Sozialismus ohne Gegenstand und Subjekt

Zur Kritik Axel Honneths

von Harald Werner
März 2016

Weil von einer aktuellen Konjunktur der Erneuerung sozialistischer Theorien kaum die Rede sein kann, verdient der „Versuch einer Aktualisierung“ der „Idee des Sozialismus“[1][1] von Axel Honneth zunächst einmal aufmerksame Anerkennung. Das gilt vor allem für seine umfassende Ideengeschichte des Sozialismus, die von den verschiedenen historischen Interpretationen der Parole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ nach der Großen Französischen ausgeht, aber auch bis in die Anfänge der Aufklärung zurückgeht. Damit hört es denn aber auch auf, denn sein Versuch, „den Sozialismus von den Schlacken seines im 19. Jahrhundert wurzelnden Denkgebäudes zu befreien“[2][2], verzichtet fast vollständig auf die Analyse der materiellen gesellschaftlichen Prozesse und Klassenkämpfe, aus denen dieses Denkgebäude entstanden ist, also auf den eigentlichen Gegenstand sozialistischer Praxis und Theoriebildung. Manchmal erweckt der Autor den Eindruck, als wäre es den Sozialisten des 19. Jahrhunderts vor allem um den Versuch gegangen, „den liberalen Begriff der Freiheit so zu erweitern, dass er mit dem anderen Ziel, der ‚Brüderlichkeit’ irgendwie vereinbar wird.“[3][3] Honneth bleibt selbst auf dieser Diskursebene und konstruiert eine „Idee des Sozialismus“, die sich mit allem beschäftigt, nur nicht mit der Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus. Er will die „Gesellschaft der Zukunft nicht mehr als eine von unten, von den Produktionsverhältnissen“ her bestimmte untersuchen, „sondern als ein organisches Ganzes unabhängiger, aber zweckgerichteter zusammenwirkender Funktionskreise, in denen die Mitglieder jeweils in sozialer Freiheit füreinander tätig sein können.“

Dieser Verzicht auf eine Analyse der aktuellen Produktionsverhältnisse ist angesichts der zunehmenden Ökonomisierung der Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts, der Kommodifizierung aller Lebensgüter und der vielen neuen Erscheinungen des Kapitalismus, wie etwa der Finanzialisierung, kaum verständlich. Völlig uninteressant sind für ihn auch die Quellen und die Verteilung des Profits, das Geheimnis kapitalistischer Akkumulation sowie die Ursachen der kapitalistischen Krise. Sie sind bei Honneth ebenso abwesend, wie Lohnarbeit und Privateigentum, die im Sammelbegriff „kapitalistische Marktwirtschaft“ verschwinden. Der Arbeitsprozess interessiert Honneth vor allem als prozessierender Widerspruch zwischen den Ideen von Freiheit und Brüderlichkeit, nicht als Sphäre, in der sich der Grundwiderspruch kapitalistischer Vergesellschaftung enthüllt. Kein Wunder, dass Marx Definition vom „doppelt freien Lohnarbeiter“ nicht auftaucht, obwohl sie die Uneinlösbarkeit des bürgerlichen Freiheitsversprechens besser enthüllt, als alle philosophischen Spekulationen über die Vereinbarkeit von Freiheit und Brüderlichkeit. Weil nämlich in der kapitalistischen Realität das Freiheitsrecht der Lohnarbeit die Voraussetzung ihrer Unfreiheit ist.

Dass Honneth einen großen Bogen um die „Kritik der Politischen Ökonomie“ macht, begründet er mit seinem Vorwurf an die marxistischen Klassiker, sie verfolgten die „Vision einer ökonomisch verwalteten Gesellschaft “[4][4], die ihnen den Blick für die Gesamtheit gesellschaftlicher Prozesse verstellt habe. Unabhängig davon, dass es sich dabei um keine marxistische Vision handelt, haben sowohl Marx als auch Engels immer wieder betont, dass es kompletter Unsinn sei, alle gesellschaftlichen Prozesse aus der Ökonomie abzuleiten, weil die ökonomischen Bedingungen nur die in letzter Instanz entscheidenden seien.[5][5]

Honneth fällt mit seiner Vorstellung gesellschaftlicher Strukturen sogar hinter den größeren Teil der bürgerlichen Soziologie zurück, indem er die Gesellschaft auf nur drei „Teilsysteme“ mit „selbständiger Funktionslogik“[6][6] zusammenschrumpfen lässt: Das „ökonomische Handlungssystem“, die Sphäre der demokratischen Willensbildung und die „Handlungssphäre von Liebe, Ehe und Familie“[7][7]. Das mag ausreichen, um in diesen „Sphären“ beispielhaft nach „sozialen Freiheitsrechten“ zu suchen, für eine gesellschaftliche Strukturanalyse taugt diese Vereinfachung nicht. Der größte Pferdefuß bei Honneths Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Wandel durch das eigensinnige Handeln der Individuen in den drei gesellschaftlichen Teilbereichen ist jedoch, dass er die Widersprüche innerhalb dieser Teilbereiche und vor allem zwischen ihnen ausklammert. Indem die Individuen ihre Freiheitsrechte nutzen, um individuelle Bedürfnisse zu befriedigen, setzen sie bereits innerhalb ihrer Sphäre, erst recht aber im Verhältnis zu anderen Sphären, partikulare Interessen durch, die nicht immer, aber häufig im Widerspruch zu den Bedürfnissen anderer Individuen stehen.[8][8]

Im Gegensatz zu Honneths illusionärer Vorstellung von einem harmonischen Zusammenwirken werden in der modernen Gesellschaft, auch ohne kapitalistischen Grundwiderspruch, Kämpfe ausgetragen, bei denen jeder Einzelne die Ansprüche Anderer in Frage stellt, so dass am Ende etwas herauskommt, was keiner gewollt hat. Dieser ohne gemeinsames Bewusstsein, nur vom mannigfachen individuellen Wollen vorangetriebene Prozess macht das gesellschaftliche Gesamtergebnis zu einem Zufallsprodukt. Ganz anders, wenn sich gesellschaftliche Subjekte eine verallgemeinerbare Vorstellung über die Gestaltung des Gemeinwesens erarbeiten, um die materiellen Bedingungen der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion ihres Lebens zu gestalten oder aufzuheben. Der Sozialismus braucht deshalb, mehr noch als alle bisherigen Gesellschaftsformationen, die Entwicklung einer „verallgemeinerten Handlungsfähigkeit“[9][9].

Erklärungsversuche für die Schwäche der sozialistischen Idee

Honneth beginnt seine Aktualisierung der sozialistischen Idee folgerichtig mit der Frage nach den Ursachen ihrer nachlassenden Ausstrahlungskraft. Dabei verwirft er als erstes die Annahme, dass dies ein Ergebnis des durch den Mauerfall eingeleiteten Epochenbruchs sei, weil „der Staatssozialismus sowjetischer Prägung“ schon lange vorher seine Akzeptanz verloren habe und auch die sozialistische Bewegung des 19. Jahrhunderts keines realen Vorbilds bedurft hätte. Doch die antikapitalistischen und antiimperialistischen Bewegungen des 20. Jahrhundert, ob sie dem sowjetischen Vorbild nacheiferten, es kritisch aber solidarisch begleiteten oder sogar ablehnten, waren – trotz aller Gegensätze – von der Oktoberrevolution inspiriert. Diese Inspiration ging wahrscheinlich weniger von der Sowjetunion selbst (bzw. den Vorstellungen, die man sich von ihr machte) aus, sondern eher von der praktisch nachgewiesenen Möglichkeit, den Kapitalismus zu überwinden und den Weg zur Entwicklung einer nichtkapitalistischen Alternative zu öffnen. Natürlich ging dem Epochenbruch eine schleichende Desillusionierung über die realen Möglichkeiten einer antikapitalistischen Alternative voraus, ein Prozess, der noch durch den Sieg des Neoliberalismus über den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat verstärkt wurde. Aber alles zusammengenommen lässt sich mit Hobsbawm sagen, dass der Epochenbruch nach 1989 den Endpunkt des „kurzen 20. Jahrhunderts“ setzte, das mit der Oktoberrevolution begann und mit der Niederlage des sowjetischen Versuchs endete.[10][10] Nichts beweist dies besser, als die danach einsetzende Schwächeperiode der Linken, unter der bis heute nicht nur die kommunistischen, sondern sämtliche linken Parteien und Bewegungen zu leiden haben. Honneth wäre in seiner Ursachenforschung weiter gekommen, wenn er diese Tatsache mit einem weiteren, von ihm selbst zitierten Umstand ins Verbindung gebrachte hätte, nämlich der Tatsache, dass „der Umfang dessen, was die Menschen jeweils für ‚unvermeidlich’ und damit für sachnotwendig an ihrer Gesellschaftsordnung halten […] im hohen Maße von kulturellen Faktoren abhängig [ist] und hier vor allem vom Einfluss politischer Deutungsmuster“.[11][11] Dem kann nur zugestimmt werden, aber der Autor lastet den nachlassenden „Einfluss politischer Deutungsmuster“ vor allem abstrakten „kulturellen Faktoren“ an und nicht den objektiven gesellschaftlichen Gegebenheiten. Worunter erstens die materiellen Widersprüche selbst zählen, und zweitens die Existenz von (sozialen, politischen, intellektuellen) Bewegungen, die diese Widersprüche aufzeigen, die Widerstand organisieren und ihre Deutungsmuster im Alltagsverstand verankern können. Es gehört deshalb zu den größten Schwächen von Honneths Aktualisierungsversuch, dass er den Zusammenhang zwischen der Verankerung sozialistischer Theorien im Alltagsverstand und der Existenz organisierter Bewegungen sowie hegemoniefähiger Massenorganisationen völlig ausblendet. Als typischer Ideenhistoriker macht er die Ausstrahlungskraft des Sozialismus einseitig von seinen aktuellen Theorien abhängig, nicht aber von gesellschaftlichen Subjekten, die sie verbreiten können. Die lange und breite Diskussion marxistischer Theorieentwicklung zur Bedeutung des Subjektiven Faktors[12][12] wird von Honneth schlicht unterschlagen, weil sie nicht in das von ihm entworfene Zerrbild des historischen Materialismus passt.

Wobei es geradezu kurios ist, wie er einerseits die wirklichen oder angeblichen Fehler der marxistischen Theoriebildung darstellt, aber keine Antwort darauf hat, weshalb sie trotzdem die Massen ergreifen konnte. Immerhin lässt sich nicht leugnen, dass der kanonisierte Marxismus-Leninismus, selbst in seiner verknöcherten Form noch, Hunderte Millionen Menschen für den Sozialismus begeistern konnte. Was aber offensichtlich weniger an der Theorie selbst lag, als einerseits an der Existenz von Bewegungen, die nach politischen Deutungsmustern ihrer Praxis verlangten, und andererseits an Parteien und Gewerkschaften, die dieses Bedürfnis zu befriedigen wussten. Die Implosion des sowjetischen Blocks, verbunden mit einer vorangegangenen schonungslosen Selbstkritik, vernichtete stärker die Hoffnung auf die Machbarkeit von Geschichte, nicht nur bei den Kommunisten, als alle bisherigen Krisen des Sozialismus. Honneth, fixiert auf seine einseitige Theoriegeschichte, hat nicht die geringste Vorstellung von der Tatsache, dass die Massen weniger von Theorien, als denn von hegemoniefähigen Ideologien und inspirierenden Experimenten bewegt werden. Denn anders als der Autor behauptet[13][13], begeisterte der Sozialismus des 20. Jahrhunderts nicht wenige durch seine experimentellen Handlungen, in der Wirtschaft wie im sozialen Zusammenleben und der Kultur, aber auch mit seinen technischen und wissenschaftlichen Erfolgen. Der real existierende Sozialismus konnte Niederlagen und Irrtümer, sogar seine nicht zu leugnenden Verletzungen der Menschenrechte überleben, nicht aber das blamable Scheitern von Glasnost und Perestroika. Es ist nicht ohne Ironie, dass Gorbatschows Erneuerungsversuch zunächst auf weltweite Begeisterung stieß und dem Sozialismus neue Sympathiewerte einbrachte, sein schmähliches Scheitern aber Agonie verursachte. Zu spät erkannten viele, dass die Perestroika nicht das berühmte Licht am Ende des Tunnels war, sondern nur der Scheinwerfer eines auf sie zurasenden Zuges.

Honneths Marxismuskritik

Die Hauptursache für die Niederlage des Sozialismus sieht Honneth insgesamt weniger in der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung begründet als in den fehlerhaften Grundannahmen des Marxismus. Unumwunden verkündet er deshalb, dass „der Sozialismus heute, soll er eine Zukunft haben, nur in einer postmarxistischen Form wiederbelebt werden“ kann.[14][14] Der Hauptfehler des Marxismus sei es von Beginn an gewesen, sich an „Geist und Kultur des Industrialismus“ gekettet zu haben. In Folge dieser Behauptung erwartet die Leserschaft eine wahre Geistergeschichte, nach der „alle Protagonisten der sozialistischen Bewegung, von Robert Owen über Proudhon bis hin zu Karl Marx, … von Anfang an wie selbstverständlich die Vorstellung“ teilten, „dass der Hebel zur Schaffung von solidarischen Sozialverhältnissen die Reform oder revolutionäre Überwindung der kapitalistischen Marktwirtschaft selbst sein muß“[15][15]. Ohne auch nur am Rande die nichtökonomischen philosophischen, historischen oder politischen Texte der marxistischen Klassiker zu erwähnen, reduziert er den Marxismus auf einen Geschichtsdeterminismus, in dem angeblich weder Platz für die individuellen Freiheitsrechte noch für die politische Demokratie und erst recht nicht für soziale und ökonomische Experimente vorhanden sei. Wörtlich heißt es: „Mit beinahe ausschließlichem Blick auf die wirtschaftliche Sphäre wird davon ausgegangen, dass allein in deren kapitalistischer Verfassung die Ursachen für die Nötigung verankert sind, die neugewonnenen Freiheiten bloß im Sinne der privaten Verfolgung individuell gesetzter Absichten zu verstehen.“[16][16] Tatsächlich lässt sich nicht bestreiten, dass Honneth damit die Schmerzpunkte des kanonisierten Marxismus-Leninismus und einer realsozialistischen Praxis trifft, soweit sie tatsächlich mit der Ideologie einhergingen, dass allein schon die Überwindung des Privateigentums an den Produktionsmitteln sämtliche gesellschaftlichen Momente verändert. Doch Honneth unterschlägt den nichtökonomischen kategorischen Imperativ von Marx, der erstens das Ziel formulierte „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist…“[17][17] und sich zweitens im „Kommunistischen Manifest“ mit dem Satz niederschlägt, dass der Sozialismus eine Gesellschaft sein soll, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“[18][18] Von einem „ausschließlichem Blick auf die wirtschaftliche Sphäre“ ist in beiden programmatischen Aussagen keine Rede. Weshalb man Honneth zu Honneths Marxismusschelte – in Anlehnung an Goethe – erwidern könnte: Du greifst nicht mich, Du greifst den Geist, den Du begreifst.

Das Verschwinden des gesellschaftlichen Subjekts

Unter den vielen Fragen zur sozialistischen Perspektive im 21. Jahrhundert scheint die schwierigste zu sein, wer sie verwirklichen kann. Wobei bei vielen Autoren eine gewisse Einigkeit darüber besteht, dass die traditionelle Arbeiterklasse ihre historische Mission verloren hat. Die Begründungen dafür sind ebenso vielfältig wie die angebotenen Alternativen, beherrschen die linke Debatte seit mindestens einem halben Jahrhundert und schwanken zwischen der Definition einer neuen Arbeiterklasse, wie schon 1963 bei Serge Mallet[19][19], dem „Abschied vom Proletariat“ bei André Gorz[20][20] und der Definition der Multitude als einem neuen, global agierenden revolutionären Subjekts bei Hardt und Negri.[21][21] Honneth geht einen qualitativen Schritt weiter und verabschiedet sich nicht nur von der Arbeiterklasse, sondern überhaupt von der Annahme eines die Gesellschaft verändernden Subjekts. Dies geschieht zunächst dadurch, dass er die von den Klassikern definierte „historische Mission der Arbeiterklasse“ nicht nur in Frage stellt – was längst auch unter Marxistinnen und Marxisten keinen Neuigkeitswert besitzt[22][22] –, sondern dass er die Notwendigkeit zur Formierung eines die Gesellschaft verändernden Subjekts grundsätzlich verneint. Erst am Ende seines Buches erfährt man, warum er darauf auch verzichten kann: Weil nämlich Honneths erneuerter Sozialismus das Ergebnis unverbundener, individuell handelnder Subjekte sein soll. Dagegen gibt es in der Klassendiskussion bei Marx zwei entscheidende Momente, die jenseits aller empirischen Klassendefinition und falschen Erwartungen an die „historische Mission der Arbeiterklasse“, auch heute noch Bestand haben. So kritisiert er 1843 an der Situation Deutschlands, dass es eines „negativen Repräsentanten der Gesellschaft“ mangelt, der „die materielle Macht zur politischen Gewalt begeistert (und) jene revolutionäre Kühnheit (besitzt), welche dem Gegner die trotzige Parole zuschleudert: Ich bin nichts, und ich müßte alles sein.“[23][23]

Bleiben wir beim Begriff des gesellschaftlichen Subjekts, so muss es sich dabei nicht um eine Klasse handeln, sondern es kann auch eine begeisternde, gesellschaftlich anerkannte Bewegung sein, die eine gesamtgesellschaftliche Veränderung anstrebt. Zweitens aber hat Marx bei der Analyse der französischen Parzellenbauern eine interessante Beschreibung dafür hinterlassen, was keine Klasse ist, obwohl sie sozialstatistisch gesehen eine sein könnte: „Die Parzellenbauern bilden eine ungeheure Masse, deren Glieder in gleicher Situation leben, aber ohne in mannigfache Beziehung zueinander zu treten. Ihre Produktionsweise isoliert sie voneinander, statt sie in wechselseitigen Verkehr zu bringen. […] Die Parzelle, der Bauer und die Familie; daneben eine andre Parzelle, ein andrer Bauer und eine andre Familie. Ein Schock davon macht ein Dorf, und ein Schock Dörfer macht ein Departement. So wird die große Masse der französischen Nation gebildet durch einfache Addition gleichnamiger Größen, wie etwa ein Sack von Kartoffeln einen Kartoffelsack bildet.“[24][24] Umgekehrt lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass die wichtigste Voraussetzung eines handlungsfähigen gesellschaftlichen Subjekts nicht die gleiche ökonomische Stellung in der Gesellschaft ist, sondern soziale und kulturelle Kontakte, eine lebendige Kommunikation und ein gemeinsames Interessen an der Verfügung über die gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsbedingungen.

Dabei spielt es zunächst eine untergeordnete Rolle, was das konkrete Ziel der aktuellen Bewegung ist, wenn sich ihre Aktion nur auf ein grundlegendes Merkmal der Gesellschaft und ihre Herrschaftsstruktur richtet. Es ist auch nicht erforderlich, dass der aktuelle Kampf auf Dauer gestellt ist, und auch das aktuelle Ergebnis ist zweitrangig, so lange die Aktion nur eines erreicht, nämlich das Bedürfnis nach Überwindung der bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu verstetigen und die gemeinsame Kommunikation aufrechtzuerhalten. Natürlich ist es nützlich, wenn in der aktuellen Aktion kontinuierlich arbeitende Gewerkschaften und Parteien ihren Platz haben; das Wichtigste aber ist die Bewegung selbst, weil sie niedrigschwellige Zugänge öffnet, bündnisfähiger als Organisationen ist und flexibel auf neue Herausforderungen reagieren kann.[25][25] Das ist letztlich auch der Raum für eine Erneuerung des sozialistischen Projekts, das sowohl organischer Intellektueller als auch wissensdurstiger Praktiker bedarf.

Dies alles spielt bei Honneth keine Rolle, weil er die „Frage nach einem sozialen Träger der sozialistischen Ideale“ grundsätzlich für obsolet hält und überzeugt ist, dass „ein zeitgenössischer Sozialismus überhaupt nicht mehr auf der konkreten Ebene individueller und kollektiver Subjekte suchen“[26][26] darf. Mit dieser ebenso originellen wie radikalen Lösung der Klassenfrage entsorgt der Autor nicht nur den Begriff des gesellschaftlichen Subjekts, sondern des Subjekts überhaupt. Honneth begreift Sozialismus nicht mehr als einen Ausdruck bewussten Handelns, sondern als zwangloses, nicht zielgerichtetes „Zusammenspiel intersubjektiver Freiheitssphären“[27][27]. Es handelt sich also um einen Sozialismus, der sich gewissermaßen hinter dem Rücken der leibhaftigen Menschen vollendet. Womit sich natürlich die Frage stellt, was mit dem „Zusammenspiel intersubjektiver Freiheitssphären“ gemeint ist. Wie erwähnt hat Honneth dabei drei Sphären im Blick. Nämlich das „ökonomische Handlungssystem“, die Sphäre der demokratischen Willensbildung und die „Handlungssphäre von Liebe, Ehe und Familie“.[28][28] Jede dieser drei Honnethschen Sphären hat ihre eigene Funktionslogik, die sich auf die Optimierung der in ihr bereits vorhandenen Freiheitsrechte richtet. Sowohl in der Wirtschaft wie auch in der demokratischen Willensbildung und der trauten Sphäre von „Liebe, Ehe und Familie“ existieren nach Honneth bereits institutionelle Freiheitsrechte, deren Erweiterung, ohne dass es die Handelnden beabsichtigen, den Sozialismus voranbringen. Allein dadurch also, dass die Individuen erkennen, dass sie ihre persönlichen Freiheitsrechte nur im Zusammenwirken mit anderen erweitern können, handeln sie im Honnethschen Sinne sozialistisch.

Marktsozialismus

Es ist nicht ohne Ironie, dass die von Honneth erwähnte „Funktionslogik“ an die Metapher von der „unsichtbaren Hand des Marktes“ bei Adam Smith erinnert, wo ebenfalls unterstellt wird, dass das ungehinderte Durchsetzen der individuellen Absichten schließlich allen zugute kommt. Unumwunden schreibt denn auch Honneth, dass dies „am Ende auf Verhältnisse hinausläuft, die sinnvoll nur als ‚marktsozialistisch’ bezeichnet werden können.“[29][29] Und weiter: „Auf jeden Fall ändert sich für den Sozialismus, werden nicht mehr soziale Kollektive, sondern institutionelle Errungenschaften als Verkörperungen seiner Ansprüche in der Wirklichkeit begriffen, nahezu alles.“[30][30] Wobei der Verzicht auf handlungsfähige Kollektive weder historisch noch sozialpsychologisch begründbar ist. Historisch gesehen sind nämlich die von Honneth genannten „institutionellen Freiheitsrechte“ nicht von sich aus, auf unergründliche Weise entstanden, sondern das Ergebnis ungezählter und langwieriger Klassenkämpfe. Nehmen wir als erstes Honneths „Sphäre des ökonomischen Handlungssystems“, so ist hier kein Freiheitsrecht zu sehen, das nicht durch gesellschaftliche Subjekte formuliert und durchgesetzt wurde. Die Liste reicht vom Kampf um den Acht-Stunden-Tag im 19. Jahrhundert bis zum heutigen gesetzlichen Mindestlohn. Das „ökonomische Handlungssystem“ ist in seiner Struktur überhaupt nicht zu verstehen, wenn man es nicht als historisches Ergebnis der Konflikte zwischen Arbeit und Kapital betrachtet. Gleichzeitig werden alle sich daraus ergebenden Freiheitsrechte permanent von Seiten des Kapitals in Frage gestellt und ausgehöhlt, so dass die von Honneth für überflüssig erklärten „sozialen Kollektive“ langwierige Abwehrstreiks organisieren müssen, um ihre Rechte überhaupt nur zu behalten. Das Gleiche gilt für die „Sphäre der demokratischen Willensbildung“ und die Freiheitsrechte mit ihrem Bezug auf „Liebe, Ehe und Familie“. Honneth kann in keinem Teil seines Sozialismusentwurfs erklären, weshalb zwar jedes neue „Freiheitsrecht“ seit mehr als zwei Jahrhunderten im Konflikt zwischen Arbeit und Kapital beziehungsweise ihren ökonomischen oder politischen Institutionen erkämpft werden musste und weiter umkämpft ist, aber in seinem „marktsozialistischen“ Gesellschaftsmodell keinen Platz mehr findet. Nach Honneth ist die Menschheitsgeschichte wie bei Fukuyama an ihrem Endpunkt angelangt und erschöpft sich in der Optimierung der auf ewig gestellten Gegenwart. „Warum spricht Honneth von Sozialismus“, fragt deshalb auch Reinhard Blomert. „Warum benutzt er nicht gleich den Begriff der Zivilgesellschaft, der doch seit seiner Erfindung alle für Honneth maßgeblichen Elemente in sich trägt?“[31][31] Dazu schreibt Honneth: „…so zeigt sich überhaupt erst in voller Breite, wofür der Sozialismus heute mit seinen ureignen Visionen einzutreten hat. Innerhalb des liberaldemokratisch verfaßten Kapitalismus vertritt er die geschichtliche Tendenz, soziale Abhängigkeiten und Exklusionen schrittweise zu überwinden.“[32][32] Das ist weder besonders originell noch neu, handelt es sich doch bereits seit Godesberg, erst recht aber nach Schröders „Reformen am Arbeitsmarkt“ um Theorie und Praxis der SPD.

[1][33] Axel Honneth, Die Idee des Sozialismus – Versuch einer Aktualisierung, Berlin 2015.

[2][34] Ebenda, S.163.

[3][35] Ebenda, S.31.

[4][36] Ebenda, S.163.

[5][37] So Engels am 14. Juli 1893 an Franz Mehring:„…wir alle haben zunächst das Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen müssen. Dabei haben wir dann die formelle Seite über der inhaltlichen vernachlässigt: die Art und Weise, wie diese Vorstellungen etc. zustande kommen. Das hat denn den Gegnern willkommnen Anlaß zu Missverständnissen resp. Entstellungen gegeben…“. MEW 39, S. 96. Und an W. Borgius am 25. Januar 1894 schreibt Engels: „Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, dass die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit.“ MEW 39. S. 206.

[6][38] Axel Honneth, a.a.O., S.138.

[7][39] Ebenda, S.133.

[8][40] Dazu Klaus Holzkamp, Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/New York, S. 180f.

[9][41] Harald Werner, Politische Psychologie des Sozialismus, Hamburg 2015, S. 130 – 131.

[10][42] Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München/Wien 1995, S. 7.

[11][43] Axel Honneth, a.a.O., S. 19.

[12][44] Vgl. dazu Boris A. Cagin, Der subjektive Faktor – Struktur und Gesetzmäßigkeiten, Köln 1974, und Gottfried Stiehler, Subjektiver Faktor und Revolution, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1974, H. 5, S. 554-563.

[13][45] So schreibt Honneth: „…ist es dem Sozialismus durch die Unterstellung historischer Gesetzmäßigkeiten nahezu vollständig verwehrt geblieben, sich selbst als eine Bewegung zu begreifen, die erst durch soziale Experimente herauszufinden hat, wie die leitende Idee sozialer Freiheit (…) zu verwirklichen wäre.“ Axel Honneth, a.a.O., S. 78.

[14][46] Honneth, a.o.O., S. 87.

[15][47] Ebenda, S. 55.

[16][48] Ebenda, S. 56.

[17][49] Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW 1, S. 85.

[18][50] Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW 4, S. 482.

[19][51] Serge Mallet, Die neue Arbeiterklasse, Paris 1963 und 1969, deutsche Ausgabe Berlin und Neuwied 1972.

[20][52] André Gorz, Abschied vom Proletariat, Frankfurt am Main 1981.

[21][53] Michael Hardt/Antonio Negri, Empire – Die neue Weltordnung, Frankfurt/Main 2002.

[22][54] Vgl. dazu Harald Neubert, Die ‚Historische Mission der Arbeiterklasse’ bei Marx und Engels und die historische Realität, in Z 80[55] (Dezember 2009), S. 101-118.

[23][56] Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, a.a.O., S. 389.

[24][57] Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW 8, S. 198.

[25][58] Vgl. Hans-Jürgen Urban, Die Mosaik-Linke. Vom Aufbruch der Gewerkschaften zur Erneuerung der Bewegung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2009, H. 5, S. 71.

[26][59] Axel Honneth, Sozialismus reloaded und revidiert, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2015, H. 10, S. 94.

[27][60] Axel Honneth, Die Idee des Sozialismus – Versuch einer Aktualisierung“, Berlin 2015, S. 146.

[28][61] Ebenda, S.133.

[29][62] Axel Honneth, Sozialismus reloaded und revidiert, a.a.O.,, S. 95.

[30][63] Ebenda.

[31][64] Reinhard Blomert, Zivilgesellschaft statt Sozialismus, in: Blätter für deutsche und internationales Politik“, 2015, H. 12, S. 40.

[32][65] Axel Honneth, Die Idee des Sozialismus – Versuch einer Aktualisierung, Berlin 2015, S. 164.

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