch ist die Verkehrung Fundament der Sache selbst, so wie sie erscheint.“ (35) Wie aber bezieht Amlinger Ideologie bzw. (notwendig) falsches Bewusstsein auf die Kategorie der Wahrheit und welche Funktion kommt dieser Kategorie zu? Die Antwort, welche die Autorin gibt, bleibt etwas unbestimmt. Der am Anfang ausdrücklich erklärte Verzicht auf eine systematische Definition von Wahrheit erweist sich nicht unbedingt als Vorteil, weil das, was im Text als Wahrheit bezeichnet wird, sehr heterogene Aspekte betrifft.

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Ideologietheorie von Georg Lukács, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Was Lukács betrifft, so ging es ihm in „Geschichte und Klassenbewußtsein“ allerdings nicht darum, „das Scheitern einer sozialistischen Revolution nach dem Ersten Weltkrieg zu erklären“ (58), wie Amlinger irrtümlicher Weise anzunehmen scheint, sondern er ging im Gegenteil (wie die damalige linksradikale Strömung in der Kommunistischen Internationale insgesamt) von einer bevorstehenden siegreichen Revolution auch in Westeuropa aus, wenn sich das proletarische Klassenbewusstsein aus den Fesseln des Bürokratismus (so Lukács 1967 rückblickend im selbstkritischen Vorwort zur Neuauflage des Buches) befreien könne. Abgesehen davon zeichnet Amlinger auf brillante Weise nach, wie Lukács, anknüpfend an die Überlegungen von Marx über den Fetischcharakter der Ware, in der Totalisierung des Tauschwertprinzips eine die Subjekte in allen Lebensbereichen beherrschende Tendenz der „Verdinglichung“ diagnostiziert. Bei Lukács handelt es sich also nicht mehr nur um ein illusionäres Bewusstsein hinsichtlich der Bedingungen kapitalistischer Warenproduktion, sondern um eine „Universalisierung der Verdinglichung“ (56) der gesamten Kultur. Davon werden auch die gesellschaftlichen Wissensformen ergriffen, die einerseits eine „einheitliche Bewusstseinsstruktur“ hervorbringen, andererseits aber, vermittelt durch Prozesse der industriellen Rationalisierung, Formen passiver „kontemplativer“ (Lukács) Subjektivität und „Atomisierung der einzelnen Subjekte im Produktionsprozess“ (64) hervorrufen. Treffend fasst Amlinger die ideologietheoretischen Konsequenzen bei Lukács dahingehend zusammen, dass Verdinglichung die Praxis der Subjekte ihrer inhaltlichen Qualitäten beraubt und den Zusammenhang mit der Praxis anderer Subjekte zerreißt. Das korrespondiert mit dem Verlust eines Totalitätsbewusstseins bzw. der Dominanz eines „szientistischen Wissenstyps“, der nicht mehr den Gesamtzusammenhang reflektiert, sondern sich auf eine empiristische Isolierung einzelner Sachverhalte beschränkt. Aufgebrochen werden kann nach Lukács die gesellschaftliche Verdinglichungsstruktur nur dadurch, dass sich das Proletariat seines Objektcharakters bewusst wird und damit die strukturellen Ursachen der Verdinglichung erkennt. Nur das Proletariat kann sich aufgrund seiner besonderen Klassenlage deshalb als „Subjekt-Objekt“ (Lukács) konstituieren (74). Hier bringt Amlinger erneut das Wahrheitsthema ins Spiel. Sie glaubt, obwohl das so nicht aus dem Text von Lukács hervorgeht, dass dieser, um die „ideologische Verkehrung“ aufzuheben, eine „Praxis der Wahrheit“ (75) zu denken versuche. Wieder stellt sich so jedoch die Frage, was Amlinger inhaltlich mit Wahrheit meint. Soll sie eine metaempirische Instanz, einen Bewusstseinszustand, die objektive Realität, einen Erkenntnisprozess oder eine sonstige „Praxis“ kennzeichnen? Wenn Amlinger dabei von einer „Marxschen Wahrheitstheorie“ (76) und sogar allgemein von einer „Politik der Wahrheit“ (76) spricht, verweist das auf den Einfluss eines Diskurses, der mit den Namen von Alain Badiou, Jacques Rancière und Slavoj Žižek verbunden ist und im letzten Kapitel am Beispiel von Žižek auch explizit gemacht wird, ohne dass sich Amlinger jedoch mit diesem Diskurs unkritisch identifiziert. Gerade deshalb bleibt aber ihre Formel einer „Politik der Wahrheit“ im Zusammenhang mit Lukács unklar.

Wie Amlinger zu Recht feststellt, liegt der wesentliche Unterschied zwischen Lukács einerseits und Horkheimer/Adorno andererseits darin, dass Letztere eine praktische Aufhebung des „Ganzen als des Unwahren“ nicht mehr für möglich halten, während Lukács im revolutionären Bewusstsein des Proletariats die entscheidende geschichtliche Kraft gesehen hatte, die Verdinglichungsgewalt zu brechen. Folgerichtig stellt sie die Frage, ob aber, wenn nach der Aussage Horkheimers und Adornos in „Dialektik der Aufklärung“ das Moment der Wahrheit, das bisher stets im Ideologischen überlebte, definitiv eliminiert worden ist, die so eintretende Stilllegung der „Dialektik des Wahren und Falschen“ überhaupt noch rückgängig gemacht werden könne.

Am Beispiel der von Horkheimer/Adorno analysierten „Kulturindustrie“ beschreibt Amlinger, dass Ideologie sowohl eine (unbewusste) Verdoppelung der Realität als auch intentionale Manipulation beinhalte und so einen geschlossenen Verblendungszusammenhang hervorbringe, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Wenn Bewusstsein nicht mehr nur eine falsche Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit liefert, sondern selbst von den spätkapitalistischen Produktionsverhältnissen aufgesogen wird und wenn Subjektivität und Individualität einer „fordistischen Standardisierung der Kulturproduktion“ (89) zum Opfer fallen, lösen sich unvermeidlich auch die Widerstandspotentiale auf, die dem System der kapitalistischen Massenkultur bisher entgegengesetzt werden konnten. Infolgedessen kann Amlinger als Resultat der „Kulturindustrie“ nur eine vollständige Resignation ihrer beiden Autoren registrieren (92). Gleichzeitig entdeckt sie aber einen Widerspruch zwischen der pessimistischen Diagnose der „Kulturindustrie“ zum einen und dem Festhalten Horkheimers und Adornos am Anspruch auf Kritik des Unwahren. Vernunft könne sich nämlich selbst in Frage stellen, indem sie das Nichtidentische an ihr im Verhältnis zu Gesellschaft und Kultur reflexiv wahrnehme (103). Der letzte Funke einer „Praxis der Wahrheit“, so C. Amlinger, scheint also auch bei Horkheimer/Adorno noch nicht endgültig verglommen zu sein.

Ganz anders als die Repräsentanten der Frankfurter Schule konzipiert Louis Althusser das Ideologieproblem, das die Autorin im folgenden Kapitel rekonstruiert. Althusser als Protagonist eines marxistisch gefärbten Strukturalismus interessiere sich nicht primär dafür, wie Ideologie den Kapitalismus verkehrt abbildet, sondern für das, was mit den Subjekten geschieht, damit sie die herrschenden Verhältnisse durch ihre eigenen Praxen anerkennen. Entscheidend sei für Althusser, „wie sich die Menschen ihr Verhältnis zu den Produktionsverhältnissen vorstellen und wie dieses imaginäre Verhältnis ihre Praxis determiniert“ (106). Damit wird die Funktionsweise von Ideologie als Produktion von Subjektivität angesprochen. Ausführlich geht Amlinger deshalb auf Althussers Theorie der „Ideologischen Staatsapparate“ (ISA) ein. Während andere Ideologietheorien sich primär auf die Verzerrungen und Verkehrungen objektiver Verhältnisse richten, fragt Althusser danach, wie Subjekte dazu veranlasst werden, ein imaginäres Verhältnis zu ihren Existenzbedingungen zu entwickeln. Unter Einbeziehung der psychoanalytischen Auffassungen von Jacques Lacan, aber auch der Hegemoniekonzeption von Antonio Gramsci entwirft Althusser ein Modell der Subjektkonstituierung, das die (freiwillige) Unterwerfung der Subjekte unter die ISA beinhaltet, indem diese durch „Anrufung“ die habituellen Praxen der Subjekte generieren. Dabei weist Althusser, wie Amlinger hervorhebt, der Ideologie insofern eine „eigene Materialität“ (114) zu, als Ideologie in „Apparaten“ wie dem Recht, der Familie, dem politischen System usw. eine arbeitsteilige materielle Struktur annimmt. Daraus lässt sich nach Amlinger der Schluss ziehen, dass es bei Althusser Praxis nur durch Ideologie und Ideologie wiederum nur durch Subjekte gebe (116). Wie die Subjektkonstituierung bei Althusser verläuft, stellt die Autorin im folgenden Abschnitt dar, indem sie Subjektkonstituierung hier als eine „vierfache Spiegelungsstruktur“ auffasst: Subjekte werden erstens durch ISA „angerufen“, ihnen zweitens unterworfen, drittens dazu gebracht, sich wechselseitig und im Verhältnis zum Ideologischen (in Anlehnung an Lacan spricht Althusser von einem großen „SUBJEKT“) anerkennen und damit viertens die gegebene Ordnung als nicht anzuzweifelnde Verhältnisse bestätigen (119).

Hier wendet Amlinger gegen Althusser ein, dass seiner Theorie des Ideologischen eine Tendenz zur Ontologisierung eingeschrieben sei, die auf die Deutung der gesellschaftlichen Wirklichkeit überzugreifen drohe und sie als unveränderbar erscheinen lasse (123). Althusser hat dieses Problem offensichtlich selbst gesehen und zu lösen versucht, indem er zwischen Ideologie und Wissenschaft einen radikalen „epistemologischen Bruch“ vollzog. Dieser Bruch lokalisierte für Althusser gleichzeitig, wie Amlinger interpretiert, den „Ort der Wahrheit“, von dem aus die Realität der kapitalistischen Produktionsverhältnisse einer radikalen revolutionären Kritik unterzogen werden könne. Dem Produktionsprozess des Kapitals und der von ihm geschaffenen Verhältnisse setzt Althusser den wissenschaftlichen Produktionsprozess als „theoretische Transzendenz von der schlechten Totalität des Bestehenden“ (128) entgegen. Es handelt sich dabei mit den Worten Amlingers, die hier etwas unvermittelt und unausgesprochen auf die Husserlsche Phänomenologie zurückgreift, um eine „Epoché des Intellektuellen“, also um eine systematische Ausklammerung ideologischer Subjektivität durch wissenschaftliche Theorie. Man kann der Autorin nur zustimmen, wenn sie, Einwände von Jacques Rancière und Edward P. Thompson aufnehmend (131), zwischen Althussers Verabsolutierung von Wissenschaft und der Abschottung eines bürgerlichen Wissenschaftsverständnisses gegen die Wirklichkeit kritisch Parallelen zieht.

Das letzte Kapitel geht einer Ideologie- und Wahrheitsauffassung nach, die – im Widerspruch zum Strukturalismus, aber auch zum Relativismus postmoderner Autoren – Begriffen wie Ideologie, Subjekt und Wahrheit unwandelbare Gültigkeit attestiert und geradezu rigoros darauf besteht, dass aktuell beliebte Narrative der Entideologisierung und Entsubjektivierung selbst nichts anderes sind als Fetischisierungen des modernen Kapitalismus. Als Repräsentant einer die „postideologische Ideologie“ frontal angreifenden „Politik der Wahrheit“ stellt Amlinger Slavoj Žižek vor, der vor allem im Spektrum der Globalisierungsgegner und „interventionistischen Linken“ auf große Resonanz stößt. Für Žižek, so erfährt man bei Amlinger, manifestiert sich Ideologie gerade darin, dass die Subjekte glauben, sich von ihr gelöst zu haben (143). Die Illusion, sich nicht mit den kapitalistischen Verhältnissen zu identifizieren und eine Haltung „aufgeklärter“ Distanz zu ihnen einzunehmen, produziere erst eine wirkliche Identifizierung mit ihnen. Während die Vertreter eines „postpolitischen“ Denkens das Ende jeder sich auf Wahrheit berufenden Ideologie behaupten, insistiert Žižek , anknüpfend an Alain Badiou und Jacques Rancière, im direkten Gegensatz dazu auf einer „Politik der Wahrheit“. Sie setzt Žižek mit geradezu fundamentalistischer Verve dem gängigen Politikverständnis als technokratischem Krisenmanagement entgegen. Zwischen der „Politik der Wahrheit“, die auf einer ewigen Geltung universalistischer Werte wie Gerechtigkeit und Gleichheit beruht und sich nicht empirisch widerlegen lässt, einerseits und der „alltäglichen Regierungspraxis“ (146) andererseits besteht ein unaufhebbarere Antagonismus. Er macht es unmöglich, die „Politik der Wahrheit“ und die aus ihr abgeleitete „kommunistische Hypothese“ (Alain Badiou) technokratisch für die Anpassung an das Bestehende zu instrumentalisieren. Weil die Wahrheit des Kommunismus universell und zeitlos ist, bleibt auch, wie Amlinger Žižek adäquat referiert, die Revolution als „Wahrheitsereignis“ für Žižek immer aktuell. Allerdings verhinderten „multiple Antagonismen“ (Žižek) des globalisierten Kapitalismus, dass sich, wie der klassische Marxismus unterstellt habe, die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt konstituiere. Stattdessen sei diese Möglichkeit auf den „Anteil der Anteillosen“ (153), also auf die vom Kapitalismus exkludierten Massen in den Slums und Favelas globaler Megastädte übergegangen.

Plausibel wendet Amlinger gegen Žižek ein, dass seine Verabsolutierung von Wahrheit zu „ontologischer Transzendenz“ und von Revolution zum „Wahrheitsereignis“ (157) einen die konkrete politische Praxis delegitimierenden Maximalismus befürworte. Žižeks Negation des postmodernen und postpolitischen Relativismus drohe seinerseits in Essentialismus umzuschlagen (157).

Im Schlusskapitel hebt Amlinger noch einmal wesentliche Aspekte und Zusammenhänge ihrer vorausgegangenen Überlegungen und Interpretationen hervor und benennt gleichzeitig Defizite der von ihr berücksichtigten Autoren.

Mit ihren Studien liefert sie, so lässt sich der Eindruck der Lektüre des Buches zusammenfassen, einen exzellenten Überblick über die ideologietheoretischen Positionen prominenter Autoren des marxistischen Diskurses. Sie hat sich gründlich mit deren jeweiliger Denkweise und Argumentationslogik vertraut gemacht und vermag sie deshalb kompetent darzustellen und zu kommentieren. Da, wo Amlinger nicht nur referiert, sondern kritisch kommentiert, sind ihre Einlassungen überzeugend. Ja, man hätte sich durchaus gewünscht, dass sie ihre eigene Kritik noch ausführlicher entfaltet und systematischer in die Darstellung eingearbeitet hätte. Auch wäre es sicherlich für das Verständnis ihrer begrifflichen Basis hilfreich gewesen, wenn sie auf eine eigene inhaltliche Definition von „Wahrheit“ nicht verzichtet hätte. Schließlich hätte eine diskursgeschichtliche Kontextualisierung der einzelnen Positionen den Zugang zur Thematik im Einzelnen erleichtern können.

Unabhängig davon handelt es sich um eine ebenso gelungene wie anspruchsvolle Darstellung des Ideologie-Wahrheitsproblems im Denken der von Amlinger ausgewählten Autoren. Wer sich mit dieser oder einer ähnlichen Thematik in gesellschaftskritischer Perspektive beschäftigen will, wird das überdies sehr gut geschriebene Buch mit großem Gewinn lesen.

Lothar Peter

Beim Geld hört die Freundschaft auf

Klaus Müller, Geld. Von den Anfängen bis heute, Ahriman-Verlag, Freiburg 2015, 572 S., 27,80 Euro

Der Rezensent gesteht, in manchen seiner eigenen Arbeiten, sofern das Geld eine Rolle spielte, darüber geschrieben zu haben, ohne jede Formulierung – so wie es bei diesem Thema notwendig ist – auf die Goldwaage gelegt zu haben. Obwohl an Marx geschulter Ökonom, schlichen sich Nachlässigkeiten, vielleicht auch Fehler in manche seiner Publikationen ein. Zu dieser Selbstkritik am geldtheoretischen Schlendrian, dem viele Autoren unterliegen, sieht er sich nach der Lektüre von Klaus Müllers „Geld“ veranlasst. Müller, der sich, „vom alltäglichen Geldkram“ durch seine Gattin abgeschirmt, jahrzehntelang wissenschaftlich mit dem Geldbeschäftigt hat (16), entwickelt nicht nur eine Geldtheorie, die bis auf den letzten Grund der Geldbestimmungen vordringt und keine Oberflächlichkeit der Analyse durchgehen lässt, er setzt sich auch geradezu ausufernd und akribisch mit allen wichtigen Geldtheorien in Vergangenheit und Gegenwart auseinander. Seine Argumentation verbindet Logisches und Historisches, auch Unterhaltsames, in beispielhafter Weise und ist durch Scharfsinn und kategoriale Genauigkeit gekennzeichnet. Zu dieser Charakterisierung muss man auch dann gelangen, wenn man – wie der Rezensent – nicht alle Auffassungen Müllers teilt.

Sein zentraler Gegenstand ist die Wertformenanalyse. Das schließt die Fragen ein: Was ist Geld? Wie ist es entstanden und wie hat es sich entwickelt? Welche Formen nimmt es an? Welche Funktionen übt es aus? Wie ist sein Wert bestimmt? Wodurch werden Werte und Preise bestimmt? Was ist und was kann Geldpolitik? Was lässt sich über die Zukunft des Geldes sagen? Daneben werden mehr oder weniger angrenzende Themen, wie Wirtschaftswachstum, Marx‘ Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, Probleme der ökonomischen Methoden oder des Umgangs von Friedrich Engels mit den Manuskripten von Karl Marx und anderes behandelt.1

Wie ein roter Faden zieht sich durch das Buch der Disput, ob das Geld aus dem Warenaustausch oder aus Schuldverhältnissen entstanden ist, ob es einer Geldware bedarf und, wenn ja, ob diese Ware noch das Gold sein kann. Müller geht hier auf alle wesentlichen Standpunkte in der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften ein und schließt darin auch die unterschiedlichen heutigen Marxinterpretationen, insbesondere auch die so genannte „Neue Marx-Lektüre“, ein. Sein außerhalb des Mainstreams liegender Standpunkt kann wie folgt zusammengefasst werden: „Geld wird in diesem Buch betrachtet als Produkt und Element der Warenproduktion. … (Es) ist das allgemeine Äquivalent für den Wert der gewöhnlichen Waren … (und) drückt die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit aus, die in den gewöhnlichen Waren enthalten ist. Geld ist somit sachlicher Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses. … Die Werte der Waren erscheinen mit Hilfe des Geldes als Preise.“ (121). Allgemeines Äquivalent, Maß der Werte und Maßstab der Preise könne Geld nur sein, wenn es selbst eine mittels Arbeit produzierte Ware ist. Dazu bedürfe es keiner juristisch fixierten Bindung des umlaufenden Zentralbankgelds an diese Geldware, die durch Surrogate, Repräsentativgeld, ersetzt werden könne. Heute sei das Papiergeld der Zentralbanken – für welches eine allgemeine, gesetzliche Annahmepflicht, aber keine Pflicht zur Einlösung in Geldware bestehe – dieses Repräsentativgeld. Ist diese Ware noch das Gold? Müller krümmt und windet sich, um schließlich etwas sybillinisch festzustellen: „Gold, scheinbar entbehrlich, ist das Geld für den Fall der Fälle. Wie eine Katzenmama ihre Jungen behüten die Zentralbanken ihre Goldreserven. Zwar ist das kein Beweis, dass Gold die Geldware geblieben ist. Aber erst recht nicht, dass es keine mehr ist.“ (238) Das im Bankensektor geschaffene Kreditgeld, die so genannte Geldschöpfung aus dem Nichts, „ist seinem Wesen nach eine Forderung auf das Zentralbankgeld, bleibt diesem untergeordnet und ist von ihm abgeleitet.“ (247)

Dieses Resümee verdeutlicht, dass sich Müller wohlbegründet von Marx‘ Geldtheorie leiten lässt. Hinter den etwas skurrilen, auf den ersten Blick nichtssagenden Kapitelüberschriften („Klären“, „Streiten“, „Ordnen“, „Werten“, „Keimen“ usw.) verbirgt sich im Grunde genommen die Art und Weise, wie das Geld in den drei Bänden des „Kapital“ entwickelt und dargestellt wird: Ware und Wert, logische und historische Entwicklung der Wertformen bis zur Geldform, Geld als Maß der Werte und Maßstab der Preise, weitere Geldfunktionen, Geld als Kapital, Geldarten, Inflation, Geldpolitik, Wechselwirkung zwischen monetärer und güterwirtschaftlicher Sphäre.

Müllers Arbeit ist keine bloße Rekapitulation von Marx‘ Geldtheorie, sondern geht darüber hinaus. Sie bietet hinsichtlich der historisch-empirischen Abstützung ihrer Wertformenanalyse neues und erstmalig präsentiertes Material. Vier Aspekte seien besonders hervorgehoben: Erstens erfolgt eine weit umfassendere historische und empirische Untermauerung der Geldtheorie, als sie Marx möglich war. Die im Verlauf der vergangenen einhundert bis einhundertfünfzig Jahre veröffentlichten historischen und archäologischen Fakten über die Entstehung und Entwicklung des Geldes werden als ein großes geschichtliches Panorama ausgebreitet. Diese historische Tour würzt Müller mit allerlei Anekdoten und Anekdötchen. Geldgeschichtliche Publikationen hat es vor allem seit der letzten Weltwirtschaftskrise viele gegeben. Der Vorzug der hier vorgelegten Darstellung, die mit Gewinn auch von vorwiegend nur an dieser Geldhistorie oder gar nur an der Geldzeichen- und Münzgeschichte Interessierten gelesen werden kann, besteht darin, dass diese Geschichte auf der Grundlage einer zwar sehr komplexen, aber eben auch einheitlichen, in sich widerspruchsfreien und weitgehend gesicherten Geldtheorie behandelt wird.

Zweitens stellt Müller die Geldentwicklung bis in die unmittelbare Gegenwart des elektronischen Geldes dar, die er als deren 10. Stufe der Wertformenentwicklung identifiziert (214). Es fehlen weder solche Kuriosa der Vergangenheit wie die Steine der Insel Yap, noch die die BITCOINS oder die unterschiedlichen Zahlungssysteme. Auch die jüngsten Versuche, Regionalgeld zu etablieren, werden behandelt. Leider fehlt hier das Gegenstück: die Währungsunion und deren Probleme. Im letzten, mit „Träumen“ überschriebenen XVIII. Kapitelstellt er die Frage nach der Zukunft des Geldes. Müller lässt keinen Zweifel daran, dass er eine Gesellschaft vorziehen würde, in der die „Beziehungen untereinander gemeinschaftlich, demokratisch, friedlich, solidarisch, gerecht und ökologisch“ (499) gestaltet werden und die vielleicht auch als Kommunismus bezeichnet werden könnte. Sie bedürfte zwar keines Geldes mehr, zumindest, sofern die individuelle Arbeit von vornherein als gesellschaftlich notwendige, den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechende Arbeit geleistet würde. Aber nicht die Abschaffung des Geldes, wie von manchen Theoretikern behauptet, würde die Probleme der Welt lösen. Und sowieso: „In absehbarer Zeit ist der Traum von einer Gesellschaft ohne Geld eine Illusion.“ (498)

Drittens. Wie schon an anderer Stelle in dieser Zeitschrift2 setzt sich Müller grundsätzlich mit den Möglichkeiten und Grenzen der Geldpolitik der Zentralbanken auseinander und kritisiert bei dieser Gelegenheit unter anderem auch den geldpolitischen Optimismus der Memorandum-Gruppe (458). Müller kann sich bei seiner Auffassung, die Zentralbanken würden auf Marktprozesse eher reagieren als diese zu dirigieren (486), nicht nur auf die wechselseitige Kritik der diesbezüglichen Theorien von Keynesianern und Monetaristen berufen. Er holt sich auch Verstärkung bei John K. Galbraith und zitiert:„Der Glaube, etwas so Komplexes … wie das Geld lasse sich durch … einfache Entscheidungen beeinflussen, (ist) frommes Wunschdenken. So viel inbrünstige Realitätsverleugnung ist schier unglaublich.“ (459). Für Galbraith wie für Müller ist die Zentralbank Element einer „komplexen wirtschaftlichen Ganzheit, deren Gesetzen und Zwängen sie sich nicht entziehen kann, an die sie sich im Gegenteil anpasst, auf die sie reagiert.“ (486) Zentralbankpolitik sei zwar nicht wirkungslos, aber keineswegs so souverän, wie oft behauptet, und ihre Wirksamkeit sei unsicher. Der Leser, der nach der Lektüre auch theoretisch verstanden hat, dass die von vielen Wirtschaftswissenschaftlern und -politikern übertrieben dargestellten Steuerungsmöglichkeit der Zentralbanken Grenzen hat, fragt sich natürlich, was denn nun die Geldpolitik innerhalb dieser Grenzen tatsächlich vermag. Ist es wirklich egal, welche geldpolitische Strategie verfolgt wird? Gibt es keine falsche oder richtige Geldpolitik? Sind nur Monopolkonzerne so mächtig, Märkte zu beeinflussen, nicht aber die Zentralbank mit dem Monopol auf das Zentralbankgeld, hinter dem „die Nation mit ihrem Gesamtreichtum … steht“, wie es schon im „Kapital“ zu lesen ist? EZB-Präsident Draghi nur ein Grüß-August? Marx schreibt auch: „Die größte Kapitalmacht in London ist natürlich die Bank von England.“ „Die Macht der Bank von England zeigt sich in ihrer Regulierung der Marktrate des Zinsfußes.“ „Die Zentralbank ist Angelpunkt des Kreditsystems.“3 Spielt unter den Bedingungen einer Papiergeldzirkulation neben anderen Faktoren nicht die umlaufende Papiergeldmenge eine wichtige Rolle für das Preisniveau? Müller zitiert Engels, der beschreibt, wie es der Bank von England 1857 gelingt „die Krise zu brechen“ (476). Wirklich nur eine nebensächliche Episode? Sind kurzfristige, zeitlich begrenzte Effekte der Zentralbankpolitik nicht eminent wichtig für den konkreten Verlauf des Zyklus? Erleben wir heute nicht am Beispiel Griechenlands, wie die Europäische Zentralbank mit der Bereitstellung von mehr oder weniger ELA-Krediten (Emergency Liquidity Assistance) dieses Land weiter zu strangulieren oder auch am Leben zu erhalten vermag?

In diesem Kontext ist auch Müllers kritische Sicht auf die These vom finanzmarktgetriebenen Kapitalismus zu hinterfragen. Es gebe zwar Wechselwirkungen, „grundsätzlich aber dominieren die güterwirtschaftlichen die monetären Verhältnisse und nicht umgekehrt.“ (469) Nun lassen die Worte „grundsätzlich“ und „dominieren“ immer einen weiten Interpretationsspielraum zu. In einer Wirtschaftsweise, in der das Geld als Kapital am Anfang und als Ziel auch am Ende des Kapitalkreislaufes steht (G – W … P … W‘ – G‘) ist es aber nicht unwahrscheinlich, dass in der Konkurrenzbeziehung zwischen fungierenden Kapitalisten und Geldkapitaleignern auch letztere dominieren können. Das Kreditsystem, schreibt Marx, sei „Triebfeder der kapitalistischen Produktion“. Es gebe „ dieser Parasitenklasse eine fabelhafte Macht, nicht nur die industriellen Kapitalisten periodisch zu dezimieren, sondern auf gefährlichste Weise in die wirkliche Produktion einzugreifen – und diese Bande weiß nichts von der Produktion und hat nichts mit ihr zu tun.“4 Diese Sätze werden vor hundertfünfzig Jahren geschrieben, zu einer Zeit, als das Finanzsystem im Vergleich zu heute noch in den Kinderschuhen steckte!

Viertens. Müller bescheinigt der Geldtheorie einen insgesamt „chaotischen Zustand“ (314). Er geht an allen Stellen seines Werkes ausführlich auf frühere und heutige Debatten über das Geld ein. Dies gilt für die schon von Marx behandelten Geldtheorien wie für die seitdem entwickelten Auffassungen. Hervorzuheben sind hier der Monetarismus, der Metallismus, der Nominalismus, Georg F. Knapps Chartialismus, die Theorien von John M. Keynes, Silvio Gesell, David Graeber, Gunnar Heinsohn/Otto Steiger; die von der sogenannten „monetären Werttheorie“ ausgehende „Neue Marx-Lektüre“ und die „Geldschöpfungstheorie“. Anhand dieser Debatten schärft Müller seine Geldtheorie und seine Methodik. Obwohl er betont, dass die von ihm aufgeführten Fakten zugunsten der eigenen Theorie für sich genommen nichts beweisen würden – dies könne nur empirische in Verbindung mit analytischen Argumenten leisten – so würden sie noch weniger für die anderen, kritisierten Geldtheorien sprechen (vgl. 237, 238, 284).

Müllers Argumentation ist nicht nur scharfsinnig, sondern auch äußerst scharfzüngig. Er schreibt polemisch und oft witzig sowie mit Ironie gewürzt. Ob aber solche Äußerungen wie zum Beispiel „Harvey trompetet“ (100), „geblähte Herablassung“ bei David Graeber (21), „ausgemachter Unsinn“ oder „mäßige Geistesgestörtheit“ (26) der von ihm geforderten Versachlichung der Debatte dienlich sind, darf bezweifelt werden. Beim Geld, wird gesagt, hört die Freundschaft auf, aber er hätte da besser der von ihm zitierten Jenny Marx folgen sollen, die ihren Mann mahnte, „nicht zu gallicht und gereizt“, sondern „sachlich und fein oder humoristisch und leicht“ zu schreiben. (8) Eigentlich kennt man den wissenschaftlich und publizistisch fleißigen Müller auch nicht anders und fragt sich, welcher Teufel – das Wappentier des Ahriman-Verlages – ihn oder seinen Lektor da geritten hat.

An manchen Stellen interpretiert Müller seinen Gegenstand ziemlich weit und kommt auf Dinge zu sprechen, die er sich, wie mir scheint, als ein linker Professor schon lange Mal von der Seele schreiben wollte. Das betrifft einige Abschnitte im Kapitel „Spekulieren“, wo er ausführlich über Techniken der Börsenspekulation schreibt. Das trifft auch auf die Kapitel „Wachsen“ und „Teilen“ zu, wo die Ausführungen über Demografie, Grenzen des Wachstums, Nachhaltigkeit, die Verteilung, das Rentensystem und das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Geld immer und überall eine Rolle spielt, doch recht weit weg von seinem Thema führen. Lesenswert sind diese Teile allemal, wenngleich sich auch ihnen manche Geister scheiden werden.

Müller beschreibt und modelliert sehr breit die Bestimmung und Messung der Wertgröße aus der „vollen Arbeitszeit“ (64). Da wäre eine etwas ausführlichere Darstellung des Problems der Reduktion komplizierter auf einfache Arbeit und der Bestimmung internationaler Werte sicher angemessen gewesen. Die Verwandlung von Werten in Produktionspreisen im Kapitalismus der freien Konkurrenz, die für das Preisverständnis unumgänglich ist, schließt Müller mit einer lediglich kurzen Erwähnung des Monopolwertes beziehungsweise -preises ab (87). Abgesehen davon, dass die Rekapitulation der Monopolpreis-Diskussion der 1980er Jahre für die gesamte Methodik einer Theorie der Werte und Preise sowie des Geldes erhellend gewesen wäre, ist sie für eine auf die Gegenwart zielende Geld- und Preistheorie eigentlich unverzichtbar. Nicht nur aus diesem Blickwinkel des Platzgewinns hätte der Verlag auf die beiden Anhänge (zwei Artikel aus den „Ketzerbriefen“ des Ahriman-Verlags), von denen einer überhaupt nichts zum Thema beiträgt und der andere über Inflationsmessung ohne jegliche Bezugnahme zu Müllers interessanten Ausführungen dazu ist, gut verzichten können. Gleiches trifft auf das Geleitwort von Fritz Erik Hövels zu, das dieser seltsamerweise als notwendig erachtet, um Müllers Arbeit überhaupt „mit Gewinn nutzen zu können“ (vgl. xviii).

Jürgen Leibiger

Kapitalismus in Deutschland 1950 bis 2013

Stephan Krüger, Entwicklung des deutschen Kapitalismus 1950 - 2013. Beschäftigung, Zyklus, Mehrwert, Profitrate, Kredit, Weltmarkt, Hamburg 2015, VSA-Verlag, 140 S., 12,00 Euro

Der Name Stephan Krüger spricht für sich. Seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre versorgt der marxistische Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler mit der Zusammenstellung und Analyse makroökonomischer statistischer Daten der Bundesrepublik linke Wissenschaftler mit wertvollen Informationen. Auch in der vorliegenden Publikation nutzt Krüger die offiziellen Daten, die die zuständigen Behörden der Bundesrepublik veröffentlichen, gestaltet sie, soweit für eine exakte Analyse der Wirklichkeit notwendig, entsprechend den Grundsätzen der Arbeitswerttheorie um und ermöglicht auf diese Weise eine marxistische Analyse der Sozial- und Wirtschaftsentwicklung der alten und der vergrößerten Bundesrepublik.

„Was macht die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie … zu dem überlegenen Paradigma der Analyse des kapitalistischen Akkumulationsprozesses?“ fragt Stephan Krüger einleitend. „Im Wesentlichen dies, dass sich ihre Kategorien und die durch sie ausgedrückten ökonomischen und sozialen Zusammenhänge durch den ideellen Nachvollzug der Bewegung des Werts als Kapital ergeben und daher die Wirklichkeit ohne jede Zutat eines theoretischen Räsonnements offenlegen. Diese ideelle Reproduktion realer Prozesse ermöglicht zudem, dass die fundamentalen ökonomischen Funktionszusammenhänge gegenüber deren äußeren Erscheinungsformen, die ebenso viele Mystifikationen und Verkehrungen der ersten enthalten können, dechiffriert werden.“ (13)

Diese Ankündigung ist ein Versprechen. Es einzuhalten ist Krüger in der Lage. Das sei gleich vornweg gesagt.

Die wichtigsten Themen, denen Stephan Krüger sich in dieser Publikation widmet, sind bereits im Untertitel vorgestellt. Ergänzend sei noch auf folgende verwiesen: Die soziale Stellung der arbeitenden Klasse, die ökonomischen Aktivitäten des Staates, die Entwicklung des Aktienkapitals und der Börsenumsätze, die Rolle des bundesdeutschen Kapitals auf dem Weltmarkt. Ebenso behandelt werden die Krise in der Eurozone und die Politik der Europäischen Zentralbank. Als Ausgangsmaterial für seine Analysen nutzt Krüger die Daten des Statistischen Bundesamtes, der Deutschen Bundesbank, des Münchener Ifo-Instituts sowie statistische Daten der Europäischen Zentralbank und der Welthandelsorganisation.

Jedes der von ihm behandelten Themen ist in mehrere Abschnitte unterteilt. Zu jedem dieser Abschnitte existiert mindestens eine Graphik, die kommentiert wird. Das ermöglichst bzw. erleichtert auch dem weniger mit statistischen Daten vertrauten Leser die Entwicklungsgeschichte der Wirtschaft der Bundesrepublik jeweils von 1950 bis 2013 – bei letzterem Jahr handelt es sich um das jüngste Jahr für das Daten bereits verfügbar sind – zu verfolgen und zu verstehen. Die Quellen sind jeweils angegeben. Die von Krüger selbst berechneten Daten sind in einem 18-seitigen Tabellenanhang ausgewiesen.

Diese Art der Darstellung ermöglicht zweierlei: Erstens erlaubt sie einen – in dieser Art meines Wissens bisher nicht vorhandenen – Gesamtüberblick über mehr als sechs Jahrzehnte deutscher Nachkriegs- Wirtschaftsgeschichte. Zweitens lassen sich die Auswirkungen bestimmter aus dem Geschichtsverlauf der Bundesrepublik herausragender ökonomischer Ereignisse in Bezug auf ihre unmittelbaren und längerfristigen Einwirkungen und Auswirkungen erkennen. So nimmt Krüger auch im abschließenden seine Analysen summierenden Kapitel, „Vom Wert der Ertragsrechnung“ betitelt, zu den viel diskutierten, sich seit den Konjunktureinbrüchen von 1974/75 vollziehenden Veränderungen in der Struktur der Kapitalakkumulation Stellung. Er charakterisiert sie als Kennzeichen der Ablösung einer Periode beschleunigter Kapitalakkumulation in den Nachkriegsjahrzehnten durch eine Periode der Überakkumulation von Kapital in den kapitalistischen Metropolen „die chronischen Charakter hat oder strukturell ist, weil sie nicht nur kurzfristig-zyklisch auftritt, sondern während aller Phasen des industriellen Zyklus, wenngleich in unterschiedlichem Umfang und unterschiedlicher Intensität, anhält“ (111).

Krüger unterteilt die Mitte der 70er Jahre angebrochene zweite Entwicklungsperiode der Wirtschaft der Bundesrepublik in drei Phasen: Erstens die der Stagflation, zweitens die Phase der Angebotspolitik, wo versucht wird „durch Flexibilisierung der Geldlöhne nach unten die bereits marktmäßig durch steigende Arbeitslosenzahlen vorbereitete Umverteilung von den Löhnen zu den Profiten zu forcieren“ (112). Dieser folgt eine dritte Phase, die Krüger folgendermaßen charakterisiert: „Die immer fühlbarer gewordene (Konsum-)Nachfrageschwäche … sollte nunmehr durch eine finanzmarktbasierte, Konsumentenkredite gestützte Expansion der Massennachfrage geheilt werden“. Dabei handele es sich um einen Prozess, „der von vornherein zum Scheitern verurteilt war, weil er nicht nachhaltig ausgestaltbar ist.“ (114)

Während der Entwicklungsbruch von 1974/75 bereits vielfach gedeutet wurde sind die mittel- und langfristigen Auswirkungen der Wiedervereinigung auf die bundesdeutsche Kapitalakkumulation bisher noch (zu) wenig Gegenstand von Analysen gewesen. Krüger widmet diesem Thema keinen gesonderten Abschnitt. In seiner Analyse der Gesamtentwicklung der Wirtschaft der Bundesrepublik geht er aber wiederholt an gegebener Stelle auf die Folgen des Anschlusses der DDR an die BRD ein.

Der – wie ihn Krüger nennt – „kurzzeitige DDR-Anschlussboom“ von 1990/91 hat – gesamtdeutsch betrachtet – zu einer asymmetrischen Belebung der Investitionsnachfrage geführt, die rückläufige Entwicklung des öffentlichen Konsums zeitweise unterbrochen und die Kreditaufnahme der öffentlichen Haushalte zur Refinanzierung fällig gewordener Schuldtitel (u.a. durch Übernahme der Treuhandschulden) in die Höhe schnellen lassen. Weiter heißt es bei Krüger über die infolge des Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik notwendig werdenden Transferleistungen: „Die Schere bei der Entwicklung der Brutto- und Nettoarbeitsentgelte seit Beginn der 1990er Jahre verdankt sich hauptsächlich einer steigenden Steuerlast und nur geringfügig steigenden Sozialabgaben.“ (80). Auch bezüglich der Auswirkungen anderer „Unregelmäßigkeiten“ in der Wirtschafts- und Sozialentwicklung der BRD über die von ihm umfassend charakterisierten elf Konjunkturzyklen der Nachkriegszeit hinaus kann man in Krügers Buch fündig werden.

Die Lektüre von Stephan Krügers Buch lohnt sich für alle, die sich über die ökonomische und soziale Entwicklung der Bundesrepublik einen Überblick verschaffen wollen, aber auch für jene, die Einzelereignisse in die Gesamtgeschichte der Bundesrepublik einzubetten beabsichtigen. Zusammenfassend kann man feststellen: Für alle, die sich mit der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte nach 1945 beschäftigen bzw. sich für sie interessieren ist Krügers Buch eine Publikation, die sie bei der Lektüre der Fachbücher zum Thema auf keinen Fall auslassen sollten.

Jörg Roesler

Kapitalismus und Buchhaltung

Jane Gleeson-White, Die doppelte Buchführung und die Entstehung des modernen Kapitalismus, Klett-Cotta, Stuttgart 2015, 366 S., 24,95 Euro

Das Buch ist eine herbe Enttäuschung. Man erfährt einiges über die Geschichte der doppelten Buchführung, fast nichts über den Kapitalismus und wenig über den Zusammenhang zwischen beiden. Die in Australien lebende Autorin hat Universitätsabschlüsse in Wirtschaftswissenschaften und Literaturwissenschaft vorzuweisen und kennt sich in der Kunst der italienischen Renaissance aus. Wahrscheinlich ist sie deshalb auf die Idee gekommen, sich mit der im Venedig der Renaissanceperiode entstandenen doppelten Buchhaltung zu befassen. Leider widersteht sie nicht der Versuchung, den Zettelkasten ihres reichen Wissens auszuschütten, was oft nur entfernt mit dem Thema zu tun hat.

Sie beginnt in den beiden ersten Kapiteln mit einem Überblick über die Entwicklung von Rechnen und Berechnen, von Mathematik und Zahlen. Da es bei der doppelten Buchführung um Zahlen geht, gibt es zwar einen Zusammenhang – aber auch die einfache kaufmännische Einnahmen-Ausgabenrechnung benutzt Zahlen. Das dritte Kapitel widmet sich der Biografie des Mannes, der das System der doppelten Buchführung, die „venezianischen Methode“ (17), erstmals systematisch beschrieben hat: der Franziskaner Luca Pacioli, geboren um 1440 in der Nähe von Florenz.

Mit dem Thema im engen Sinne befassen sich Kapitel 4 und 5, in denen die Methode vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Rolle Venedigs beschrieben wird: Kernpunkt ist, dass die doppelte Buchführung jeden Geschäftsvorfall (Kauf oder Verkauf) zweimal registriert, entsprechend den damit verbundenen Veränderungen bei der Finanzierungsquelle einerseits (z.B. Minderung des Kassenbestands) und des Warenbestandes (z.B. der Tuchvorräte) andererseits. Das ermöglicht es dem Kaufmann, sein Vermögen auf zwei Wegen festzustellen, durch den Vergleich von Beständen und Schulden einerseits und die Analyse der Zahlungsströme andererseits (heute durch Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung). Die Autorin beschreibt auf der Grundlage des Textes von Pacioli die damals bereits seit zweihundert Jahren praktizierte Methode: „Mit den 27 Seiten seiner ‚Summa‘ war Pacioli der erste, der die venezianische Methode der Buchführung systematisch festhielt ….“ (135).

Leider behandelt die Autorin in den folgenden Kapiteln kaum die damit verbundenen Probleme, unterschiedliche Bewertungspraktiken usw., sondern zieht es vor, über den Zusammenhang zwischen Buchführung und Kapitalismus zu spekulieren, insbesondere in den Kapiteln 6 und 7. Die These, dass die doppelte Buchführung den Kapitalismus hervorgebracht habe, hat sie bei Werner Sombart entliehen – eigene Belege liefert sie nicht. Immerhin ist sie fair genug darauf hinzuweisen, dass die Methode zwar seit dem 14. Jahrhundert praktiziert wurde, aber keineswegs überall: „Faktisch weisen die wenigen Geschäftsbücher, die aus der Zeit zwischen dem 14. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts erhalten sind, darauf hin, dass das System der doppelten Buchführung in dieser Zeitspanne kaum in die Praxis umgesetzt wurde“ (200). Weiter zitiert sie Autoren, die daraus schlussfolgern, dass der „Geist des Kapitalismus“ auf der Welt war, lange bevor die doppelte Buchführung gängige Praxis wurde. Der zweite Kronzeuge der Autorin, Max Weber, ist eher ungeeignet: Er spricht nur allgemein von „rationaler Kapitalrechnung“, die – behauptet die Autorin – aus den „Prinzipien der doppelten Buchführung“ abgeleitet sei. Das ist ziemlich weit hergeholt. Dabei übersieht sie merkwürdigerweise einen Aspekt, der (im Gefolge Webers) für ihre These sprechen könnte: Indem die doppelte Buchführung den Kaufmann zwingt, zwischen Privatvermögen und Geschäftsvermögen zu trennen (das Kassenkonto des Unternehmens ist ein Schuldkonto, 145) erzeugt sie etwas, das bei Max Weber als Merkmal des modernen Kapitalismus gilt: die Trennung zwischen Betrieb und Eigentümer. In den weiteren Kapiteln geht es – neben dem Wandel des Buchhalterberufs vom gewissenhaften Diener des Unternehmers zum Bilanzfälscher und Unternehmensberater (Kap. 6 und 9) – vor allem um die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) und das Bruttoinlandsprodukt (BIP), für die Autorin Inbegriff der Irrwege des Kapitalismus: „Das im 13. Jahrhundert in Venedig entstandene und später von Luca Pacioli festgeschriebene System der doppelten Buchhaltung hat sich in ein peinlich genaues, erdumspannendes Berechnungsinstrument verwandelt.“ (299) Letztlich geht es der Autorin aber weniger um doppelte Buchführung als um die Herrschaft der Zahlen: „Unser moderner Drang, alles zu vermessen, entstand im späten Mittelalter; damals fand ein ‚radikaler Wahrnehmungswandel‘ statt, bei dem die Mathematik, die Buchführung nach venezianischer Art und Luca Pacioli eine Schlüsselrolle spielten.“ In diesem Kontext sei erwähnt, dass das Steuererhebungssystem des zentralstaatlich organisierten China schon viel früher zu extremem Vermessungsdrang führte – ohne Luca Pacioli und doppelte Buchführung.

Die Kapitel 8 und 10 beschreiben die Herausbildung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, was man allerdings anderswo (z.B. bei Daniel Speich-Chassé, Die Erfindung des Bruttosozialprodukts, Göttingen 2013) schon besser gelesen hat. Vor allem ist der von ihr behauptete direkte Zusammenhang zwischen doppelter Buchführung und VGR nicht nachvollziehbar. Sicher hat die VGR Anleihen bei der Methode der doppelten Buchführung genommen (z.B. das Kontensystem), andererseits aber gibt es grundlegende Unterschiede: Während die doppelte Buchführung die Analyse von Waren- und Geldströmen mit der Vermögensrechnung verbindet, beschränkt sich die VGR auf Wirtschaftsströme. Dass die Autorin diesen grundlegenden Unterschied zwischen VGR und doppelter Buchführung nicht thematisiert ist umso merkwürdiger, als sie Autoren zitiert, die diesen Mangel beklagen: „Die BSP-Statistiken geben die entscheidenden Wirtschaftsströme wieder – … – sie messen aber nicht den Zustand des ‚Stammkapitals‘“ wozu sowohl das menschengemachte „Kapital“ als auch die natürlichen Ressourcen zählen (274). Sie kann auch nicht erklären, warum der moderne Kapitalismus so lange ohne VGR auskommen konnte: Erst in den 1950er Jahren wurde das heute bestehende System entwickelt, was weniger eine Folge des Zusammenbruchs des Laisser-faire-Kapitalismus in der Krise 1929/32 war (wie die Autorin meint) als vielmehr mit der sich zuspitzenden Systemkonkurrenz nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenhing: Unser heutiges System der VGR ist auch ein Kind des Sozialismus – noch in den 1960er Jahren gab es prominente Ökonomen, die der VGR als Einfallstor sozialistischer Lenkungswirtschaft misstrauten.

Während die Autorin der müßigen Frage nachgeht, ob es sich beim Zusammenhang zwischen doppelter Buchführung und Kapitalismus um ein „Henne und Ei“-Problem handelt (Kap. 7), versäumt sie es, die eigentlich spannende Frage zu behandeln, wie sich die Entwicklung des Kapitalismus in den Buchführungssystemen widerspiegelt.

Jörg Goldberg

Am weißen Faden

Sven Beckert, King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus. Aus dem Amerikanischen von Annabel Zettel und Martin Richter. Verlag C. H. Beck, München 2014 [2. Aufl. 2015], 526 S., 29,95 Euro

Noch 1996 vermerkte Eric Hobsbawm in einem Vortrag, jüngere Historiker(innen) schrieben keine Gesamtdarstellungen mehr und konzentrierten sich, wollten sie Erfolg haben, auf Detailstudien. Das hat sich inzwischen geändert. In einer Gemeinschaftsproduktion von C. H. Beck und Harvard University Press erscheint eine sechsbändige – sage und schreibe – „Geschichte der Welt“. Jürgen Osterhammel und Niels Petersson legten „Eine kleine Geschichte der Globalisierung“ vor. Das hier zu besprechende Buch „King Cotton“ von Sven Beckert hat den Untertitel: „Eine Geschichte des globalen Kapitalismus“.

Diese Wende hat wahrscheinlich mehrere Gründe. In dem Maße, in dem „Globalisierung“ als zentrales Merkmal der Gegenwart behauptet wird, scheinen Gesamtdarstellungen angemessen. Die zweite Ursache ist die Quellenlage. Wollte man möglichst präzis belegte Ergebnisse erzielen, lag die Beschränkung auf örtlich, zeitlich oder thematisch begrenzte Gegenstände nahe: Lokalstudien, kurze Abläufe oder, wenn diese beiden Grenzen überwunden werden sollten, spezielle Gegenstände (Beispiel: die „Geschichte der Eisenbahnreise“ von Wolfgang Schivelbusch). Das Thema war jeweils so zuzuschneiden, dass es mit der limitierten Menge der zur Verfügung stehenden Quellen konkret behandelt werden konnte.

Nun ist in jüngster Zeit der Zugang zu Material enorm erweitert worden. Allein die veränderten Verkehrsbedingungen ermöglichen es, leichter Archive in aller Welt zu besuchen. Beckert erwähnt seine Aufenthalte „auf jedem Kontinent“: in Buenos Aires, Kairo, Mulhouse, Osaka, Australien, New Delhi, Mumbai, Aix-en-Provence, Paris, Winterthur, Barcelona, Berlin, Hamburg, Bremen, Kiew, London, Manchester, Liverpool, New York, Mexiko, Valladolid. Künftig werden sich solche Reisen teilweise erübrigen, weil Materialien zunehmend digital zugänglich sein werden. Beckert hat in einigen Fällen diese Möglichkeiten schon nutzen können. Die quellengestützte Sekundärliteratur ist enorm angeschwollen und kann ebenfalls herangezogen werden, ebenso die Kommunikation per Mail in einer Community von Historikerinnen und Historikern, die immer größer geworden ist und innerhalb derer Materialien und Zwischenergebnisse ausgetauscht werden. So sind sogar weitgespannte Themen jetzt mit annähernd ähnlicher Genauigkeit zu behandeln wie früher engere.

Der globale Zugriff macht die Konzentration auf die auswählende inhaltliche Definition nicht entbehrlich. Eine Geschichte der Weltwirtschaft wird leichter entgleisen als die eines Teilgebiets, in diesem Fall: der Baumwollgewinnung und -verarbeitung.

Der Titel des Buchs ist doppeldeutig: „King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus“ (im US-amerikanischen Original: „Empire of Cotton. A Global History“). Soll die globale Geschichte der Baumwolle dargestellt werden oder die Geschichte der Baumwolle innerhalb des weltweiten Kapitalismus, oder wird hier gar nahe gelegt, die Geschichte der Baumwolle sei identisch mit derjenigen des Kapitalismus? Offenbar sollen alle drei Interpretationen gelten: Der Autor ist der Ansicht, mit der Baumwolle einen nervus rerum der kapitalistischen Wirtschaft gleichsam entdeckt zu haben. Dafür könnte – von ihm selbst nicht explizit erklärt – Folgendes sprechen:

Von den Erfordernissen zur Produktion und Reproduktion menschlichen Lebens: Nahrung, Wohnung, Kleidung, sind nicht alle von Anfang an handelbar gewesen, insbesondere nicht über weite räumliche Strecken. Bei den Lebensmitteln mag dies schon früh für Getreide, Schlachtvieh, Salz und Gewürze gegolten haben, für rasch verderbliche Güter wie u.a. Gemüse zunächst nur auf kurze Distanzen. Wohnungen sind ortsfest und daher lediglich virtuell, in der Spekulation, zu transportieren (wenngleich dann oft mit enormen wirtschaftlichen und sozialen Folgen). Textilien und die Rohstoffe zu deren Herstellung dagegen waren am frühesten über weite Entfernungen handelbar. Hier entstanden „Weltmärkte“, auf denen, so lange große Ungleichgewichte von Angeboten und Nachfrage bestanden und genutzt wurden und werden, hohe Gewinne zu erzielen sind. Basis waren zunächst Wolle und die Vorprodukte von Leinwand, dann vor allem Baumwolle, die am besten zu färben ist und andere günstige Nutzungseigenschaften aufweist. Dass sie der Ausgangsstoff der Industriellen Revolution war, ist bekannt. Marx demonstriert die Erzeugung des Mehrwerts an ihrer Verarbeitung. Noch die zweite Stufe der Industriellen Revolution – Dampfkraft und Montanindustrie – wurde durch ihren Energiebedarf ausgelöst. Also versucht Sven Beckert am weißen Faden der Baumwolle die Geschichte des Kapitalismus zu entrollen.

Er modifiziert die bisher übliche Terminologie. Für den Kapitalismus vor der Industriellen Revolution spricht er nicht mehr von Handelskapitalismus und Merkantilismus, sondern von Kriegskapitalismus. Mit Waffengewalt wurden Ressourcen in Asien, Afrika und Amerika erschlossen. Gegen indische Baumwollgewebe wurden afrikanische Sklaven eingetauscht, diese gegen Edelmetalle in Amerika. Marx sprach von Ursprünglicher Akkumulation und begriff dabei das innere Gewaltregime in den europäischen Zentren mit ein. Dies fehlt bei Beckert. Der Begriff „ursprüngliche Akkumulation“ erscheint in der deutschen Übersetzung seines Buchs in folgender Form in einer Fußnote: „Siehe Rosa Luxemburg über primitive Akkumulation in ‚Die Akkumulation des Kapitals‘, Gesammelte Werke, Bd. 5. Berlin (Ost) Kap. 26.“ (442)

Wiederum ebenso wie bei Marx wird die Unentbehrlichkeit des Staates für den Kriegskapitalismus betont. Sie bleibt in der Industriellen Revolution erhalten, die zugleich einen Aufschwung des Sklavenhandels und der Sklavenarbeit mit sich brachte. Diese seien „eng mit dem Rhythmus, der Intensität und den Gewinnen des Industriekapitalismus verbunden“ gewesen. (101/102) „Etwa die Hälfte (46 %) aller Sklaven, die zwischen 1492 und 1888 in die Amerikas deportiert wurden, landete in der Tat dort in den Jahren nach 1780, nach der Industriellen Revolution.“ (402) Hauptursache war der Arbeitskräftebedarf in der Baumwollproduktion im Süden der Vereinigten Staaten. Die „Fähigkeit, die eigenen Außengrenzen zu kontrollieren, das Privileg nur weniger Regionen der Welt“, (157) bestimmte auch das territoriale Arrangement der kapitalistischen Weltwirtschaft. Anbau des Rohstoffs in Übersee, Verarbeitung in Europa und der weltweite Absatz der Tuche konstituierten ein „Baumwollimperium“, das von Kaufleuten und Börsen durch die „Bildung globaler Netzwerke“ – zunächst noch mit dem Zentrum Manchester/Liverpool – koordiniert worden ist. (197-229) Die Finanzwirtschaft gehörte untrennbar dazu: „Ohne Kredite wäre das Baumwollimperium zusammengebrochen – in seinem Kern war es ein Kreditimperium.“ (214) Nach dem US-amerikanischen Sezessionskrieg (1861-1865) und der Aufhebung der Sklaverei wurde es umgebaut. Letztere musste durch Lohnarbeit ersetzt werden, deren steigende Kosten waren durch Steigerung der Arbeitsproduktivität zu kompensieren. Zugleich stieg die Nachfrage nach Baumwolle weiter und war je länger desto weniger in der Hauptsache durch die Südstaaten der USA zu decken. Man hat sich angewöhnt, den Kapitalismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als vor allem durch Stahl, Eisen, Kohle, dann durch Chemie und Elektrizität bestimmt anzusehen. Das ist zutreffend, wenn damit wichtige Durchbrüche und auch die sich verändernden Proportionen innerhalb der Volkswirtschaften sowie der Weltwirtschaft verstanden werden. Hier sank der Anteil der Baumwoll- und Textilwirtschaft. In absoluten Zahlen aber nahm sie weiter zu. Ursachen waren Bevölkerungswachstum, gesteigerte Konsummöglichkeiten und -gewohnheiten u.a. aufgrund schließlich doch steigender Reallöhne, hinzu kam die Einkleidung der Massenheere im Zuge von ständigen Aufrüstungen. Es wurde also nicht weniger, sondern mehr Baumwolle geerntet und verarbeitet, übrigens stärker als in anderen Sektoren durch Kinder- und Frauenarbeit. Neben dem männlichen Gesicht des Kapitalismus in Montanindustrie und Maschinenbau gab es hier ein vor allem weibliches. Der sich stets steigernde Bedarf machte die Ausweitung der Anbauflächen nötig – Land Grabbing zu Lasten der Subsistenzwirtschaft. Sehr dynamisch war hier das Zarenreich. Die Baumwolle verarbeitenden industriellen Zentren sicherten sich die Zufuhr dieses Rohstoffs durch Erwerb und Eroberung von Kolonien. Beckert gibt hier eine Erklärung für den Übergang zum Imperialismus, der die marxistischen Theorien, die meist stark an der Überakkumulation orientiert sind, nicht außer Kraft setzt, aber ergänzt. Der Imperialismus Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts wäre in hohem Maße ein Baumwoll-Imperialismus gewesen.

Ähnliches gelte für den Anti-Imperialismus. Hatte einst die britisch Kolonialmacht die Einfuhr von Stoffen aus Indien verboten, um eine eigene Industrie zu entwickeln, so exportierte sie ihre Textilien jetzt dorthin und forcierte den Baumwollanbau, wodurch indisches Gewerbe und Nahrungsgrundlagen ruiniert wurden. Die antikoloniale Bewegung entstand so als Bündnis aus Unterklassen und Bourgeoisie. Eine Kapitelüberschrift lautet: „Indien: das Spinnrad als nationales Symbol“. (378)

Im Ergebnis der antikolonialen Revolutionen kehrte die Tuchproduktion im 20. Jahrhundert wieder an ihre alten, außereuropäischen Standorte zurück. Schließlich dann: „Mitte der 1990er Jahre überholte die Produktion synthetischer Fasern die von Baumwolltextilien. Heute werden jedes Jahr etwa 52 Millionen Kunstfasern auf Erdölbasis hergestellt, z.B. für Fleecebekleidung, fast doppelt so viel wie die weltweite Baumwollproduktion.“ (389). Letztere nimmt vorerst jedoch nicht ab, sondern zu: Prozess- und Produktinnovation bleiben stets auch an traditionelle Bedarfe – hier: Kleidung – gebunden. Steigt die Nachfrage, finden sich Mittel und Wege, das Angebot auszuweiten, eben nicht nur an synthetischen Fasern, sondern auch an Baumwolle, deren Herstellung und Verarbeitung dann zwar den Anteilen nach sinkt, in absoluten Zahlen jedoch steigt. Es wiederholt sich die Konstellation wie im 19. Jahrhundert im Verhältnis zur Montanindustrie, zum Maschinenbau und den „neuen“ Industrien.

Das Buch hat kein Quellen- und kein Literaturverzeichnis. Sven Beckert nennt seine Belege in den Fußnoten mit Erscheinungsorten, Jahreszahlen und Archivsignaturen – jedoch in dieser Vollständigkeit nur bei der Ersterwähnung, nicht mehr in den Wiederholungen. Den Leserinnen und Leser bleibt nichts Anderes übrig, als sich eine Datei an- oder einen Zettel bereitzulegen, um sich diese Angaben präsent zu halten. Das heißt: sie fertigen ihr Literatur- und Quellenregister selbst. Diese Einsparung am Lektorat steht in einem Missverhältnis zur Opulenz der Ressourcen, auf die der Autor dankbar und nicht ohne Stolz verweist. Der nächste Schritt auf dem Abwärtsweg der Produktion von gedruckten-Büchern: ihre Ersetzung durch Digitalausgaben mit Suchfunktion, ist somit vorgezeichnet.

Georg Fülberth

Berechtigtes Fragezeichen

Walter Baier, Linker Aufbruch in Europa? Edition Steinbauer, Wien 2015, 223 S., 22,50 Euro.

„Der erstaunliche Aufschwung radikal linker Parteien in Griechenland (SYRIZA) und Spanien (Podemos) könnte die Karten in Europa neu mischen“ – so lautet eine der Kernthesen von Walter Baier[1], plakativ platziert auf dem Einband. Sein Buchtext wurde offenbar vor der Parlamentswahl in Griechenland vom 25.1.2015 fertig gestellt und ist für politisch Interessierte verständlich und flüssig geschrieben.

Die Europawahl 2014 nimmt Baier als Ausgangspunkt (7-21) seiner Betrachtungen über die radikale Linke in Europa (21 – 47), ihre Vorläufer (Die Kommunisten, 47-69) und deren jüngere Geschichte nach dem Fall der Sowjetunion (69-84). Ausführlich analysiert er neo-nazistische (107-115) und rechtspopulistische Kräfte (115-142; 157-168), die bei dieser Europawahl insgesamt gestärkt wurden. Weitere Kapitel behandeln die Eurokrise (84-107), den Bürgerkrieg in der Ukraine und die neue Konfrontation zwischen dem Westen und Russland (142-151). Vorschläge aus Sicht des Autors zur Programmatik und Strategie der Europäischen Linken (168-181; 181-192) runden den Band ab.

Im September 2014 wurden Walter Baier und Alexis Tsipras in Privataudienz von Papst Franziskus empfangen. Die kapitalismuskritischen Äußerungen des Oberhaupts der Katholischen Kirche sieht der Autor als Chance für einen fruchtbaren Dialog zwischen Christen und Marxisten (151-157). Am Ende des Buchs werden Auszüge aus dem ‚Manifest von Ventotene’ (1941, Altiero Spinelli u.a.) dokumentiert, laut Baier die ‚Gründungscharta des linken Proeuropäismus’. Weitere Dokumente im Anhang sind das Statut der Partei der Europäischen Linken (EL), das ‚Manifest der Menschen’ (gegen Austeritätspolitik und für echte Demokratie) des Alternativgipfels (Alter-Summit) sozialer Bewegungen vom Juni 2013 in Athen sowie Thesen eines Seminars des Alter-Summits vom April 2014 in Budapest zum Kampf gegen den Rechtsextremismus in Europa.

Baier konstatiert m.E. zu Recht eine Krise der politischen Systeme (9) in Europa. Mit Blick auf das Ergebnis der Europawahl 2014 spricht er von einem ‚politischen Erdbeben’. Die Kräfte der ‚Großen Koalition’, die in den vergangenen Legislaturperioden das EP beherrschten – Konservative, Sozialdemokraten, Liberale (häufig gestützt von den Grünen, K.D.) – sind tatsächlich geschrumpft. Die anti-europäische nationalistische Rechte verfügt über mehrere Fraktionen verteilt über etwa ein Viertel der Mandate.[2] Die Linksfraktion GUE/NGL wuchs von vormals 35 auf 52 Abgeordnete (etwa so viel wie die Fraktion der Grünen/Europäische Freiheitliche Allianz EFA in früheren Zeiten hatte).[3]

Die ‚Große Koalition’ im EP könne daraus nicht den „Auftrag ableiten, so weiter zu machen wie bisher“, fordert der Autor (10). Sie macht aber genau dies und ist dabei in keiner Weise von den linken oder rechten Minderheiten des Parlaments behindert oder gefährdet. Die generelle Unterstützung der Mehrheit des EP für das transatlantische ‚Freihandelsabkommen’ TTIP ist dafür nur eines von vielen jüngeren Beispielen.

Seit der Europawahl 2014 vertieft sich tatsächlich die von Baier analysierte Krise der politischen Systeme in einer Reihe von Mitgliedstaaten der EU.[4] Das politische Spektrum wird in einigen Ländern durch regionalistische Unabhängigkeitsbestrebungen (z.B. Katalonien, Schottland, latent Flandern usw.) nochmals aufgefächert und verstärkt die politische Instabilität um einen weiteren Faktor. Europa erlebt zunächst eine weitere Fragmentierung der politischen Landschaft und eine deutliche Stärkung des rechten Rands. Die Kräfte links von Sozialdemokratie und Grünen konnten bei der Europawahl 2014 im Wesentlichen nur in Griechenland (Syriza), Irland (Sinn Fein) und Spanien (IU, Podemos) deutlich punkten[5] – eine eher schmale Basis für einen ‚linken Aufbruch in Europa’.

Informativ und mit analytischem Tiefgang setzt sich Baier mit der radikalen Rechten und den Gründen ihrer Wahlerfolge auseinander. Er unterscheidet dabei Neonazi-Formationen (‚Wiedergänger des Faschismus’) wie Jobbik aus Ungarn, ATAKA aus Bulgarien, die Goldene Morgenröte aus Griechenland usw. von den modernisierten rechtspopulistischen Parteien wie der FPÖ, der britischen UKIP oder dem französischen Front National. Den modernisierten Rechtspopulismus beschreibt er als eine „konservative Rebellion, die ebenso wie die konservative Rebellion des frühen Faschismus das Gegenprogramm zur Linken ist, sowohl der reformistischen wie der revolutionären.“ (129) Leo Trotzki bezeichnete in den frühen 1930er Jahren noch pointierter den „Faschismus als Massenbewegung“ als „Partei der konterrevolutionären Verzweiflung“.[6]

Mit Trotzki lässt sich auch der modernisierte, populistische Rechtsradikalismus als „Ausdruck der akuten Ausweglosigkeit des bürgerlichen Regimes, der konservativen Rolle der Sozialdemokratie und der akkumulierten Schwäche der Kommunistischen Partei (aktuell der ‚europäischen radikalen Linken’, KD) im Kampf gegen dieses Regime“ beschreiben.[7] Baier schreibt zutreffend: „Wohlstand und Sicherheit waren die Versprechen sowohl des Sozialstaats und später des neoliberalen Wettbewerbsstaats. Erweisen sich die einander in Regierungsverantwortung seit Jahrzehnten ablösenden Parteien als unfähig, diesen Zustand wieder herzustellen, und steht auch keine glaubwürdige demokratische Alternative zur Wahl, verlieren nicht nur sie, sondern das gesamte politische System seine Glaubwürdigkeit. Das ist die Situation, in der jene Sorte politischer Nachfrage entsteht, die die Populisten bedienen.“ (138)

Baier vermerkt zu Recht, dass der „Parteikommunismus heute die deutliche Minderheit der radikalen Linken“ im Europäischen Parlament darstellt. (17) Sein Überblick dazu (auch knapp nach Ländern geordnet) ist recht informativ. Allerdings fehlen Kurzporträts der luxemburgischen Linken (Déi Lénk, KPL), der belgischen Arbeiterpartei PTB (die in einem Wahlbündnis mit anderen linken Kräften 2 Abgeordnete im belgischen Parlament stellt) sowie der kroatischen Partei der Arbeit (HL), der Sozialistischen Partei Irlands und der Sozialistischen Partei Lettlands (diese waren in der letzten Legislaturperiode jeweils mit einem Abgeordneten in der Linksfraktion des EP vertreten).

Seine Ausführungen zur ‚Vorgeschichte’ der radikalen Linken – insbesondere zur Kommunistischen III. Internationale – sind aus meiner Sicht vage und sehr verkürzt. Wie kann man über die Komintern schreiben, ohne wenigstens stichwortartig deren politische Wendungen und großen Kontroversen zu benennen (z.B. anti-koloniale Revolution, Einheitsfrontpolitik und Arbeiterregierung, ‚Aufbau des Sozialismus in einem Land’, Sozialfaschismustheorie, Volksfront)? Dem Autor zufolge „zielte Lenins Strategie nicht auf eine Vertiefung der Differenzierung des von ihm als ‚opportunistisch’ qualifizierten rechts-sozialdemokratischen Lagers ab, sondern auf eine Polarisierung und die Sammlung der revolutionären Kräfte, die zum kommunistischen Aufstand mobilisiert werden sollten.“ (52) Was bezweckte die maßgeblich von Lenin und Trotzki gegen heftige Widerstände in der Komintern 1921 durchgesetzte Politik der Arbeitereinheitsfront und die Orientierung auf ‚Arbeiterregierungen’ in Westeuropa denn sonst, wenn nicht die Differenzierung des sozialdemokratischen Lagers (und die Gewinnung der Gewerkschaften etc.)? Baier stilisiert – ähnlich wie die Rosa-Luxemburg-Stiftung – Gramsci und Luxemburg zu Ikonen einer angeblich anti-leninistischen Linken. Diese Art von Schwarz-Weiß-Malerei ist angesichts des verfügbaren historischen Materials m. E. so nicht haltbar.[8]

Baier sieht die von ihm so bezeichnete europäische radikale Linke in „der ständigen Spannung zwischen Anpassung an und Opposition zum bestehenden sozialen System.“ Parteiführungen, die einen Kurs der Anpassung einschlügen, „haben es zumeist mit Mitgliedern und Wählern zu tun, die anderes erwarten und anders messen.“ (78) Nüchtern stellt er fest: „In den allermeisten Fällen erlitten die radikal linken Parteien bei den Wahlen, die auf ihre Regierungsbeteiligungen folgten, deutliche Stimmenverluste, und zumeist fielen sie größer aus als die ihrer Partner.“ (81) Was also tun?

Der Autor skizziert im Wesentlichen die bekannten Forderungen aus dem Spektrum der Partei der Europäischen Linken (EL) und der Euromemo-Gruppe (Aufhebung des Vertrags von Lissabon, Aufwertung des Europäischen Parlaments, Stopp der Austeritätspolitik, ‚Marshall-Plan für Europa, Eurobonds, Europäische Schuldenkonferenz usw.). Politik werde nicht nur durch das neoliberale Korsett der EU-Verträge definiert, „sondern auch durch das Kräfteverhältnis, das zwischen den sozialen und politischen Akteuren besteht, das seinerseits auf die rechtliche Ebene zurück wirkt und sie verändern kann.“ (164).

Allerdings sei das bestehende Kräfteverhältnis in den EU-Ländern und auf EU-Ebene „für die Linke und ihre Projekte nicht günstig. Wer Kräfteverhältnisse verschieben will, muss Zwischenschritte und Übergänge ausfindig machen.“ (164) Eine Syriza-Regierung in Griechenland könne dafür den Stein ins Rollen bringen, durch eine Linkswende in Spanien gestärkt und eine europaweite Solidaritätsbewegung unterstützt werden. Dies werde auch den moderaten linken Kräften (z.B. Hollandes Sozialisten in Frankreich, Renzis PD in Italien, den Grünen usw.) neue politische Spielräume eröffnen und könne so den Übergang einleiten. „Einmal mehr könnte sich dann herausstellen, dass soziale und politische Prozesse nicht linear verlaufen, sondern in Qualitätssprüngen. Die Möglichkeit besteht. Hic Rhodus, hic salta![9]“ (191)

„Ein anderes Europa mit Tsipras“ war eine zentrale Parole der EL in ihrer Europawahlkampagne. Die Rose, die ihm die EU-Granden als Ministerpräsident Griechenlands hinwarfen, war das dornenreiche dritte Austeritätsmemorandum. Tsipras tanzte sechs Monate lang, setzte es am Ende aber um. Die ‚europäische radikale Linke’ leckt sich die Wunden nach dieser heftigen Niederlage. Das Fragezeichen hinter dem erhofften ‚linken Aufbruch in Europa’ war berechtigt, die beschriebene EL-Strategie der „Zwischenschritte im Bündnis mit der moderaten Linken“ ziemlich naiv.[10]

Klaus Dräger

Politischer Islam oder Islamisierung der Politik?

Imad Mustafa, Der Politische Islam, Promedia Verlag, Wien 2013, 230 S. 17,90 Euro.

Ein kleiner Wiener Verlag hat ein großes Buch herausgegeben. Imad Mustafa stellt darin das gesamte Spektrum des politischen Islam und dessen Denker in einem allgemein historischen und gesellschaftlichen Zusammenhang dar. Die Ideologen und Akteure werden sehr gut beschrieben. Es werden die bedeutenden Persönlichkeiten, sowohl die Reformer als auch die Fundamentalisten vorgestellt. Dazu gehören zum Beispiel Afghani, Abduh, al-Bena und Sayyid Qutb.

Das Buch von Imad Mustafa ist die beste Untersuchung zu dem Thema, die ich in der letzen Zeit gelesen habe. Hier werden nicht nur die politischen Strömungen im Islam, sondern auch der Nahostkonflikt als ganzes behandelt. Der Autor beansprucht, mit dem Buch eine kritische Aufklärung leisten zu wollen (9), jedoch keinesfalls „Orientalismus“ zu betreiben, den er, gestützt auf Edward Said, als eine besondere, immer noch gültige Form von kulturellem Imperialismus sieht (10). Es muss gesagt werden, dass der Islam von Anfang an politisch war. Mohammad und seine Nachfolger waren geistliche und zugleich politische Führer der islamischen Gemeinde ihrer Zeit. Imad Mustafa sieht jedoch die Politisierung des Islam im 19. und 20. Jahrhundert im Kontext der kolonialen Eroberung des Orients durch die europäischen Mächte (17ff).

Am Anfang seiner Untersuchung stellt der Autor die Denker, Reformer und Ideologen des politischen Islam vor und spricht vom islamischen Erwachen. Die neu entstandenen islamischen Intellektuellen wiesen auf „das Missverhältnis zwischen“ Orient und Okzident hin (22) und forderten eine Rückbesinnung auf die „reinen Wurzeln“ des Islam, jedoch „in Form einer kritisch-historischen Neuinterpretation der alten Quellen“ (21). Damit stellten sie sich deutlich gegen den konservativen „Wahhabismus“, der heute noch in Saudi Arabien praktiziert wird und von dort in die ganze islamische Welt exportiert wurde und wird. Somit vollzogen sie einen radikalen Bruch mit der konservativen Variante des Islam.

Zu den ersten Reformern, die Imad Mustafa vorstellt, gehört der gebürtige Afghane, Dschamal al-Din al-Afghani (Saied Jamaludin Afghani, so lautet sein richtiger Name). Imad Mustafa ist auch der einzige mir bekannte Autor, der Afghani nicht eindeutig als Perser einstuft. Er lässt es offen, ob er Perser oder Afghane gewesen ist (23).

Afghani widmete „sein Leben dem Kampf gegen den Kolonialismus in der islamischen Welt, die er als eine Einheit begriff“ (23). Hier hat die allgemein verbreitete Unterstellung ihren Ursprung, dass Afghani ein Panislamist gewesen sei. Afghani trat für eine „menschliche Zivilisation“ in den islamischen Gesellschaften ein, deren Grundlagen „sozialer Fortschritt, individuelle Entwicklung, der Glaube an die Vernunft, Einheit und Solidarität“ bilden (25). Dies trifft auch für seinen berühmten Schüler und Kampfgefährten Muhammad Abduh zu (26-31).

Im Gegensatz zu den Reformern verfolgte Hassan al-Banna, der Gründer der Muslimbruderschaft, das Ziel, „die islamische Moral zu bewahren und den christlichen Missionen Widerstand zu leisten“ (31). Denn die christlichen Missionen wurden zu Recht als religiöser und kultureller Imperialismus angesehen. Al-Banna sah seine Aufgabe darin, „das islamische Heimatland von jeglicher ausländischer Macht zu befreien […] und einen islamischen Staat“ (33) zu errichten. Hier kommt der Unterschied zwischen Reformern und Konservativen am deutlichsten zum Ausdruck.

Sayyid Qutb, der als eigentlicher Ideologe der Muslimbruderschaft gilt, wurde während seines Studiums in den USA (bis 1950) von der dortigen Lebensweise und vom von ihm so wahrgenommenen Sittenverfall, vor allem bei den Frauen, so abgeschreckt, dass er sich erst dadurch richtig radikalisierte (37-42).

In Kapitel zwei stellt Imad Mustafa ausführlich die historischen und die aktuellen Rahmenbedingungen, die zu Entstehung der islamischen Bewegungen und Parteien im Nahen Osten geführt haben, dar. Er behandelt den Nahostkonflikt zwischen Palästinensern und Israel, die Entstehung und die Rolle der PLO einerseits, sowie der Hamas, der Hizbollah andererseits als islamische nationale Widerstandsbewegung und ihre ideologische Grundlagen. Die Hizbollah sehe „ihre Ziele in der Verteidigung der Muslime gegen den Imperialismus von USA und Israel“ (59). Die längst bekannte Tatsache, dass der israelische Geheimdienst MOSSAD eine wesentliche Rolle bei der Entstehung von Hamas als Alternative zur PLO gespielt hat, wird von Imad Mustafa jedoch nicht thematisiert. Die Intifada wird als Geburtsstunde der Hamas angesehen und als Triebkraft dessen, was Hamas zu einer nationalen Widerstandsorganisation gegen Israel gemacht hat (62-74).

Imad Mustafa behandelt die neuesten Entwicklungen in Ägypten seit dem Sturz von Husni Mubarak im Jahre 2011 und die Wiederauferstehung der Muslimbruderschaft unter Mohammad Mursi, wobei er die widersprüchliche Entwicklung ausführlich beschreibt (74-93).

In einem weiteren Kapitel behandelt der Autor die politischen Konzeptionen der islamistischen Gruppierungen, wobei er trotz zahlreicher „Vielfalt in politischen Fragen“, auch „die Basis gemeinsamer Werte, auf die sich alle Bewegungen berufen“ (95) sehr fundiert und ausführlich ausarbeitet (95-132). Hier werden auch die externen Faktoren, wie die Rolle Irans, Syriens und Israels im Kontext des Islamismus und des Nahostkonfliktes u.a. das „Camp-David-Abkommen“ und der Oslo-Prozess 1993-2006 erörtert. Auch werden die Anpassungsversuche der Islamisten in Ägypten nach dem Sturz von Mubarak und ihre Außenpolitik sowie ihre politischen Verbündeten behandelt (133-155).

Der Frage des Eigentums, von Gerechtigkeit und Fürsorge widmet Imad Mustafa ein eigenes Kapitel (157-204). Hier tritt deutlich der Widerspruch zwischen Anspruch und Realität in der Wirtschafts-, Sozial- und Bankpolitik der Islamisten zu Tage. Was als islamische Wirtschafts- und Bankpolitik gepriesen wird, ist nichts anderes als reine kapitalistische Ökonomie mit anderem Etikett.

Lobenswert scheinen mir die Fußnoten auf jeder Seite zu sein. Denn Endnoten würden den Lesern die Überprüfung und Einsicht in die zitierten und angegebenen Quellen erschweren. Wünschenswert wäre, bei einem so umfangreichen mit zahlreichen Namen gespickten Buch, ein Namensverzeichnis. Ich danke dem Verlag für die Herausgabe dieses vielseitigen Buchs zu so einem brisanten Thema und wünsche diesem eine zahlreiche Leserschaft.

Matin Baraki

Rätebewegung in Berlin

Axel Weipert, Die Zweite Revolution. Rätebewegung in Berlin 1919/1920, be.bra wissenschaft verlag GmbH, Berlin-Brandenburg 2015, 476 S., 32,00 Euro

Den schon zeitgenössisch gebrauchten Begriff der „Zweiten Revolution“ hat der Autor als Titel seines Buches gewählt, in dessen Zentrum die Rätebewegung vor allem in der Zeit vom Berliner Generalstreik im März 1919 bis zur Niederschlagung des Kapp-Lüttwitz-Putsches im März 1920 steht. Obwohl zeitlich nur ein Jahr und territorial nur die deutsche Hauptstadt mit ihrem unmittelbaren Umfeld behandelt werden, erweist sich dies als ein äußerst geschichtsträchtiger Stoff, zu dem ein umfangreicher Quellenfundus erschlossen wurde: die Bestände der einschlägigen Archive, die zeitgenössische Presse unterschiedlicher Couleur, Flugblätter, Plakate, gedruckte Protokolle und vorliegende Editionen, die Memoirenliteratur und nicht zuletzt die seinerzeit vom Zentralen Parteiarchiv der SED im Institut für Marxismus-Leninismus gesammelten Erinnerungsberichte. Die vorliegende Sekundärliteratur wurde nicht nur zum engeren Thema, sondern auch zu angrenzenden Problemen und nicht zuletzt zu theoretischen und methodologischen Fragestellungen ausgewertet.

In der ausführlichen Einleitung dieses Bandes finden wir eine überzeugende Begründung der Themenwahl, eine Vorstellung des Forschungsstandes, den Nachweis der besonderen Rolle der Hauptstadt Berlin, grundsätzliche Erwägungen zur Rolle von Räten und Basisdemokratie und Argumente für die Vorgehensweise des Verf. W. lässt sich von einem Verständnis leiten, demzufolge die Räteidee offen ist „für verschiedene Entwicklungen“, die „per se weder revolutionär noch systemkonform“ ist, in jedem Falle aber „eine Alternative zu Top-down-Modellen der Organisation und Willensbildung“ darstellt. (29).

Die ersten drei Kapitel folgen der Chronologie und sind den Höhepunkten der „Zweiten Revolution“ gewidmet: dem Berliner Generalstreik vom März 1919, der Demonstration vor dem Reichstag vom 13. Januar 1920 und der Rätebewegung zu Zeiten des Kapp-Lüttwitz-Putsches vom März 1920. Das geschieht mit Bezügen und Vergleichen zu anderen Zentren der Bewegung.

Was W. von Autoren unterscheidet, die sich bereits vor ihm den angesprochenen Themen gewidmet haben, ist die Weite seiner Sicht. Er analysiert nicht nur die involvierten politischen Kräfte, vor allem die Parteien USPD, KPD und SPD, sondern er konfrontiert die Entscheidungen und Aktivitäten von Gremien der Rätebewegung immer auch mit den von der Basis ausgehenden Impulsen und Forderungen. Es ist nicht zu übersehen, dass die Sympathien des Autors der Rätebewegung gehören. Über deren Vorzüge und Grenzen urteilt er an einer Stelle wie folgt: „Die konsequente Basisorientierung war also die große Stärke des Rätesystems. Andererseits barg sie ein gewisses Risiko, denn so konnten überstürzte Reaktionen zu fatalen Fehlentscheidungen führen.“ (156) Seine Untersuchungen lassen ihn zu dem Schluss gelangen, dass die Räte über ein hohes Mobilisierungspotential verfügten, in dem sich widerspiegelt, wie sehr die grundlegenden Forderungen dieser Bewegung von großen Teilen der Arbeiterbevölkerung mitgetragen wurden oder gar direkt von ihr ausgingen. Doch er zieht alle in Betracht kommenden Akteure, auch die Reichsregierung, die Regierung Preußens, die militärischen Verbände und nicht zuletzt die Presse in seine Analyse ein, nimmt die von widerstreitenden Seiten vorgetragenen Argumente ernst und überprüft sie auf ihre Stichhaltigkeit, einbezogen auch die Interpretationen und Wertungen anderer Historiker (Kolb, Erdmann, Ritter, Rürup u.a.), mit deren Deutungsmuster er sich grundsätzlich oder partiell meines Erachtens überzeugend auseinandersetzt. Das gilt insonderheit auch für die Beurteilung der Frage, wer in erster Linie die Verantwortung für Ausschreitungen und für den massiven Einsatz der exekutiven Gewalt trägt, den Hunderte Streikende oder Demonstrierende mit ihrem Leben bezahlen mussten. Die blutigste Niederschlagung von Arbeiterprotesten im Deutschland des 20. Jahrhunderts ereignete sich nämlich in Berlin nicht am 17. Juni 1953, sondern während des Generalstreiks vom März 1919; und nie zuvor und nie danach ist eine Massendemonstration mit so vielen Erschossenen auseinandergetrieben worden wie am 13. Januar 1920.

Als die größte Massenaktion der Weimarer Republik und den zahlenmäßig stärksten Generalstreik der deutschen Geschichte würdigt W. die Niederschlagung des Kapp-Lüttwitz-Putsches. Im Unterschied zu anderen Autoren hebt er „die wichtige eigenständige Initiative der Betriebsräte und Vertrauensleute für den erfolgreichen Auftakt des Generalstreiks“ (198) besonders hervor. Aber anders als ein Jahr zuvor, geriet diesmal die Berliner Rätebewegung ins Schlepptau der gewerkschaftlichen Zentralinstanzen. Insofern handelte es sich um einen Kampf aus der Defensive heraus, bei dem trotz der Bemühungen der Linken ein Übergang von der Abwehr in eine neue Offensive zur Belebung der Revolution nicht gelungen ist. Mithin habe sich die neue revolutionäre Welle „als ein überaus kurzlebiger ‚zweiter Frühling‘ erwiesen“ (234).

In der zweiten Abteilung seines Buches widmet sich der Autor speziellen Bereichen beziehungsweise Aspekten der Rätebewegung, die bisher kaum erforscht oder sträflich vernachlässigt worden sind. Dazu gehören die Revolutionäre Betriebsrätezentrale, die Schülerräte, Erwerbslosenräte, der Politischen Rat geistiger Arbeiter, Frauen und Rätebewegung sowie Rätepolitik von linken Parteien und Gewerkschaften.

In der Revolutionären Betriebsrätezentrale widerspiegeln sich die Bestrebungen, die Rätebewegung zu verstetigen und zu vernetzen. Sie stellte den letzten ernsthaften Versuch dar, der Rätebewegung einen organisatorischen Rahmen und dauerhafte Strukturen zu geben. Die überwiegend nur noch als Betriebsräte existierenden basisdemokratischen Gremien gerieten jedoch fortschreitend unter die Obhut der etablierten Gewerkschaften. Als grundsätzlich mit den Zielen und Kampfformen der Rätebewegung konformgehend erwiesen sich Schülerräte, wie sie allerdings so nur an den Fortbildungsschulen für Lehrlinge und ungelernte junge Arbeiter bestanden. Sie vermochten mit einem bemerkenswerten Schülerstreik einige wesentliche Forderungen durchzusetzen, womit ihr Potential allerdings auch erlahmte. Auch die Erwerbslosenräte gehören zu den unterbelichteten Bereichen der Rätebewegung, obwohl sie ihre Aktionsfähigkeit unter Beweis stellten und länger bestanden als viele andere Räte. Schwierigkeiten erwuchsen allerdings bereits daraus, dass sie nicht einfach in ein auf Betriebe gestütztes Rätesystem integrierbar waren. Auch der Rat der geistigen Arbeiter ist differenziert zu sehen. Suchte er den Kontakt zu den Arbeiterräten, so standen doch seine elitären Ansichten und Optionen diesem Bestreben entgegen und führten auch zur Distanz von der Gegenseite. Dass die Frauen in der Bewegung keine größere Rolle spielten, überrascht nicht, denn auch in der Arbeiterbewegung dominierte noch die alte Rollenverteilung der Geschlechter. Das wurde noch dadurch verstärkt, dass viele Frauen durch die aus dem Krieg heimkehrenden männlichen Arbeitskräfte wieder aus dem Berufsleben verdrängt wurden.

Eine besonders ausführliche Behandlung finden in dem Buch die Spannungsverhältnisse zwischen Räten und Gewerkschaften sowie zwischen Räten und politischen Parteien – zuvörderst SPD, USPD, KPD. Hier zeigt sich, dass gerade im Rahmen der Rätebewegung Parteimitglieder nicht selten entgegen den Direktiven ihrer Führungen handelten. Auf einen kurzen Nenner gebracht, lautet das Fazit des Autors wie folgt: Die Führung der SPD war strikt gegen ein Rätesystem, und nur mit Rücksicht auf die Parteibasis verstand sie sich zur Aufnahme eines Artikels über die Betriebsräte in die Weimarer Verfassung. Die KPD verfocht die Ablösung der parlamentarischen Demokratie durch eine Räterepublik, setzte indes zunehmend auf die Führungsrolle der Avantgardepartei. Hauptträger der Diskurse, Ideengeber und Initiator von Aktionen zur Verwirklichung eines Rätesystems beziehungsweise zur Verteidigung errungener Positionen von Arbeiterräten war die USPD. Aber auch deren Durchsetzungsvermögen hatte ihre Grenzen, so dass der Autor letztendlich vom „Scheitern der zweiten Revolution“ spricht (422). Geblieben sind lediglich die ins kapitalistische System integrierbaren, in der Bundesrepublik fortlebenden Betriebsräte. W. gelangt dennoch zu dem Schluss, „dass es jenseits von Sozialdemokratie und Stalinismus noch eine sozialistisch-basisdemokratische Alternative gab“ (448).

Beim Nachdenken über die Aktualität der Ergebnisse dieser ertragreichen und anregenden Studie stellen sich vor allem vier Überlegungen ein: 1. Der Sprung von Räten, die für bestimmte Bereiche und zu bestimmte Zwecken gebildet wurden, – selbst wenn sie erheblichen Einfluss, beeindruckende Mobilisierungskraft und Aktionsfähigkeit unter Beweis stellen – zu einem die ganze Gesellschaft tragenden Rätesystem ist sehr groß. 2. Die Verfechter eines umfassenden politischen Rätesystems haben mehr oder weniger gründlich über dessen Strukturen, dessen Funktionieren und seine Einführung nachgedacht, aber sie haben uns kein Konzept hinterlassen, das es nur umzusetzen gilt. 3. Die Diskrepanzen und Zerwürfnisse im linken Parteienlager erweisen sich als ein schwerwiegendes Hindernis für die Machtentfaltung der Rätebewegung, andererseits erweist sich gerade die basisdemokratische Bewegung als geeignet, parteipolitische Ab- und Ausgrenzungen zu überwinden. 4. Es sollte sich niemand Illusionen hingeben, zu welch brutaler Selbstbehauptung die ökonomisch herrschende Oligarchie, ihre politischen Statthalter und deren bewaffneter Arm fähig sind, wenn ihre Macht und ihre Privilegien ernstlich in Frage gestellt werden.

In einer Zeit, die vom 1919/1920 durchbrechenden Veränderungswillen großer Teile der Arbeiterbevölkerung und deren Aktionsbereitschaft weit entfernt ist, erscheint es sinnvoll, zunächst vor allem die Kombination von Basisdemokratie und repräsentativer Demokratie intensiver auszuloten. Und es bietet sich zwingend an, dabei die in einer Schlussbetrachtung des Autors zusammengefassten Erfahrungen der „Zweiten Revolution“ zu Rate zu ziehen.

Günter Benser

NSDAP in Berlin 1925-1933

Oliver Reschke, Kampf um den Kiez. Der Aufstieg der NSDAP im Zentrum Berlins 1925–1933, Berlin 2014, trafo Wissenschaftsverlag. 521 Seiten, 49,80 Euro.

Dass die Geschichte des Aufstieges der NSDAP in Berlin, also während der so genannten „Kampfzeit“ in den Jahren vor der Machtübertragung 1933, bisher kaum eingehend und umfassend erforscht wurde, überrascht, ja irritiert, besonders, wenn man in Betracht zieht, dass mit Joseph Goebbels, der seit 1926 als Gauleiter in Berlin für die dortigen Aktivitäten der Partei verantwortlich zeichnete, eine äußerst prominente Figur der faschistischen Partei deren Aufbau koordinierte und vorantrieb. Wenn die Hauptstadt in der Weimarer Zeit als geradezu sprichwörtlich „rot“ galt, so scheint es doch in diesem Zusammenhang um so lohnender zu sein, eine Untersuchung durchzuführen, ob und, wenn ja, in welchem Ausmaße es den Faschisten gelang, schon vor der so genannten „Gleichschaltung“ im März 1933 das Arbeitermilieu zu infiltrieren. Die sehr begrenzte Zahl vorhandener Forschungsarbeiten auf diesem Gebiete – wenn auch seit den neunziger Jahren ein leichter Anstieg festzuhalten ist – war denn auch Anlass genug für Oliver Reschke, seine nun in Buchform erschienene Dissertation dem Aufstieg der NSDAP in der Reichshauptstadt bis zur „Machtübertragung“ zu widmen.

Ob es der NSDAP und ihren Schlägertrupps von der SA gelungen war, schon vor 1933 in das Arbeitermilieu einzudringen, wurde, wo es doch Veröffentlichungen dazu gibt, in der Forschung bisher nicht eindeutig beantwortet. Jeremy R. S. Brown etwa betont, dass „the Workers remained overwhelmingly loyal to the left-wing bloc of SPD and KPD. […] ‚Berlin bleibt rot’ was as true in 1933 as it was in 1920.“1 Andere Forscher, wie Detlef Schmiechen-Ackermann, greifen hingegen die Vorstellung von dem der NSDAP grundsätzlich feindlich gesinnten Arbeiter an: „Der differenzierte Blick auf die Bezirks- und Quartiersebene bestätigt, daß der pauschale Topos vom ‚roten Berlin‘ mehr und mehr zu einer Worthülse geworden war, die den realen Machtverhältnissen so nicht mehr entsprach.“2

Gestützt auf die Auswertung zahlreicher Quellen aus regionalen Archiven – so etwa aus der Dienststelle Berlin des Bundesarchivs, aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz und aus dem Landesarchiv Berlin –, ferner zeitgenössischer Periodika, namentlich der nationalsozialistischen Organe Berliner Arbeiterzeitung und Der Angriff und deren kommunistischen Pendants, Die Rote Fahne, geht Reschke insbesondere den Fragestellungen nach, inwieweit es der faschistischen Partei und ihren SA-Schlägertrupps während der so genannten „Kampfzeit“ gelang, erstens tragfähige Organisationsstrukturen in der Hauptstadt aufzubauen, zweitens die Straße zu beherrschen und drittens nachhaltig das „links-proletarische Milieu“ zu durchdringen. Betrachtet wird zu diesem Zwecke die Entwicklung der faschistischen Ausbreitung in fünf „Gegenden“ – größenmäßig zwischen Bezirk und Kiez angesiedelt – in den Bezirken Mitte und Kreuzberg; interessant ist der vergleichende Ansatz, den Reschke wählt, indem er sozial-strukturell verschieden geprägte Kieze im Hinblick auf die Fragestellungen untersucht. So kann die Betrachtung bürgerlich-gemischter Gegenden mit proletarischen Stadtteilen aufzeigen helfen, inwieweit das proletarische Milieu im Vergleich zur bürgerlichen Gesellschaft anfälliger oder renitenter auf die Faschisten reagierte.

Den fünf Detailstudien in den Gegenden geht ein Abriss der Entwicklung von faschistischer Partei und SA in der Endphase der Weimarer Republik unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in der Reichshauptstadt voraus. Hier, wo der von NSDAP-Gauleiter Joseph Goebbels ausgerufene „Kampf um Berlin“ tobte, sahen die Faschisten den Schlüssel zur Macht (41); hier wollten sie die Hoheit über die Straßen erobern – und sie damit der KPD, „der unangefochtene[n] Hausmacht in den ‚roten Kiezen‘ Berlins“, entreißen (46). „Kampf um die Macht“ – diese Parole zeigt schon deutlich, wer die Gewalt in die Straßen der Arbeiterkieze trug, und Reschke betont denn auch – soviel sei vorweggenommen –, dass sich „die Arbeiterbewegung [...] in einem ‚Rückzugsgefecht‘ [befand], in dem sie ihr Territorium gegen einen äußeren Aggressor verteidigte.“ (40)

Wie die Untersuchungen Reschkes in den Gegenden zeigen, ist zu konstatieren, dass es den Faschisten durchaus gelang, noch vor der Machtübertragung ein tragfähiges organisatorisches Netz in Berlin aufzubauen; in allen von ihm untersuchten Gebieten verfügte die NSDAP 1932 über mehrere Ortsgruppen (218, 318, 369, 411, 465). Wirklich erfolgreich beim Aufbau ihrer Strukturen war sie dabei allerdings erst seit Ende 1929 (469), und es fällt der unterdurchschnittliche Grad an Organisation von faschistischer Partei und SA in den proletarischen Gegenden ins Auge. Hier erweist sich Reschkes Ansatz, Gebiete mit unterschiedlicher Sozialstruktur zu betrachten, als ergiebig, denn im Vergleich mit bürgerlich-gemischten Gegenden zeigt sich besonders deutlich, dass der Aufbau der Strukturen von NSDAP und SA in den stark sozialistisch geprägten Arbeiterkiezen wesentlich schleppender verlief als andernorts (469f.).

Was die Beherrschung der Straße angeht, stellt Reschke heraus, dass es den Faschisten durchaus gelang, sich durch feste Stützpunkte, die Anmietung von eigentlich durch Linke genutzten Veranstaltungssälen für eigene Versammlungen sowie die Etablierung von „Sturmlokalen“ in Arbeiterkiezen schon vor der „Machtübertragung“ bis zu einem gewissen Grade festzusetzen und mit Hilfe von „Propagandamärschen“ durch Arbeiterviertel mutwillig Unfrieden dort hinein gebracht zu haben (31f., 472). Entschieden wendet er sich jedoch gegen Einschätzungen wie etwa die Schmiechen-Ackermanns,3 der – für Neukölln – von weitgehend aufgelösten Milieustrukturen der Arbeiter spricht. Vielmehr kommt Reschke zu dem Ergebnis, „dass genau hier [in Berlin] ihr Vormarsch [der NSDAP] auf feste Schranken stieß.“ (478) Aufmärsche von Faschisten auch durch Arbeiterviertel konnten zwar seit 1932 nicht mehr verhindert werden – dennoch: bis zur „Machtübertragung“ „stießen sie [die Faschisten] dort auf heftigsten Widerstand beim Versuch, die Straßen für sich in Anspruch zu nehmen.“ (471)

Ganz neue Erkenntnisse konnten in Bezug auf die Zusammenarbeit von NSDAP und SA mit der Polizei zu Tage gefördert werden; die Faschisten dienten sich der Staatsmacht schon vor der „Machtübernahme“ als Hilfssheriffs an und taten sich durch manche Denunziation hervor (472f.). Ohne die „Eingriffe des bürgerlichen Staates […] hätten die Nationalsozialisten Berlin [also] nicht erobern können.“ (483) Es ist perfide: Während die NSDAP den Arbeitern vorgaukelte, eine Politik in deren Interesse betreiben zu wollen, trug sie gleichzeitig Zwist und Gewalt in ihre Kieze und gerierte sich dem (Klein-)Bürgertum gegenüber als „Ordnungsfaktor [...] und hatte damit die größten Wahlerfolge zu verzeichnen.“ (43)

Die größten Wahlerfolge in eher bürgerlichen Gegenden, also keine Überläufer in größerer Zahl, keine nachhaltige Durchdringung des „links-proletarischen Milieus“? Reschke verneint diese Frage entschieden. Die Faschisten versuchten, sich in Arbeiterkreisen einzunisten, aber so recht gelingen wollte es ihnen nicht, wie etwa der dürftige Erfolg ihrer „Hib-Kampagne“ („Hinein in die Betriebe!“) illustriert: 10.000 neue Mitglieder aus der Arbeiterschaft wollte die NSDAP damit im Herbst 1931 gewinnen, am Ende der Aktion waren es lediglich 2.000 (78). Wie schon Longerich, der die von der NSDAP selbst aufgestellte These von den in Scharen zu der SA übergelaufenen marxistischen Arbeitern in das Reich der „nationalsozialistische Legendenbildung“4 verwiesen hat, verneint auch Reschke einen solchen Seitenwechsel in größerem Stile: „Fakt ist vielmehr, dass, gerade weil ein Mitglied der KPD oder einer ihr nahestehenden Organisation auch meist in das proletarische subkulturelle Milieu eingebunden war, Konvertiten bis 1933 die Seltenheit blieben.“ (135)

„Erst [...] die Machtübertragung am 30. Januar 1933 brachte die Entscheidung im ‚Kampf um die Macht‘ zu Gunsten der Nationalsozialisten.“ (483) Dieser Umstand ist bekannt, Beklommenheit ergreift eine(n) beim Gedanken daran dennoch. Die detail- und faktenreiche Studie Reschkes fördert stimmig ein Bild zu Tage, aus dem hervorgeht, dass das Berliner Arbeitermilieu trotz manches Rückschlags, etwa der Etablierung von SA-Stützpunkten in seinen Kiezen, wehrhaft blieb bis zum Tage der faschistischen „Machtübernahme“. Danach freilich machten sich diese umgehend daran, die „links-proletarischen“ Strukturen zu zerstören. So bleibt festzuhalten, dass letztlich erst dem NS-Staat – folgerichtig nach der „Machtübernahme“ – der entscheidende Anteil an der Zerschlagung des proletarischen Milieus zukam, welches bis zur Implementierung „des Antikommunismus als übergreifende[r westlicher] Integrationsideologie“ in den sechziger Jahren in Westdeutschland gänzlich zerfallen war (483f.). Insgesamt kann also resümiert werden, dass die vorliegende Schrift als erfreulich qualitätsvolle marxistische Intervention in dem in den letzten Jahrzehnten leider zunehmend von bürgerlichen Wissenschaftlern okkupierten Themenfeld der empirischen Faschismusforschung zu bewerten ist.

Dorian Tigges / Cornelius Hansen

Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939

Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939 (= Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, hrsg. v. Gerhard A. Ritter, Bd. 12), Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 1999, 1200 S., 28,00 Euro;

Michael Schneider, In der Kriegsgesellschaft. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1939-1945 (= Geschichte …, Bd. 13), Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2014, 1512 S., Ill., Bibl., Personenreg., Sachreg., 98,00Euro.

Mit dem Band über die Zeit des zweiten Weltkrieges hat S. sein Monumentalwerk über Arbeiter und Arbeiterbewegung in der NS-Zeit abgeschlossen. Wie soll ein Rezensent mehr als zweieinhalbtausend Seiten in einer Besprechung vorstellen und werten? Da bleibt nur die Möglichkeit, einige Anreize zum Lesen zu vermitteln und das eine oder andere Bedenken zu äußern.

In der Einleitung zum Band über die Vorkriegszeit begründet der Autor seine Vorgehensweise, sein Verständnis von Arbeiterklasse, Arbeiterschaft, Arbeiterbewegung und Arbeitermilieu, steckt er das Untersuchungsfeld Deutschland in den Grenzen von 1937 ab. Hier benennt er die mit seiner Thematik verbundenen Kontroversen. Sein Anliegen ist es, „eine Gesamtdarstellung von Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung im Spannungsfeld von Integration, Anpassung und Widerstand“ vorzulegen. (19) Und es kann schon eingangs gesagt werden, dass ihm dies auf einer breiten Quellenbasis in hohem Maße gelungen ist. Wenn er sich methodisch für die Benennung der NS-Herrschaft als Nationalsozialismus und gegen den Faschismusbegriff entscheidet, vermag er nicht so recht zu überzeugen, zumal er selbst die Phrasen vom „deutschen Sozialismus“ und von der „Volksgemeinschaft“ widerlegt. In den von ihm zitierten zeitgenössischen Dokumenten – sowohl kommunistischen als auch sozialdemokratischen – ist der Begriff „Faschismus“ durchaus präsent. Und wie steht es dann um den Antifaschismus? Zudem blendet die Beschränkung auf „Nationalsozialismus“ den Vergleich mit anderen faschistischen oder faschistoiden Regimen Europas weitgehend aus und lässt die Besonderheiten des Hitlerregimes nicht hinreichend hervortreten. Aber solche definitorischen Festlegungen beeinträchtigen die eigentliche tiefgründige Darstellung und Analyse nicht gravierend.

Gegenstand des ersten Kapitels ist die „Machtübernahme der Nationalsozialisten“ und deren brutale wie auch taktisch geschickte Ausschaltung der Arbeiterorganisationen. In diesem bereits gut untersuchten Zeitabschnitt ist der Neuwert verständlicherweise geringer als in anderen Perioden. Die Gretchenfrage, ob und wie die Nazidiktatur zu verhindern gewesen sei, beantwortet er ohne einseitige Schuldzuweisungen – wie mir scheint zutreffend – dahingehend, dass es Anfang 1933 eigentlich schon zu spät war, um einen die Zerstrittenheit der deutschen Arbeiterbewegung überwindenden gemeinsamen erfolgreichen Widerstand zu organisieren.

Mit hoher Sachkenntnis und überaus detailliert analysiert S., wie sich durch die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Hitlerregierung und deren mythische Verklärung der Arbeit, durch Ausschalten der Gewerkschaften und Aufheben der Tarifautonomie die Arbeitswelt, aber auch Freizeit und Familie verändert, wie die faschistischen Zwangsorganisationen auf die Arbeiterschaft eingewirkt haben. Bestrebungen, solche eng mit Hochrüstung und Kriegsvorbereitung verbundene Prozesse als Modernisierungen zu interpretieren, weist er entschieden zurück. Zugleich führt er den Nachweis, dass die Arbeiterschaft in den gesellschaftspolitischen und strategischen Erwägungen der NSDAP einen hohen Stellenwert besaß, weshalb ihre Organisationen zerschlagen, Arbeiter und Angestellte jedoch zugleich umworben wurden. Beschrieben werden deshalb sowohl der Ausbau des Apparates des Terrors, der Überwachung und der „Erziehung“ als auch ein realisierter Katalog sozialer Maßnahmen, die sich nicht als bloß demagogische Unternehmungen abtun lassen.

Auf diesem Hintergrund erscheint der anschließend ausführlich behandelte Widerstand im Lande und im Exil in etwas neuem Lichte. Tritt angesichts der zuvor dargestellten Gesamtsituation der Arbeiterschaft die Begrenztheit des aktiven Widerstands deutlicher hervor, so unterstreicht dies zugleich den Mut und die Opferbereitschaft der tatbereiten Antifaschisten. S. stellt die verschiedenen von den Nazis verfolgten und Widerstand leistenden, unter den Bedingungen der Weimarer Republik entstandenen Abteilungen der Arbeiterbewegung nebeneinander und bescheinigt den Kommunisten, dass von ihnen der Hauptanteil des organisierten Widerstandes erbracht wurde, der allerdings wellenförmig verlief und durch den so genannten Hitler-Stalin-Pakt arg beeinträchtigt wurde. Ein spezieller Abschnitt ist den Bemühungen um die Einheits- und Volksfront gewidmet. Unverständlich ist, wieso Solidarität und Abwehrhaltungen in Konzentrationslagern und Gefängnissen wie auch die Internationalen Brigaden zur Unterstützung der Spanischen Republik keine Berücksichtigung gefunden haben.

Im Band über die Kriegszeit hält der Autor an der erprobten Vorgehensweise fest und handelt drei große Komplexe ab: die Mobilisierung der Arbeiterschaft für den Kriegseinsatz und die entsprechende Wirtschafts- und speziell Rüstungspolitik des NS-Systems, die Auswirkungen auf die Arbeitswelt und die Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft und schließlich den Widerstand und die Politik der verbliebenen Arbeiterorganisationen im Exil und in der Illegalität. So gelangt er zu der grundlegenden Einschätzung, „dass die Zäsur des Kriegsbeginns und dann vor allem die Führung des ‚Totalen Krieges‘ die deutsche Gesellschaft so tiefgreifend nachhaltig veränderten, dass dabei eine dramatische Radikalisierung der in der Vorkriegszeit angelegten Grundtendenzen der nationalsozialistischen Herrschaft eintrat, die einen qualitativen Sprung markiert.“ (22)

Die bittere, mit Schneiders Forschungen untermauerte Wahrheit ist, dass der überwiegende Teil der Arbeiterschaft den NS-Staat akzeptiert oder hingenommen hat und sich verpflichtet fühlte, mit seinen Kräften die Kriegsführung zu unterstützen und zum Sieg „des Vaterlandes“ beizutragen. In den Kontroll- und Terrorapparaten der Nazis waren auch Angehörige der Arbeiterschaft aktiv. Die schon in der Vorkriegszeit erprobte Kombination von Umwerbung, sozialen Zugeständnisse und brutalem Zwang fand im Kriege noch ihre Steigerung. Die vielbeschworene „Volksgemeinschaft“ bedeutete nicht soziale Gleichheit, sondern eine völkische, nach rassistischen Gesichtspunkten homogene Gesellschaft. Eine besondere Rolle spielte dabei der rassistisch hierarchisierte Einsatz von Fremdarbeitern und ausländischen Zwangsarbeitern, der in strikter Abgrenzung zu den deutschen Arbeitern und Arbeiterinnen erfolgte und nicht zuletzt männlichen Facharbeitern unverhoffte Aufstiegschancen zum Vorarbeiter bzw. Meister bot. Doch Schneider arbeitet auch beweiskräftig heraus, welche Handlungsräume von Arbeitern und Arbeiterinnen dennoch genutzt, wie Konflikte ausgetragen wurden. Gleichwohl gelang es dem Regime, „Missmut und Widerwillen die Spitze zu nehmen“ (1342). Anders wäre der „Totale Krieg“ nicht führbar gewesen.

Der im III. Kapitel behandelte Widerstand wird in seinen realen Dimensionen erfasst – territorial (Exil und Illegalität) und politisch (Berücksichtigung aller Strömungen der Arbeiterbewegung). Dass dies nicht lückenlos geschehen kann, wird dem Autor jeder mit der Materie Vertraute zubilligen. Bezogen auf die Endphase des Hitlerregimes wird zu Recht zwischen Widerstand und „Aufkündigung der Gefolgschaft“ (1236) unterschieden, die durchaus auch persönliche Risiken in sich bergen konnte. Die Darstellung mündet in einen Abschnitt über „Ende und Neuanfang“ ein, wie er in dieser Ausführlichkeit nicht zwingend in einem Buch über die „Kriegsgesellschaft“ erwartet werden darf. Hier allerdings tritt die Ausgewogenheit in den Proportionen und Wertungen, die das Gesamtwerk auszeichnet, merklich zurück. Die nunmehr durch die Siegermächte gesetzten, das faschistische Regime ablösenden Rahmenbedingungen scheinen nur ansatzweise auf. Die Konzentration auf die Westzonen – besonders auf die Entwicklungsprozesse in der westdeutschen Sozialdemokratie und den westdeutschen Gewerkschaften – lässt nicht erkennen, dass das politische und wirtschaftliche Leben in der sowjetischen Besatzungszone bereits früher in Gang gekommen war, und zwar durchaus mit Ausstrahlungskraft auf den deutschen Westen. Die Wiederbelebung der Arbeiterbewegung erfolgte unverkennbar in zonaler Behinderung, aber mit gesamtdeutschem Anspruch, seitens der Kommunisten auch in einer gesamtdeutschen Parteiorganisation und seitens der Gewerkschaften als Ringen um einen durch Interzonenkonferenzen vorzubereitenden gesamtdeutschen Gewerkschaftsbund.

Alles in allem liegt uns als Ergebnis intensiver Studien und gründlicher Verarbeitung eines reichen Tatsachenmaterials ein Respekt einflößendes Werk vor. Der Umfang beider Bände lässt allerdings befürchten, dass es eher als Nachschlagwerk, denn als Lesebuch genutzt wird. Ein Komprimat des Forschungsertrags als Taschenbuch böte sich eigentlich an.

Günter Benser

John Heartfield – eine neue Biografie

Anthony Coles, John Heartfield. Ein politisches Leben, Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2014, 400 S., 39,90 Euro.

Seine Werke avancierten zum vielzitierten Beispiel einer innovativen, das Auge wie das Hirn des Massenpublikums gleichsam fesselnden linkssozialistischen Propaganda der 1920er und 1930er Jahre. John Heartfield, 1891 als Hellmuth Franz Josef Herzfeld geboren, schuf Bildikonen, die noch heute sowohl in der dezidiert linken Publizistik, aber auch von zahllosen Schulbuchautoren, Ausstellungskuratoren und Journalisten zur Illustration antifaschistischen und -kapitalistischen Widerstandes verwendet werden. Kaum ein seriöses Historienwerk kommt ohne solche Fotomontagen aus, wie zum Beispiel „Millionen stehen hinter mir“ – bezugnehmend auf die Finanzierung Hitlers und seiner Partei durch die deutsche Großindustrie – oder dem berühmten „Durch Licht zur Nacht“, das die faschistische Barbarei der Bücherverbrennung im Jahre 1933 visuell eindringlich verarbeitet und anklagt.

Auf rund 400 Seiten legt der Kunsthistoriker Anthony Coles nunmehr eine Monografie über John Heartfield vor, die kunsthistorische Analysezugänge mit popularisierend-biografischen Schilderungen zu verbinden versucht. Coles Prämisse ist dabei: „Heartfield einem breiten und interessierten Publikum nahezubringen“ (12).

Als hochpolitischer Künstler war Heartfield ein Kind seiner Zeit, dessen Bestreben es war, eine zwischen Klassen, politischen Machtblöcken und historischen Kontinuitäts- und Bruchlinien zerrissene Welt für ein (proletarisches) Massenpublikum begreifbar zu machen. Kunst sei der Hammer, mit welchem die Wirklichkeit zu schmieden sei, so ein Marxsches Bonmot. „Benütze Foto als Waffe“ lautete klassenkämpferisch und mit den fotografischen Mitteln der 1920er Jahre ausgedrückt das Motto einer 1929 in Berlin gezeigten Ausstellung verschiedener Werke Heartfields. Wirkmächtig seien Heartfield Fotomontagen laut Coles durch „die elementare dialektische Konfrontation eines Textes oder einer Bildunterschrift mit einer bildlichen Darstellung“ (287). Das bewusste Spiel mit dem unfehlbaren Wahrheitspostulat der Fotografie, deren Demontage und glaubwürdige Neuinszenierung einerseits und dem Objektivitätsanspruch des Zitats andererseits, begründet die direkte, demokratische, weil von keinerlei theoretischen Zugangshindernissen verbaute Aufnahme und Verarbeitung der beabsichtigten Bildaussage im Auge und Hirn eines Massenpublikums. Heartfield ging als polit-künstlerischer Macher, nicht als Verfasser seitenlanger kunstpolitischer Traktate in die Geschichte ein. Marxistische Diskussionen um das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität im Wirkungsdreieck Mensch-Medium-Umwelt, wie sie im sowjetischen, bis 1933 auch in marxistischen Kreisen Deutschlands geführt worden waren, fanden ohne Heartfields Beitrag statt. Auch Coles orientiert sich an besagter Distanz, wenn er auf die seiner Disziplin sowie in Zeiten der ausufernden Bildwissenschaft üblichen hochverkopften Analysen verzichtet. Vielmehr liefert er handfeste, handwerklich ordentliche Überblicksdarstellungen und zeigt Entwicklungen und Neuerungen auf, die Heartfields Schaffen mit sich brachte.

Lobend hervorzuheben ist Coles Parallelisierung der politisch-didaktischen Ideen John Heartfields und Willi Münzenbergs, einem der bedeutsamsten linken Multiplikatoren, Verleger und Herausgeber der Weimarer Republik. Die geschickte Kombination von packenden Bildern und kapitalismuskritischen Texten in der berühmten Arbeiter-Illustrierten Zeitung (AIZ), passte mit ihrem unterhaltenden Grundton optimal zu Heartfields satirischer Art, die Wirklichkeit zu verarbeiten. Zwischen 1930 und 1938, der Einstellung des AIZ-Nachfolgers, der Volks-Illustrierten (VI), lieferte Heartfield rund 237 Fotomontagen. Folgerichtig widmet Coles rund 150 Seiten seiner Monografie der Analyse und Beschreibung besagter Auftragsarbeiten. Die grundlegende thematisch-chronologische Sortierung bietet sich insofern an, als dass dem Leser so die starke Ereignis- und Diskursgebundenheit der Massenwerke Heartfields klar vor Auge geführt wird. Trotz der an zahlreichen Stellen zu deskriptive Analyse sowie der teilweise nur angerissenen Einbettung in den zeitgenössischen Kontext bildet die auf Vollständigkeit ausgelegte Zusammenstellung einen katalogartigen Überblick über Themenschwerpunkte wie „Krieg, Kapital und Industrie“ (169-178), „Der Nationalsozialismus vor der Machtübernahme“ (180-184), „Früher Pro-kommunismus“ (189-205), „Der Reichstagsbrandprozess“ (207-213), „Der Spanische Bürgerkrieg“ (221-234), oder „Innenpolitische Fragen [des NS-Regimes, Anm. VJH]“ (240-254). Eher störend denn hilfreich sind dabei allerdings die subjektiven Bewertungen der Fotomontagen durch Coles – die Attitüde eines Kunstkritikers scheint sich hierbei Bahn zu brechen.

Wissenschaftlich nüchtern versucht Coles stets die Beschönigungen und Verfälschungen aufzudecken, die nach 1945 von John Heartfield selber, im Besonderen jedoch von dessen Bruder Wieland Herzfelde mit dessen 1962 erschienener Werkschau vorgenommen wurden. Mehrfach, fast redundant, geht der Autor gegen Mythologisierung und Entkontextualisierung, d.h. das nachträgliche Herausreißen aus dem zeitlichen Entstehungskontext, vor (vgl. bspw. 346f.). Während seiner Zeit in der DDR lange verschwiegene, weil unliebsame Epochen des Heartfieldschen Œuvre wie die Dada-Phase oder die schaffensarme, krisenhafte Exilzeit in Großbritannien 1938-1950, erfahren in der vorliegenden Monografie eine angemessene Beschreibung.

Anthony Coles veröffentlichte eine Heartfield-Biografie, welcher das sinnvolle Zusammendenken von Zeitgeschehen, politischer Überzeugung des Dargestellten, allgemeiner Vita und dem vielschichtigen Œuvre zugrunde liegt. Es bedarf allerdings des Hinweises, dass der Autor keinen visuellen Prachtband, der sämtliche Werke Heartfields in Großformat abbildet, vorzulegen gedachte – diesbezüglich verweist Coles zumindest im Kontext der AIZ-Beiträge vernünftigerweise auf David Evans Buch aus dem Jahre 1992. Coles Biografie punktet im Besonderen durch die quellenkritische Dekonstruktion eines falschen Heartfield-Mythos, was den unverhüllten Blick auf eine der bedeutendsten politischen Künstler des 20. Jahrhunderts freigibt und zur bewussten (Wieder)Entdeckung seiner Fotomontagen einlädt.

Valentin J. Hemberger

Wie Herrschaft begreifen?

Wolf-Dieter Narr, Niemands-Herrschaft. Eine Einführung in Schwierigkeiten, Herrschaft zu begreifen, hrsg. v. Uta von Winterfeld, VSA, Hamburg 2015, 316 S., 26,80 Euro

Das vorliegende Buch hat eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte. Ein erstes Manuskript entstand vor rund 25 Jahren und basierte auf einer Vorlesung des Autors. Auf Grund der größere „Schwierigkeiten“ bereitenden „Kritik mangelnden Augenmaßes“ (10) durch den Lektor eines nicht näher benannten Verlages ging es nie in Druck. Schließlich erfuhr Uta von Winterfeld von der Existenz des Manuskripts und nahm sich seines an (ebd.). Gegenüber dem Originalmaterial wurde das Manuskript „gründlich überarbeitet“ und erfuhr eine Aktualisierung, Winterfeld selbst schrieb an den „Zwischenstücken“ mit (11). Ziel des Buches ist es, verteilt über zehn Kapital, „herauszufinden, wie es sich mit Herrschaft im Singular und Herrschaften im Plural“ (10) verhält. Ein wichtiger Ausgangspunkt ist die Annahme, dass auch die vermeintlich Herrschenden, etwa gewählte PolitikerInnen, „Unterworfene“ seien (9f.).

Narr nähert sich dem eigentlichen Kernthema mit Reflexionen über das „Problem der Theorie“ (1. Kapitel), den „Hauptprobleme[n] einer politische Theorie“ (2. Kapitel) sowie der Frage nach „Kriterien einer halbwegs angemessenen Methode, Theorien zu bilden“ (3. Kapitel). Diese drei ersten Abschnitte sind die überzeugendsten des gesamten Buches, ist es doch gerade in der akademischen Politikwissenschaft und Soziologie nur noch selten der Fall, die eigenen theoretischen Grundlagen kritisch zu reflektieren und nicht als naturgegebene Setzungen zu erfahren. Gerade an den Universitäten wird mit Theorien umgegangen, es seien sie fertig, als müsste der Kontext ihrer Entstehung nicht näher berücksichtigt werden (61).

Ganz allgemein, beobachtet Narr, werde „Theorie als Vor- und Zuarbeit zu einer aufgeklärten Praxis gesetzt“ (15), allerdings seien „Theorien“ nie „zum allgemeinen Gut geworden“, das praktisches „Handeln anleitete“, vielmehr „gerannen“ sie „allenfalls zum perversen Herrschaftsmittel“ (ebd.). Angesichts dessen habe Theorie nur eine „Chance als kritische“, die „Selbstverständlichkeiten und Selbstverständnisse […] mit Fragen zersetz[t]“ (ebd.). Theorien müssten dabei immer „als Herrschaftsmittel“ analysiert werden, die auch „Weltverklärungen“ dienten (21). Narr gibt sich als Verfechter eines „Streit[s] der Theorien“ zu erkennen und plädiert für einen „qualitative[n] Pluralismus“, insbesondere „im Rahmen wissenschaftlich etablierter Fächer“ (27).

Der „Herrschaftscharakter von Theorien“ werde insbesondere dann gefestigt, wenn ihre Entstehungsumstände und -prozesse – angesichts dessen, dass eine jede Theorie Wirklichkeit darzustellen behauptet – nicht reflektiert werden, mit ihnen verknüpfte Interessen unhinterfragt bleiben (65). Die „Theoriegeschichte“ sei „im Kontext der Herrschaftsgeschichte zu verstehen“ (71). Gerade die „fiskalisch unterfütterten Beweggründe schlagen“ aktuell „viel mehr durch und prägen Themenwahl, Methode und Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeiten, da den Wissenschaften im ökonomisch-politischen Konkurrenzkampf eine Schlüsselrolle zukommen“ (ebd.). Die Frage nach der „ökonomisch-politischen Verwertbarkeit“ erkennt Narr zu Recht als die größte Gefahr von Wissenschaft und ihren Theorien (ebd.).

Diesen hier nur kursorisch dargestellten Reflexionen folgt eine ausufernde, in viele Kleinigkeiten zersplitternde Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Thema, die in der These mündet: „Herrschaft ist nicht auf den Begriff zu bringen und lässt sich begrifflich nicht einfangen“ (289). Die titelgebende Verwendung von „Niemands-Herrschaft“, geborgt von Arendt, bezeichnet die „Not“ der Autoren, „ein passendes Wort zu finden, das die Präsenz von Herrschaftlichem erfasste“ (291). Die Niemands-Herrschaft sei eng verknüpft mit „systematische[m] Nichtwissen“ (292) und die Prozesse der „Objektivierung, Identifizierung und Abstraktion“ (315) – deren Ursache die weitverbreitete Unfähigkeit sei, „Ambivalenzen und Ambiguitäten“ der sozialen wie politischen Welt ertragen und auszuhalten zu können (100) – erwiesen sich als große Gefahren, die zum Verschwinden und Zerreißen „[s]oziale[r] Zusammenhänge“ führen und somit das Ende des „politische[n] Wesens“ Mensch bedeuten könnten (315).

Alle bekannten zum Bereich der Herrschaft gehörenden Themen wie „Gewalt, Gewaltmonopol und Legitimität“ (5. Kapitel) „Instrumente der Herrschaft“ (6. Kapitel), die Bürokratie, der Staat, die „(Liberale) Demokratie als Herrschaftsform“ (9. Kapitel), der Zusammenhang von Sprache und Politik usw. und deren Verknüpfung mit der globalen Ebene und dem Weltmarkt werden abgearbeitet.

„Im Grunde nichts Neues, sondern Max Weber und Hannah Arendt folgend“, lediglich „zeitgenössisch radikalisiert“ (190) – dieser Einschätzung der Herausgeberin selbst ist nichts hinzuzufügen. Der Band hat angesichts der heute anderweitig vorliegenden, ausufernden Literatur wenig Originelles zu bieten. Die Hoffnung, „so etwas wie ein politikwissenschaftliches Lehrbuch verfasst [zu] haben“ (316), erfüllt sich nur mit Blick auf die ersten drei Kapitel, die einen kritischen Umgang mit Theorien lehren und entsprechende Fragen an diese bereitstellen. In sprachlicher Hinsicht ist das Buch größtenteils eine Zumutung. Nicht umsonst warnt der Autor auch vor seinen „Narrismen“ (11). Was bleibt ist ein Sammelsurium, das Herrschaft in seinen mannigfaltigen Dimensionen benennt, nicht mehr, nicht weniger.

Sebastian Klauke

Autorinnen und Autoren, Übersetzer

Dr. Elisabeth Abendroth – Frankfurt/M., Sozialwissenschaftlerin

Dr. Matin Baraki – Marburg, Politikwissenschaftler, Lehrbeauftragter

Prof. Dr. Günter Benser – Berlin, Historiker

Nico Biver – Marburg, Dipl. Volkswirt, Wahlkreismitarbeiter

Friedrich Carl – Köln, Diplom-Informatiker

Sebastian Chwala – Marburg, Di-plom-Politikwissenschaftler, Doktorand

Matthias Clausen – Berlin, Masterstudent Soziokulturelle Studien an der Europa-Uni in Frankfurt/Oder

Sophie Dieckmann – Berlin, Mag. der Sinologie, Studium in Leipzig, Shanghai und Peking, Wissenschaftspreis der Rosa-Luxemburg-Stiftung für ihre Arbeit über das Wiedererstarken des Klansystems in der Volkrepublik China

Klaus Dräger – Köln, Publizist, Z-Beirat

Prof. Dr. Christian Fuchs – London, Medien- und Kommunikationswissenschaftler, Hochschullehrer am Communication and Media Research Institute (CAMRI) der University of Westminster/London

Prof. Dr. Georg Fülberth – Marburg/L., Politikwissenschaftler

Dr. Jörg Goldberg – Frankfurt/M., Wirtschaftswissenschaftler, Z-Redakteur

Cornelius Hansen – Marburg, Studium der Geschichtswissenschaft, Verkehrsreferent der Marburger Studierendenschaft

Valentin Hemberger, M.A. – Stuttgart, Historiker, Fachjournalist

Prof. Dr. Wulf D. Hund – Hamburg, Soziologe

Emanuel Kapfinger – Frankfurt am Main, M.A. Philosophie, Lehrbeauftragter für Sozialpsychologie an der FH Frankfurt

Ernest Kaltenegger – Graz, ehem. Stadtrat der KPÖ

Alan Ruben van Keeken – Siegen, Student der Musikwissenschaften, Z-Redakteur

Sebastian Klauke – Kiel, Doktorand der politischen Soziologie

Prof. Dr. Arno Klönne (1931 - 2015) – Paderborn, Politikwissenschaftler

Stephan Krüger – Berlin, Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmensberater für Belegschaften und ihre Repräsentanten (Betriebsräte, Gewerkschaften)

Dr. Jürgen Leibiger – Radebeul, Wirtschaftswissenschaftler

John Lütten – Jena, Student der Soziologie

Prof. Dr. Thomas Metscher – Ottersberg/Grafenau, Literaturwissenschaftler

Dr. Paul Oehlke – Köln, Sozialwissenschaftler

Patrick Ölkrug – Marburg, Student der Politikwissenschaft

Prof. Dr. Lothar Peter – Bremen, Sozialwissenschaftler

Christiane Reymann – Berlin, Publizistin

Prof. Dr. Jörg Roesler – Berlin, Wirtschaftshistoriker, Hochschullehrer

Prof. Dr. Mechthild Schrooten – Bremen, Wirtschaftswissenschaftlerin, Hochschullehrerin, Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik

Dr. Conrad Schuhler – München, Mitarbeiter des isw (Institut für sozialökologische Wirtschaftsforschung e.V.)

Prof. Dr. Klaus Steinitz – Berlin, Wirtschaftswissenschaftler

Dorian Tigges, B.A. – Marburg, Studium der Geschichtswissenschaft, Marburger AStA-Vorstand

Dr. Axel Weipert – Berlin, Historiker

Dr. Gerd Wiegel – Berlin, Politikwissenschaftler, Fachreferent Rechtsextremismus/Antifaschismus der Linksfraktion, Z-Redakteur

1 Im Buchabschnitt über Engels und Marx geht es ihm darum, zu zeigen, dass Engels im dritten Band des „Kapitals“ dessen Darstellung des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate keineswegs fälscht, wie das gelegentlich behauptet wird. Abgesehen davon, dass dieser Abschnitt etwas weit vom Thema Geld wegführt, bleibt es ein Rätsel, warum die Überschrift „Engels fälscht Marx“ – ohne wenigstens ein Fragezeichen zu setzen – lautet (395). Die Ironie, der Müller ausschweifend frönt, ist hier fehl am Platz.

2 Klaus Müller, Zentralbanken. Überschätzte Steuerungsfähigkeit? In: Z 102 (Juni 2015), S. 23-32.

3 Karl Marx, Das Kapital, Band III, MEW 25, S. 556 - 558, 587.

4 Ebenda, S. 457, 560.

[1] Baier war von 1994 bis 2006 Bundesvorsitzender der Kommunistischen Partei Österreichs und ist seither Koordinator des Netzwerks transform!, der Bildungs- und Forschungseinrichtung der Partei der Europäischen Linken.

[2] Bernhard Schmid kam in einer Analyse für Labournet (Künftiges Europaparlament: Zum erreichten Stand der Rechtskräfte, 26.5.2014) auf 145 Abgeordnete aus diesem Spektrum (Rechtspopulisten, Neonazis). 12 Abgeordnete davon sind fraktionslos (von Jobbik Ungarn, Goldene Morgenröte Griechenland, NPD, Dissidenten des Front National aus Frankreich usw.), die anderen in den Fraktionen Europäische Konservative und Reformer (EKR, Syed Kamall, britische Konservative u.a.), Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD; Nigel Farage, UKIP u.a.) und Europa der Nationen und Freiheit (ENF, Marine Le Pen, FN u.a.) organisiert. Rechnet man wie Baier die 12 Abgeordneten der ungarische FIDESZ mit dazu (sie gehört der Fraktion der konservativen EVP an), kommen sie auf beachtliche 157 Mandate von insgesamt 751. Berlusconis Forza Italia (und ihr Zusammenschluss mit der ‚postfaschistischen Alleanza Nazionale’ zur PdL) zählt Baier offenbar nicht zum rechtspopulistischen Spektrum. Anders sah dies Christian Christen (Italiens Modernisierung von Rechts; Berlusconi, Bossi, Fini oder die Zerschlagung des Wohlfahrtsstaates; Berlin, Dietz, 2001, Schriften / Rosa-Luxemburg-Stiftung; Bd. 10.

[3] Baier meint, dass die Linksfraktion im EP (GUE/NGL) damit ihrem Ziel, „eine große, pluralistische linke Sammelbewegung zu werden (…) ein Stück näher gekommen“ sei, weil sich z.B. die Tierschutzparteien aus Deutschland und den Niederlanden und Podemos aus Spanien ihr angeschlossen haben (10/11). Bezüglich Podemos finde ich dies zutreffend. Was die Tierschutzparteien angeht, sind die inhaltlichen Schnittmengen schwieriger zu erkennen (weil diese außer zu ihrem Kernthema Tierschutz politisch eher vage aufgestellt sind). Die Grünen im EP hatten diese Methode der eher ‚technischen’ Assoziierung von MEPs und Parteien jenseits ihrer eigenen Parteienfamilie in den vorherigen Legislaturperioden erfolgreich praktiziert. Die gemeinsame Fraktion mit den Regionalisten und Mikronationalisten der Europäischen Freien Allianz (EFA) erlaubte es, zum beiderseitigen Vorteil mehr Ressourcen vom EP zu erhalten (finanziell, MitarbeiterInnen, Antragsrechte etc.). Bei der Aufnahme der MEPs aus den Tierschutzparteien in die GUE/NGL ging es eher wie bei Grünen/EFA im Kern um solche profanen Interessen. ‚Radikale Linke’ im Sinne Baiers sind die Tierschützer gewiss nicht, rechtspopulistisch sind sie bislang aber auch nicht aufgetreten. Die von Baier zu Recht als rechtspopulistisch bezeichnete Neue Flämische Allianz (NVA, Belgien) war übrigens vor der EP-Wahl 2014 lange mit einer MEP in der Fraktion Grüne/EFA vertreten. Dies wurde von der ‚radikalen europäischen Linken’ nie öffentlich wahrnehmbar thematisiert.

[4] Z.B. SYRIZA als stärkste politische Kraft in Griechenland nach den Wahlen im Januar 2015, zu den Folgen später; die rechtspopulistische Dänische Volkspartei als zweitstärkste Kraft vor den Liberalen als ihrem designierten Koalitionspartner und das Ende von Mitte-Links im Juni 2015 dort usw.

[5] Wie stabil diese Erfolge sind, wird sich noch zeigen. Baier vermerkt m.E. zu Recht: „Bis zu ihrem wahlpolitischen Zusammenbruch 2008 galt Rifondazione Comunista als das Erfolgsmodell radikal-linker Politik schlechthin, 2010 war es DIE LINKE Deutschlands, dann für kurze Zeit die SP der Niederlande, im Frühjahr 2013 schien es, als hätten Jean Luc Mélenchon und der Front de Gauche die Erfolgsformel gefunden, und heute ist es SYRIZA, auf die sich die Aufmerksamkeit richtet.“ (78)

[6] Leo Trotzki: Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen? Frankfurt am Main 1971, S. 17.

[7] Ebda., S. 19.

[8] Siehe z.B. die zahlreichen Beiträge von Ulla Plener und anderen zu dieser Thematik in ‚Z’. So unterstrich auch Frank Deppe (Die Linie Luxemburg-Gramsci, Argument Sonderband 159, Hamburg 1989, S. 16): „Dennoch halte ich das folgende Urteil von Gilbert Badia für zutreffend: ‚Lenin ist nicht nur kein bevorzugter Gegner Rosa Luxemburgs, sondern überhaupt nicht ihr Gegner. Die Perioden der Übereinstimmung zwischen beiden überwiegen die Perioden der Nichtübereinstimmung. Auch wo polemisiert wird, handelt es sich fast immer um Polemik oder Diskussionen zwischen Revolutionären, die auf derselben Seite der Barrikade stehen.’ (Badia 1974, 206).“

[9] Frei nach Karl Marx: „Hier ist die Rose, hier tanze.“

[10] Vgl. meinen Beitrag zur europäischen Linken in Z 97 vom März 2014 und in diesem Heft.

1 Jeremy R. S. Brown, The Berlin NSDAP in the Kampfzeit, in German History (Oxford), 7 (1989), S. 247. Mit ähnlichem Tenor Bernd Kruppa, Rechtsradikalismus in Berlin 1918–1928, Berlin 1988, S. 368, und Hans-Rainer Sandvoß, Die „andere“ Reichshauptstadt, Widerstand aus der Arbeiterbewegung in Berlin 1933–1945, Berlin 2007.

2 Detlef Schmiechen-Ackermann, Nationalsozialismus und Arbeitermilieus. Der nationalsozialistische Angriff auf die proletarischen Wohnquartiere und die Reaktion in den sozialistischen Vereinen, Bonn 1998, S. 190ff.

3 Schmiechen-Ackermann, Arbeitermilieus, S. 210.

4 Peter Longerich, Die braunen Bataillone. Geschichte der SA, München 1989, S. 84.