Diskussion, Kritik, Zuschriften

Anmerkungen zu Mohssen Massarrat „Der Finanzmarktkapitalismus", in Z 106/Alle Zuschriften

von Charles Pauli
September 2016

Anmerkungen zu Mohssen Massarrat „Der Finanzmarktkapitalismus“, in Z 106

In Z 106 stellt Mohssen Massarrat ausführlich seine Analyse des „Finanzmarktkapitalismus“ vor. Massarrat versteht darunter eine neue Form und eigene Epoche des Kapitalismus. Er spricht sogar von einem „Systemwechsel“ hin zum Finanzmarktkapitalismus. Wesentlich gekennzeichnet sei diese Formation durch „ein strukturell überschüssiges Kapital, das der Realwirtschaft den Rücken kehrt“ (103). Ich teile diese Ansicht keineswegs und möchte deshalb, ohne auf Massarrats sehr weitgehende politische und gesellschaftliche Ableitungen einzugehen, kurz zu der zentralen Grundannahme der gesamten Argumentation Stellung nehmen.

1. Gibt es einen „strukturellen Kapitalüberschuss“?

Massarrats Analyse geht von der Annahme aus, es gäbe aus Bodenrenten, Differentialrenten und Extraprofiten gespeist, einen riesigen, systematischen Kapitalüberschuss, der in einen weitestgehend von der Realwirtschaft getrennten Finanzsektor flösse. Es bestünden dadurch gleichzeitig zwei unterschiedliche Modelle und Kreisläufe der Kapitalakkumulation, wobei das „Modell Finanzkapitalismus“ das „Modell Realökonomie“ und damit die gesamte Gesellschaft beherrscht.

Zunächst einmal: Alle genannten Gewinnarten werden in der Realökonomie realisiert. Sie stammen aus Verkäufen von Waren, Dienstleistungen oder aus Pachten. Insofern sie nicht konsumiert werden, sind sie nichts Anderes als volkswirtschaftliche Ersparnisse. Diese Ersparnisse fließen aber nicht in einen quasi-autonomen „Finanzmarktsektor“ und verbleiben dort, sondern sie werden angelegt. Entweder in Aktien oder in Staatschuldverschreibungen, in Unternehmensanleihen oder Fonds oder sie werden als Kredite ausgereicht. Der Ersparnis steht immer eine Geldaufnahme in gleicher Höhe gegenüber. Hier Forderung (Ersparnis), dort Verbindlichkeit (Schulden). Aus der Ersparnis finanzieren sich also Unternehmen, Staaten oder Privatpersonen. Sie fließt zurück in die Realökonomie. Einen von der Realökonomie getrennten Finanzsektor könnte es wohl nur dann geben, wenn die Finanzmarktakteure die ersparten Milliarden in ihre Kopfkissen nähen oder im Vorgarten vergraben würden – was dann aber auch kein wirklicher Finanzsektor wäre.

Geld wird angelegt, um Zinsen, Renditen oder Dividenden zu erzielen. Diese Renditen können aber dauerhaft nur in der Realökonomie entstehen. Was die Gegenthese nahelegt, dass die Realökonomie mit ihren Renditemöglichkeiten den Finanzsektor bestimmt und nicht umgekehrt.

Massarrat scheint anzunehmen, der angeblich separate Finanzsektor könne durch die ständige Umverteilung von Arbeit zu Kapital irgendwie Rendite schaffen. Wie genau dieser Wechsel von der „Kapitalakkumulation durch Mehrwertproduktion“ zur „Kapitalakkumulation durch Umverteilung“ (86) funktionieren soll, bleibt unklar.

Insgesamt wäre eine solche Annahme ohnehin eher gewagt und sehr theoretisch. Sie setzt voraus, dass eine langfristige, permanente Senkung der Lohnquote möglich wäre. Wie etwa das Beispiel Griechenland andeutet, führt eine derartige Entwicklung aber höchstens in den ökonomischen Zusammenbruch und keineswegs in eine stabile Akkumulation eines dominierenden Finanzmarkt-Sektors. Allein schon aus diesen knappen Zusammenhängen heraus halte ich die spezifische Theorie des Finanzmarktkapitalismus für schwer begründbar. Es spricht wenig für die Existenz eines milliardenschweren, strukturellen Kapitalüberschusses, der „parasitär“ (ein Ausdruck den ich übrigens vehement ablehne) in einem weitgehend von der Realökonomie getrennten Sektor angelegt ist, dort akkumuliert und die gesamte Ökonomie dominiert.

2. Die Realökonomie bestimmt

Unbestreitbar gibt es allerdings seit einiger Zeit wie auch immer definierte Sparüberschüsse, die zur Blasenbildung und zur Vermögenstitel-Inflation führen. Mit einem strukturellen Kapitalüberschuss und einem neuen Akkumulationsmodell hat das jedoch nichts zu tun. Das Entstehen von Blasen und von Vermögenstitel-Inflation resultiert schlichtweg aus der Wachstumsschwäche der Realökonomie. Wenn es in der Wirtschaft zu wenig Investitionen gibt, wenn die Staaten ihre Verschuldung drosseln, sinken die Zinsen. Freies Kapital fließt in die Sekundärmärkte für Wertpapiere, wo es die Preise treibt. Dass diese Blasen, wenn sie sich zu weit von der Ökonomie entfernen, schließlich platzen, haben wir in den vergangenen Jahren ausreichend oft erlebt. Gerade das deutet aber ebenfalls darauf hin, dass ein spezifischer „Finanzmarktkapitalismus“ in den, getrennt von der Realökonomie, ständig Milliarden fließen, schlecht möglich ist, weil es ihn schnell zerreißen würde.

Finanzmarktblasen hängen meistens auch mit Fehlinvestitionen in der Realökonomie zusammen. So hatten die Finanzmarktkrisen der letzten Jahrzehnte immer ihren Ausgangspunkt in Fehlinvestitionen. Erst die Dotcom Blase, dann das Desaster mit amerikanischen Häuslekäufern und den spanischen Bauboomern, derzeit die Probleme italienischer Banken mit faulen Firmenkrediten. „Ein strukturell überschüssiges Kapital, das der Realwirtschaft den Rücken kehrt“ und (wie denn genau?) die Gesellschaft dominiert, gibt es auch unter diesem Aspekt nicht. Ganz im Gegenteil versuchen Akteure der Finanzmärkte, neben aller Spekulation, händeringend Geld produktiv anzulegen, was allerdings immer weniger gelingt. Die derzeit niedrigen Zinsen zeigen, dass die Realökonomie die Ersparnisse nur zögerlich absorbiert, weil die Investitionsquoten und die Wachstumsraten abnehmen. Man kann davon ausgehen dass, auch angeheizt durch billiges Zentralbankgeld, derzeit erneut Fehlinvestitionen finanziert werden, um überhaupt noch irgendwo Kapital unterzubringen.

Wenn man die aktuelle Situation der Globalisierung und des Kapitalismus analysieren will, muss man analysieren, woher die Wachstumsschwäche des globalen Systems kommt. Mit einem Konzept des „Finanzmarktkapitalismus“, fürchte ich, kommt man da nicht viel weiter.

Charles Pauli

Der Finanzmarktkapitalismus – Zu Mohssen Massarrat, Z 106

Die Frage, ob der Begriff „Finanzmarktkapitalismus“ zwar nicht das gesamte Wesen, aber doch wesentliche Besonderheiten des gegenwärtigen Kapitalismus adäquat widerspiegelt, treibt seit 2005, als Paul Windolf diesen Begriff in die Debatte warf, nicht nur marxistisch orientierte politische Ökonomen um.1 Mohssen Massarrat hat in der Nummer 106 dieser Zeitschrift seine Analyse des Finanzmarktkapitalismus vor- und anderen Lesarten gegenübergestellt (Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die jeweiligen Seitenzahlen des Hefts.). Um Blockierungen einer postkapitalistischen Perspektive zu überwinden, seien – so seine Schlussfolgerung - zunächst die Quellen des Finanzkapitals auszutrocknen und die Umverteilung von Unten nach Oben zu unterbinden. (vgl. 108f) Obwohl ich viele seiner Aussagen teile, scheinen mir einige kritische Anmerkungen angebracht.

Zunächst sei darauf hingewiesen, dass die weit verbreitete Verwendung des Begriffs Finanzkapital zur Kennzeichnung des sich vor allem in der Finanzsphäre (Banken, Versicherungen, Investmentgesellschaften, Fonds usw.) herumtreibenden Kapitals, gemessen als Vermögensbestand, sowie der Eigentümer dieses Vermögens, die im Mittelpunkt von M.s Artikel steht, nicht einfach mit dem von Hilferding geprägten, später von Lenin und anderen Politökonomen erweiterten Begriff verwechselt werden darf. Hierbei handelt es sich um eine andere Ebene der Betrachtung. Danach ist Finanzkapital ein gesellschaftliches Verhältnis, das auf der Verflechtung von, kurz gesagt, hoch-konzentriertem und –zentralisiertem Bank- und Industriekapital beruht; es betrifft also die Eigentumsverhältnisse in diesen Bereichen. Dieses Verhältnis dominierte die Wirtschaft mal stärker, mal schwächer, ist aber auch heute existent. Allerdings hat es sich stark modifiziert, weil die Sphären von Industrie und Finanzen selbst einen starken Wandel durchlaufen haben. Die um 1900 dominierenden Industrien haben ihre beherrschende Stellung längst an global operierende und verflochtene High-Tech-Unternehmen und die Dienstleistungsindustrie abgegeben. Nur zu oft schließen diese Konzerne Finanzunternehmen ein, die nicht viel anders als „reine“ Banken oder Investmentgesellschaften agieren und zur Finanzsphäre gehören. Der Anteil des Geldvermögens an den gesamten Aktiva der nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften der Bundesrepublik ist seit 1991 von 31 auf heute 43 Prozent gewachsen. Die Investitionen erfolgen in viel höherem Maße mittels Krediten, Anleihen und Aktienemissionen als vor hundert Jahren. Bestand ihr Eigenkapital zu Beginn der 1990er Jahre nur zu etwa einem Drittel aus Anteilsrechten, so ist dieser Anteil heute auf über 50 Prozent angewachsen, ein untrügliches Anzeichen zunehmender Eigentums-Verflechtungen zwischen finanziellem und nicht-finanziellem Sektor.2 Dies gilt auch umgekehrt: Während sich ihr Sachanlagenbestand verdoppelt, hat sich ihr Wertpapierbesitz verdreifacht. Die Anlagepolitik ihrer Vorstände orientiert sich unter anderem auch daran, was ein höheres Konzernergebnis im Interesse ihrer Share-holder (zu denen sie häufig selbst gehören) erbringt: Finanzanlagen (was aus volkswirtschaftlicher Sicht Sparen ist) oder „Real“-Investitionen. Häufig interessiert dabei allein der Marktwert der Anteile, der Share-holder-value, der nicht nur vom aktuellen Konzernergebnis, sondern auch von dessen Erwartungswert im Vergleich zu den Erwartungen im Finanzbereich abhängt. Der in der Finanzsphäre determinierte Zins bzw. die dort zu erwartenden Renditen werden so zu einer Art Zünglein an der Waage für Investitions- und Anlageentscheidungen auch in der nicht-finanziellen Sphäre.3

Auch die Finanzsphäre ist nicht mehr dieselbe wie zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Neben die Banken ist eine Vielzahl neuer, wiederum global auftretender Akteure getreten, die hier nicht aufgezählt werden brauchen. Seit 1999 wuchs das Reinvermögen der finanziellen Kapitalgesellschaften auf 390 Prozent, das der nicht-finanziellen Kapitalgesellschaften dagegen auf „nur“ 155Prozent.4 Meines Erachtens rechtfertigen diese Modifikationen auch, den Begriff des Finanzkapitalismus durch „Finanzmarktkapitalismus“ zu ersetzen, um diese historisch besondere Seite der heutigen kapitalistischen Wirtschaft zu charakterisieren: Die produktive Sphäre der Wirtschaft ist aufs engste mit der Sphäre der Finanzmärkte verbunden und wird in hohem Maße von letzterer dominiert.

Natürlich durchläuft jedes Kapital nach wie vor einen Kreislauf und muss zu seiner Verwertung die Formen als Geldkapital, Warenkapital und produktives Kapital durchlaufen. Diese Formen können natürlich nicht „verschmelzen“ oder sich „verflechten“. Der Begriff der Kapitalverflechtung bezieht sich aber gar nicht auf diese Formen des Kapitals, sondern auf die Verhältnisse der Akteure der verschiedenen Sphären der Kapitalreproduktion und der ihnen angehörenden Einzelkapitale zueinander. Diese Verhältnisse bleiben trotz aller Verflochtenheit von „Realkapital“ (Agrar- und extraktive Industrie, klassische Industrie- und Bauwirtschaft, Dienstleistungsindustrie und Handel) mit der Finanz„industrie“ (die natürlich auch sehr real ist) durch Konkurrenz gekennzeichnet. Monopol und Konkurrenz schließen sich keineswegs aus, wie M. behauptet. Und „Macht“ existiert auch nicht nur mit dem Monopol oder gar im Gegensatz zum Kapital (93). Um nur ein Beispiel zu nennen: Jeder Kleinkapitalist hat Macht über seine Arbeiter und Angestellten. Ein Monopol ist auch kein absoluter Gegensatz zur Kreativität (93) auch wenn die heutigen Unternehmen sich dazu des Staats bedienen. Abgesehen davon, dass mit dieser Prämisse die moderne Produktivkraftentwicklung und die neue industrielle Revolution unter den Bedingungen steigender Skalenerträge unerklärlich bleibt, beruht die ganze Geschichte kapitalistischer Erfindungen auf ihrer zumindest zeitweilig staatlich geschützten Monopolisierung durch ihre jeweiligen Erstanwender.

Die Gegenüberstellung von „Kapitalakkumulation durch Mehrwertproduktion (produktiver Sektor) und Kapitalakkumulation durch Verteilung (unproduktiver Sektor)“, angeblich „ausschließlich auf Macht“ beruhend (92f) ist in dieser Form fragwürdig. Dies gilt auch für die Unterscheidung von „parasitärem Finanzkapitals“ und „produktiven Kapital (die Realwirtschaft)“ (97). Im produktiven Bereich existieren genauso machtvermittelte, gewaltsame und parasitäre Erscheinungen (denken wir zum Beispiel an Knebelverträge für Zulieferer) wie viele Aktivitäten im Finanzbereich existieren, ohne welche der produktive Bereich sich gar nicht weiterentwickeln könnte. M.s Unterscheidung führt in der Konsequenz nicht nur zu einer verengten Krisenanalyse sondern auch zu vereinfachenden politischen Weichenstellungen. So gibt es bei M. in den Weltwirtschaftskrisen 1929 und 2008 keine in den Widersprüchen der Mehrwertproduktion wurzelnde Überproduktionskrisen, sondern nur Finanzkrisen, 96ff, so als ob es keine Überakkumulation von fungierendem Kapital gebe. Natürlich gibt es – heute sogar vermehrt – Finanzkrisen, die allein in der Finanzsphäre ihren Ursprung haben, aber zyklische Krisen schließen immer Finanzkrisen ein, weil die Überakkumulation in hohem Maße durch den Kredit vorangetrieben wird und sich die Krise deshalb zuerst als Finanzkrise äußert.

Um einen richtigen Begriff von der „Abkopplung“ zu bekommen, müssten die Kreislaufformen des Kapitals und die Rolle des fiktiven Kapitals untersucht werden. Diese Abkopplung schließt nicht aus, dass sich vorwiegend in der Finanzsphäre bewegendes Kapital mit dem modernen produktiven Kapital verflochten bleibt. Nach wie vor umfasst der aus der Mehrwertproduktion stammende Profit Unternehmergewinn, Zins und Grundrente sowie deren vom Staat beanspruchten Teile. Diese klassischen Zerfallsprodukte des Mehrwerts sind heute jedoch nur schwer in diesen reinen Formen identifizierbar. Das Einkommen eines Konzernmanagers in der Industrie umfasst Entgelt für seine produktiven, notwendigen Managementfunktionen, und Mehrwertbestandteile. Dazu gehören nicht nur Teile des Unternehmergewinns, sondern zum Beispiel auch Erträge aus Aktienoptionen (Dividende und Kursgewinne) und sogar Zinserträgnisse, die natürlich auch Industriekonzerne aufweisen können. Ist dieser Manager nun die personelle, subjektive Verkörperung eines „produktiven“ oder eines „parasitären“ Kapitals? Aus der sich daraus ergebenden analytischen Schwierigkeit rettet man sich nicht, wenn die Unterscheidung von „Arm und Reich“ zum Hauptwiderspruch (87) deklariert wird. Vielmehr steht auf der einen Seite eine Finanzoligarchie, personifiziert sowohl von den herrschenden Eliten im Finanz- wie im produktiven Bereich und auf der der anderen Seite des Widerspruchs jene Klassen, von denen die gesellschaftlichen Werte geschaffen werden und die im Wesentlichen nur ihre Arbeitskraft reproduzieren können sowie Klassen und Schichten, die der Finanzoligarchie in anderen Formen „Tribut“ zollen müssen. Die soziale, funktionale und machtpolitische Bedeutung dieser Konstellation kann mittels der Unterscheidung von Arm und Reich – so populär und für manche Zwecke sinnvoll diese auch ist – nicht analysiert werden.

Die Reduzierung der Quellen des lediglich als Vermögenswert gefassten „Finanzkapitals“ auf Umverteilung – was immer darunter zu verstehen wäre - und die Gewinne aus Immobilien- und Ölgeschäften, verengt die Analyse. Zuallererst resultiert das überproportionale Wachstum dieser Vermögenswerte aus der „normalen“ Ausbeutung in der Sphäre des gesamten fungierenden Kapitals, bei der diejenigen, die den Mehrwert schaffen, üblicherweise den Wert ihrer Arbeitskraft auch erhalten. Ohne die Reproduktion der wertschöpfenden Arbeitskraft kann Kapitalismus nicht funktionieren; das gilt nicht nur für die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre, wie M. meint (103). Und auch wenn sie dazu beitragen, sind es nicht allein oder gar vor allem die Gewinne der Ölmilliardäre oder Immobilientycoons, die zu einer Quelle für das Wachstum der Geldvermögen werden. Große, nicht in Realinvestitionen fließende Gewinne entstehen in allen Wirtschaftszeigen; siehe dazu die oben zitierten Bilanzzahlen der Kapitalgesellschaften. Darüber hinaus machen natürlich die zur ihrer Vorsorge eingezahlten Sparvermögen der „normalen“ Bevölkerung einen großen Teil des Geldvermögens aus. Dazu gehören nicht nur die von großen Vermögensverwaltern verwalteten Pensionsfonds in Ländern ohne nennenswerte Umlagefinanzierung von Sozialsystemen. Auch in Deutschland trug der staatlich forcierte Einstieg in die private Alterssicherung zu diesem Effekt bei.

Fiktives Kapital, ein weiterer wichtiger Teil des Finanzvermögens, kommt bei M. gar nicht vor. Es macht vielleicht sogar den größten Teil seines Zuwachses aus. Es entsteht aus der Kapitalisierung und Verbriefung von Ertragserwartungen. Aus einem solchen Ertragsanspruch lassen sich ganze Kaskaden weiterer Ansprüche (Investmentfonds, Derivate usw.) ableiten, deren Bewegung und Bewertung sich weit von ihrer ursprünglichen Grundlage abkoppeln können. Diese Vervielfachung von verbrieften Ansprüchen und ihre überhöhte Bewertung aufgrund von Ertragserwartungen bildet die Grundlage von Finanzblasen. Es handelt sich dabei zwar um fiktives Kapital, aber die mit ihnen verbundenen Renditeansprüche sind alles andere als fiktiv und werden für viele Anleger über lange Zeit aus der Mehrwertschaffung oder mittels Spekulationsgewinnen, denen zumeist die Verluste anderer Anleger entsprechen, auch befriedigt. Nur wer beim Platzen von Finanzblasen Verluste macht – den Letzten beißen die Hunde – merkt auch ohne theoretische Vorkenntnis, dass es sich um fiktives Kapital gehandelt hat. Fiktives Kapital entsteht auch nicht nur in der Finanzsphäre im engeren Sinne, sondern wird in nicht geringem Maße auch durch die Emission von Wertpapieren in der Sphäre des fungierenden Kapitals geschaffen, die sich dabei freilich der Banken bedienen.

Und natürlich muss das Geldvermögen einer Gesellschaft, in der Kredite, Anleihen und Aktien usw. allein schon aufgrund der zunehmenden Vergesellschaftung und globalen Verflechtung der Produktion und steigender Kapitalminima eine zunehmende Bedeutung für Investitionen haben, wachsen. Insofern ist das nicht alles eine Fehlentwicklung oder „überschüssiges Kapital“ (79). Die Existenz immer wieder neu entstehender Finanzblasen ist unbestreitbar, bei der Analyse dieses Phänomens sollten aber der Unterschied zwischen einer Stromgröße wie dem Bruttoinlandsprodukt und einer Bestandgröße wie dem Vermögen sowie der Unterschied von Brutto- und Nettovermögen, also die Tatsache, dass das Geldvermögen vorwiegend Forderungsvermögen ist, das mit den Schulden zu saldieren ist, thematisiert werden.

Jürgen Leibiger

Zur Rezension von Michael Zander, „Marxistischer Feminismus“, in Z 106

Es war in unserer Redaktion umstritten, Michael Zander zu antworten auf seinen polemischen, vom Standpunkt eines Wissenden ohne Wissen geschriebenen Text. Das gebe ihm unangemessene Bedeutung, es sei wichtiger, uns auf unser aktuelles Projekt der 2. marxistisch-feministischen Konferenz vom 7. bis 9. Oktober in Wien zu konzentrieren als den vielen Versuchen in der Vergangenheit, das Patriarchat auch in linken Denkstrukturen aufzuzeigen, einen weiteren hinzufügen.

Aber die Rezension erscheint in Z und somit unter dem Label „Erneuerung marxistischen Denkens“. Wir sind beunruhigt über den Weltzustand und überzeugt, dass wir in der Tat eine „Erneuerung marxistischen Denkens“ brauchen. Unsere Hoffnung liegt in feministisch-marxistischem Denken. Das Ringen um marxistische Positionen halten wir für unverzichtbar für die Erweiterung unserer politischen Handlungsfähigkeit.

Zanders Text erscheint uns als ein Lehrstück für das Gegenteil. Schon gleich zu Beginn hat er das Ganze im Visier. Schüsse kommen von drei Seiten: Zander bemüht zunächst die Metapher von der „unglücklichen Ehe“ des Marxismus-Feminismus. Er kann darauf setzen, dass der Alltagsverstand „Männer gegen Frauen“ assoziiert, das Projekt ist damit seiner auf das Ganze gesellschaftlicher Reproduktion zielenden Intentionen entnannt. Er klärt den Alltagsverstand nicht darüber auf, dass die Metapher ihrer Erfinderin Heidi Hartmann 1979 dazu diente, einen für die marxistisch-feministische Bewegung historischen Kampfartikel gegen einen vermeintlich feministischen Marxismus zu schreiben, der die feministischen Kämpfe den Klassenkämpfen unterordnete. Bei uns war und ist es die Kritik am Haupt- und Nebenwiderspruch-Denken in der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. Für den zweiten Schuss wird „der“ Poststrukturalismus in Stellung gebracht, der feministisch-marxistische Ansätze bereits obsolet gemacht habe – „man sollte meinen, die beiden seien längst nicht mehr zusammen“. Zu guter Letzt fährt Zander nach lockerer Einstimmung – „die übrigens etwas unglückliche Bindestrichkonstruktion“ – das schwere Geschütz einer Analogie von „Marxismus-Feminismus“ und „Marxismus-Leninismus“ auf – spätestens jetzt kann es keinen Zweifel mehr geben: Marxismus-Feminismus ist ein Rückfall in der Geschichte. Aber – weiß der Rezensent – er „[wird] sich nicht durchsetzen“. Dass sich gerade mehr als 500 Frauen aus über zwanzig Ländern unter dieser „Bindestrich-Konstruktion“ versammelt und „drei Tage intensiv diskutiert“ haben, irritiert ihn dabei nicht.

Es die Art, wie er spricht, die Zander von Beginn an daran arbeitend zeigt, das mehr als 40jährige Projekt eines internationalen wissenschaftlichen Marxismus-Feminismus, das gerade einen Aufschwung erlebt, als nicht wert, ernst genommen zu werden, als lächerlich erscheinen zu lassen. Nebenbei trifft das dann auch die Vorsitzende der Partei Die LINKE. Katja Kipping arbeitet sich in ihrem Begrüßungsbeitrag zu der Auffassung durch, dass die Verknüpfung von Marxismus und Feminismus notwendig ist, wenn wir „eine Welt gewinnen“ wollen, die „frei von den bisher herrschenden Produktions- und Reproduktionsverhältnissen“ ist (Das Argument 314, S. 506). Von Kipping wäre zu lernen, dass Marxismus-Feminismus eine „Verknüpfung im Werden“ ist, es also nicht darum geht, ob es sie gibt, sondern wie wir sie herstellen. Das würde bedeuten, sich fragend und neugierig in Anerkennung des gemeinsamen Ringens um gesellschaftliche Alternativen den dokumentierten Beiträgen zuzuwenden.

Das tut Zander auch. Der Rezension eines Sammelbandes entsprechend wählt er Beiträge aus, kritisiert einige und hebt andere positiv hervor. Aufschlussreich ist es allerdings, genauer zu betrachten, welche Beiträge im Töpfchen und welche im Kröpfchen landen. Beginnen wir mit Letzterem. Entsorgt werden ausgerechnet zwei Beiträge, die mit feministischem Standpunkt aus dem Marxschen „Gedankendepot“ (ebd., 525) Erkenntnis geschöpft haben und somit originäre Beiträge für die Erneuerung marxistischen Denkens präsentieren.

Eine zentrale Debatte im marxistisch-feministischen Denken gilt dem Standpunkt in der Marxschen Theoriebildung. Feministisch wird der Standpunkt der Unterdrückung explizit als Ort des Widerstandes ausbuchstabiert, von dem aus alle Verhältnisse (Marx) umgeworfen werden, in denen es Unterdrückung gibt – also auch die der Frauen. Cynthia Cockburn referiert diese marxistisch-feministische Theoriearbeit der 1980er Jahre, die als „situiertes Wissen“ in die Intersektionalitätsdebatte eingegangen ist, und stellt ihren Beitrag zu Kriegsgewalt in den ausführlich referierten Rahmen der feministisch reformulierten Marxschen Theorie (ebd., 646). Ohne diesen Kontext aufzugreifen charakterisiert Zander den Text als „leider sehr befremdlich“, Beleg ist Cockburns zitierte Annahme, dass männliche Autorität Effekt der „Akkumulation entfremdeter Liebe“ sei, eine These, die doch eher produktiv und nachvollziehbar ist.

Ins Kröpfchen fallen lässt Zander nach falschem Referat auch Frigga Haugs mit Marx und Engels begründeten Vorschlag, Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse zu begreifen. Haugs Vorschlag enthält nicht weniger als die Anforderung, die Marxsche Theorie grundlegend neu zu denken (und zu schreiben), unter gleicher Berücksichtigung der von Marx u. Engels benannten zwei Produktionsarten – der des Lebens und der der Lebensmittel –, die unterschiedlichen Logiken folgen und von denen Marx/Engels bekanntlich nur die letztere in der Geschichte der Menschheit und des Kapitalismus theorisiert haben. Diese Nichtbeachtung hat mit dafür gesorgt, dass die Unterwerfung der Produktion des Lebens unter die der Lebensmittel in der marxistischen Debatte nicht theorisiert und skandalisiert worden ist. Zander reduziert Haugs Denkfigur auf die hinlänglich beschriebene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, womit er – s.o. – den in marxistisches Denken am grundlegendsten eingreifenden Vorschlag auf der Seite alten Denkens hat, also wieder in Gesellschaft – wie die „Bindestrich-Konstruktion“, deren Produkt er ist –, mit dem Marxismus-Leninismus. Dazu passt es dann, Haug in der Rede von Sorgearbeit eine „Totalisierung des Arbeitsbegriffes“ vorzuwerfen, was sogar als Angriff auf bekannten Feminismus erscheint. Den zweiten Beitrag von Martha Gimenez im Tagungsband, in dem sie kritische Fragen an Haugs Theorem auf marxistisch theoretischer Augenhöhe formuliert, erwähnt Zander nicht, dabei hätte dieser Beitrag die notwendige Debatte eröffnen können.

Aber die ist nicht gewollt. Darauf verweisen auch die Texte, die Zander ins Töpfchen wirft, und vor allem, wie er sie charakterisiert: „Festhalten am Klassenbegriff“ (Gimenez), Kritik der unterschiedlichen Ebenen von „Klasse und Geschlecht“ in Intersektionalitätsanalysen (Vogel), „genuin marxistische Fragen nach Arbeit, Ausbeutung und Verwertung“ (Wichterich), „Rolle der indischen Frauenbewegung in den Klassenkämpfen“ (Dietrich). Hervorgehoben werden die Texte mit Begrifflichkeiten, die widerspruchsfrei in ein marxistisches Denken eingeordnet werden, das an dem „Primat der Ökonomie und Lohnarbeit“ festhält. Die positiv hervorgehobenen Texte werden selbst gegen den marxistischen Feminismus in Stellung gebracht, der – würde man sich auf ihn einlassen – die Anforderung bedeutete, marxistische Theorie unter Nutzung der von ihr zur Verfügung gestellten Werkzeuge umzuschreiben. Das könnte eine Perspektive eröffnen, die unsere Sorge um den Weltzustand nicht vom Ringen um Handlungsmöglichkeiten auch aus theoretischer Anstrengung abtrennt. Dass dies geschieht ist die Tragödie. Es ließe sich ändern – die Hoffnung bleibt.

Jutta Meyer-Siebert

Brecht auf der politischen Tagesordnung? Zu Kai Köhlers Bericht in Z 106

Indem der Autor an die Aufführung von Brechts Lehrstück „Die Maßnahme“ im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie am 8. April 2016 herangeht wie an die Kritik eines bürgerliches Theaterstücks („Die Figurenführung war werkgetreu“), entgeht ihm die Frage, was uns Brechts Lehrstücke heute zu sagen haben. Viele Menschen rezipieren aktuell Brecht, aber auch Peter Weiss. Seine „Ästhetik des Widerstands“ füllt einen Band der Zeitschrift „Das Argument“. Neben der „Maßnahme“ wurde „Die Mutter“ in der Studiobühne der Schaubühne am Lehniner Platz aufgeführt. Alle Aufführungen waren ausverkauft. Da drängt sich die Frage auf, warum? Welche aktuellen Fragestellungen motivieren, Brechts Lehrstücke aufzuführen oder sie zu besuchen?

Bisher ging ich davon aus, Brechts Lehrstück „Die Maßnahme“ handele von der Frage, ob das Eintreten für die „gute Sache“ das Töten eines Menschen rechtfertige. Die Antwort war für mich klar: Der Zweck (hier: die Weltrevolution) rechtfertigt viele, aber keineswegs jedes Mittel. Seit der Aufführung des Stückes in der Berliner Philharmonie am 8. April weiß ich, es geht darin um andere Fragestellungen.

Wie viel leichter fiel mir der Zugang zu Brechts „Die Mutter“. Die Geschichte der politischen Emanzipation der Pelagea Wlassowa, Mutter des Revolutionärs Pawel, ausgehend von der Erkenntnis: „Über das Fleisch in der Suppe wird nicht in der Küche entschieden“.

Da die Antwort auf die vermeintliche Frage des Stücks „Die Maßnahme“ keine Herausforderung zu sein schien, zogen mich andere Gründe in die Aufführung. Das Stück wurde in der Tradition der Arbeiterchöre aufgeführt. Zehn Laien-Chöre mit insgesamt 300 Sängerinnen und Sängern nahmen teil, darunter der Ernst-Busch-Chor und ein Gebärdenchor. Seit 2013 wurde geprobt. Die Aufführung hielt sich streng an Brechts Regieanweisungen. Das übliche, meist peinliche Experimentieren mit dem Zeitgeist entfiel.

Im Programmheft findet sich der Hinweis, dass Arbeiterlieder zum anerkannten Kulturerbe gehören. Wahrscheinlich brauchen bürgerliche Zuschauer diesen Hinweis, um sich „Die Maßnahme“ in der ursprünglichen Fassung anzusehen. Es ist die erste Zusammenarbeit von Brecht und Eisler. Vor Beginn blicken die Zuschauer erstaunt auf die kleine Bühne und fragen sich, wo denn die Chöre Platz haben sollen. Mit den ersten blechernen Tönen erheben sich die Sängerinnen und Sänger und es wird klar: Sie sind längst da. Sie füllen ungefähr die Hälfte des Saales. Nicht nur die Zuschauer sollen bei Brechts Lehrstücken lernen, auch den Schauspielenden und anderen Beteiligten sollen Erkenntnisprozesse ermöglicht werden.

Die Klasse 2013 der Ernst-Busch-Schauspielschule, die sich aktiv am Lehrstück „Die Mutter“ abarbeitet, macht diesen Prozess deutlich. Zu Beginn werden Videos gezeigt, in denen die Spielenden Texte aus dem Stück nachsprechen, die Stirn runzeln, diese interpretieren und auf einen aktuellen Sinngehalt abklopfen. Im Stück werden die Ebenen gewechselt und über die Inhalte und Formulierungen diskutiert. Mittendrin zitiert ein Schauspieler Kleist und verkündet, er würde viel lieber im Stück eines Klassikers auftreten. Damit bringen die Spielenden eigene Elemente der Verfremdung ein. Das funktioniert und die Zuschauer werden aus ihrer Begeisterung für die Spielfreude der Elevinnen und Eleven gerissen und auf die Lernprozesse verwiesen, die das Stück fordert. Gleichzeitig ist es witzig, ist doch Brecht längst ein Klassiker auf den Bühnen der Welt und in deutschen Schulen.

Die „Maßnahme“ folgt einer strengen Dramaturgie. Reihum wechseln die Spielenden die Rollen. Immer bleibt klar, dass sie einen Report an ihre Parteiführung nachspielen und auf das Urteil warten. Eine Interpretation des Stückes ist daher, dass Brecht hiermit die Moskauer Prozesse rechtfertige. Sie haben einen jungen Genossen getötet und in eine Kalkgrube geworfen. Die Sprache ist knapp und präzise. Dass der Text auf eine Leinwand projiziert wird, dient nicht nur der Verständlichkeit, es verleiht den Worten Nachdruck.

Brecht konstruiert eine Situation, die ausweglos ist, aber gelöst werden muss und wird, damit es eine Zukunft gibt. Vier Agitatoren, drei Männer und eine Frau, sind unterwegs in der chinesischen Provinz. Sie treffen einen jungen Genossen. „Oftmals tat er das Richtige, einige Male das Falsche und zuletzt gefährdete er die Bewegung“. Trotz Warnung vor dem Mitleid, verfällt er sofort dem Mitleid und löst sein Handeln von seinem Verstand. Er möchte die Qualen der Reiskahnschlepper sofort durch einen Aufstand beenden. Doch ohne nachhaltigen Rückhalt bei den Menschen ist die Zeit noch nicht reif, der Aufstand würde niedergeschlagen und die Bewegung einen Rückschlag erleiden. Der junge Genosse wird enttarnt, die Auflösung der Zelle ist unausweichlich. Er kann fliehen, wird aber verfolgt. Gemeinsam mit ihm entscheiden die Agitatoren, dass er getötet werden muss, um die Gruppe zu schützen, die weiter arbeiten muss.

Verständlich ist diese Konstruktion vor dem Hintergrund von Faschismus, Widerstand, konspirativer Arbeit im Untergrund. Mir ist dies gerade sehr präsent, da ich bei der Re-Lektüre von Peter Weiss „Ästhetik des Widerstands“ den Spuren der Widerstandskämpferin Lotte Bischoff und anderen folgen konnte. Es geht um das Weiterkämpfen nach Niederlagen.

Brecht hat das Stück dreimal verändert, zuletzt 1938. Es geht nicht um die Rechtfertigung des Tötens, sondern darum, dass Zuschauer und Darstellende sich mit grundlegenden Fragen beschäftigen: Welche Rolle spielen die einzelnen in der Veränderung? Wie ist die Dialektik zwischen Gruppe und einzelnen zu verstehen und zu leben? Wie kann die Ausrichtung auf kurzfristige Ziele langfristige Erfolge verhindern oder ermöglichen? Wie greifen Aktion und Aufklärung ineinander?

Die „Maßnahme“ enthält einen Brechtschen Kernsatz, der gleichzeitig eine Aufforderung ist: „Ändere die Welt: sie braucht es“. Die Verhältnisse müssen so verändert werden, dass Situationen, die Menschen vor unauflösbare Situationen stellen, nicht mehr entstehen können. Der junge Genosse ist tot, die Agitatoren konnten ihre Arbeit vollenden. Die Bewegung wurde gestärkt, viele neue Kämpferinnen und Kämpfer wurden gewonnen. Ein Happy-End ist dies dennoch nicht.

Pelagea Wlassowa wird zum „Maulwurf“ der Revolution. Da Flugblätter nicht verteilt werden dürfen, wickelt sie Gurken und Pasteten darin ein und verteilt sie in der Fabrik. Ihre List und alltägliche politische Arbeit führen dazu, dass die Arbeiter gegen die Lohnkürzung streiken. Sie lernt, studiert die Klassiker, bleibt aber auf die Kärrnerarbeit verwiesen. Trotz „Lob des Lernens“ bleibt eine Kluft zwischen den Geschlechtern, Führung und Basis, Partei und Bewegung. Ein gleichberechtigter Umgang mit den männlichen Führern der Partei entsteht nicht. Die einen fragen (Frauen), die anderen (Männer) antworten. Der Streik scheitert, Pelageas Sohn ist tot. Am Ende ist sie es, die die auf den Boden gefallene rote Fahne aufhebt. Das Bild hing in den 70ger Jahren in zahlreichen WG-Zimmern. Der Ausblick des Stücks ist positiv: „Wer noch lebt, sage nicht niemals.“… „So wie es ist, bleibt es nicht“. Die politische Arbeit muss weiter geführt werden trotz großer Opfer und Mühen. Das gilt bis heute. Auch und vor allem in Phasen des Rückschritts. Auch Peter Weiss endet so. Es geht weiter, auch nach tiefsten Niederlagen.

Regina Stosch

1 Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen hat dazu im Juni 2015 ein Kolloquium mit Beiträgen von Joachim Bischoff, Judith Dellheim, Wolfgang Krumbein, Jürgen Leibiger, Gunther Sandleben und Michael Wendl durchgeführt. Vgl. Dieter Janke, Jürgen Leibiger (Hrsg.), Welcher Kapitalismus, welche Krise? Finanzmarktkapitalismus in der Diskussion, Leipzig 2015.

2 Das Ende der sogenannten Deutschland-AG, dem Verflechtungskomplex deutscher Großkonzerne des finanziellen und des nicht-finanziellen Sektors, zu Beginn der 2000er Jahre bedeutete nur das Ende einer spezifischen, sich zunehmend als inflexibel erweisenden Konstellation. Die Auflösung wurde auch durch damalige Steuerfreistellung von Anteilsverkäufen begünstigt. An die Stelle dieses Verflechtungskomplexes traten andere, sektoral breitere und internationale Verbindungen.

3 Schon bei Marx findet sich die Erläuterung dieses Phänomens (MEW 25, 383ff). Er kannte natürlich schon den gewaltigen Einfluss der Finanzsphäre auf die produktive Sphäre. Er spricht jedoch von der „Verfügung der Industriellen und Kaufleute über alle Geldersparnisse aller Klassen der Gesellschaft“, die „durch Bankiers vermittelt“ wird (ebd., 374), nicht jedoch von „Verflechtung“ oder „Dominanz“.

4 Alle Zahlenangaben aus: Statistisches Bundesamt, Sektorale und gesamtwirtschaftliche Vermögensbilanzen, versch. Jahrgänge.