Postkapitalismus

„Autonome Marxisten" – Anmerkungen zu Robert Kurz und Karl-Heinz Roth

Varianten des ‚Postkapitalismus’ – Ein Literaturbericht (Teil III)

von Werner Goldschmidt
März 2017

I. Robert Kurz – Das Kapital als „automatisches Subjekt“ der Selbstzerstörung?

„Der Kapitalismus ist am Ende seines Blindflugs

durch die Geschichte angelangt.“[1]

„Wenn der Gedanke radikaler Kritik durchgehalten

werden soll, muss er sich der Verführbarkeit

durch sogenannte ‚Praxis’ entziehen.“[2]

„Die Aufgaben, die gelöst werden müssen,

sind von geradezu ergreifender Schlichtheit.“[3]

Der 2012 verstorbene Philosoph und Publizist Robert Kurz, Mitherausgeber der Zeitschriften Krisis und Exit, Verfasser zahlreicher Texte in diesen und anderen Publikationen, war mit seinen beiden Hauptwerken „Der Kollaps der Modernisierung“ (1991) und „Schwarzbuch-Kapitalismus“ (1999) vermutlich der erfolgreichste Schriftsteller des autonomen Linksradikalismus in Deutschland der 1990er Jahre; spätere Bücher waren weniger erfolgreich.[4] Im Nachruf eines seiner Anhänger wurde er als der „vielleicht letzte marxistische Theoretiker“[5] bezeichnet. Jedenfalls war er der bisher letzte Autor hierzulande, der unermüdlich das notwendige und zugleich mehr oder minder unmittelbar bevorstehende Ende oder den „Tod des Kapitalismus“[6] prognostizierte.

Die Position von Kurz wurde anfangs häufig auf ein einziges Schlagwort reduziert: „Wertkritik“[7], später wurde diese um die sog. „Wertabspaltungskritik“[8] erweitert. Bald darauf ist bei Kurz dann vor allem aber von einer notwendigen „Kritik der abstrakten Arbeit“ die Rede, die schließlich in eine „Kritik der Arbeit“[9] schlechthin mündet. Es lohnt in unserem thematischen Zusammenhang nicht, den Abenteuern der Kurzschen Begriffsakrobatik nachzugehen. Nicht nur mit dem Marxschen Wertbegriff, und insbesondere mit der „abstrakten Arbeit“ (als Substanz des Warenwerts) hat Kurz seine Probleme, sondern auch mit dem der „Kritik“[10], mit der Marxschen Metapher „automatisches Subjekt“ usw.[11], alles Termini, mit denen Kurz offenbar suggerieren will, er wolle „mit Marx über Marx hinaus“.[12] Dabei gibt Kurz sich scheinbar bescheiden. „Wir sind nicht klüger als unsere Vorgänger in der Kapitalismuskritik, sondern wir befinden uns in einer anderen, fortgeschrittenen historischen Situation“. Es gelte deshalb, „dem neuen historischen Kontext Rechnung zu tragen und ein neues theoretisches Paradigma zu entwickeln, das der vor uns liegenden Epoche entspricht.“[13]

Dieser neue historische Kontext ist nach Kurz einerseits durch das dramatische Scheitern des „Arbeiterbewegungs-Marxismus“ (spätestens 1989) und andererseits den Übergang des Kapitalismus in das Stadium einer „Dritten industriellen Revolution“ (zu Beginn des 21. Jh.) gekennzeichnet. Dadurch sei erstmals eine endgültige, „aufhebende“ (im Sinne von überwindende) Kritik aller auf „abstrakter Arbeit“ beruhenden warenproduzierenden Gesellschaftsform(en)[14] notwendig und möglich geworden.

Was sind die Voraussetzungen, worin besteht der wesentliche Kern einer nicht mehr auf (abstrakter) Arbeit beruhenden Gesellschaft und wie stellt Kurz sich die Subjekte (Akteure) und die Formen (Institutionen) des Übergangs zu dieser neuen Formation vor? Für Kurz war der Zusammenbruch des „Realsozialismus“[15] insofern eine Voraussetzung der neuen Formation – für die er übrigens keinen spezifischen Namen hat – als damit nämlich nur eine bestimmte, „staatskapitalistische“ Variante der warenproduzierenden Gesellschaftsformation verschwunden sei, deren nur oberflächlich verborgener Sinn in der „Modernisierung“ ökonomisch und kulturell zurückgebliebener Länder bestanden habe.[16] Zugleich aber kündige das unrühmliche Ende dieses vergeblichen Versuchs nachholender Modernisierung mittels des Staates die endgültige Krise der nunmehr (fast) ausschließlich auf privat- oder konkurrenzkapitalistischer Warenproduktion beruhenden „Weltökonomie“ an.[17] Diese endgültige Krise beruht nach Kurz letztlich auf der Entwicklung der immanenten Widersprüche dieses globalen Systems selbst, die mit der „Dritten industriellen Revolution“ ihren Höhe- und zugleich Wendepunkt erreicht hätten – und an der zuerst dessen „schwächstes Glied“, der „Staatskapitalismus des Ostens“, gescheitert war. Der eigentümliche Kern oder das Wesen der „Dritten industriellen Revolution“ – die Kurz selbst zwar wortreich, aber eher abstrakt beschreibt – besteht seiner Auffassung nach darin, dass sie „die Arbeit“ aufhebt[18], und damit das System der auf „abstrakter Arbeit“ (und Wert) beruhenden Warenproduktion.[19]

Jenseits des Kapitalismus: Die Aufhebung der Arbeit

Allerdings führt das „Ende der Arbeitsgesellschaft“ (Hannah Arendt) nach Kurz nur bis an eine Grenze der Verwertung „abstrakter Arbeit“, nicht jedoch zur realen Überwindung der darauf basierenden Gesellschaftsformation. Falls es den von diesem System massenhaft ausgestoßenen und marginalisierten Individuen nicht gelingt, ein alternatives „emanzipatorisches Projekt“ zu entwickeln und durchzusetzen, droht es langfristig in einem Sumpf der Regression und Barbarei zu versinken.[20]

Rezepte für ein emanzipatorisches Projekt könne es jedoch nicht geben, der Wunsch danach sei selbst noch in den kapitalistischen Kategorien befangen. Die Befreiung fange nicht „mit dem Abspulen eines vorgedachten Programms an, sondern mit der sozialen Rebellion gegen die unverschämten Zumutungen von ‚Marktwirtschaft und Demokratie’. Radikale theoretische Kritik und Rebellion müssen zusammenkommen … Es bedarf eines weltweiten sozialökonomischen ‚Maschinensturms’ gegen die … grauenhaft häßliche Weltmaschine des Kapitals.“ Dabei seien „die Aufgaben, die gelöst werden müssen, … von geradezu ergreifender Schlichtheit.“ Kurz, knapp und schlicht skizziert unser Autor die globalen Probleme des gegenwärtigen Zeitalters. Es gehe „erstens darum, die real und in überreichem Maße vorhandenen Ressourcen an Naturstoffen, Betriebsmitteln und nicht zuletzt menschlichen Fähigkeiten so einzusetzen, daß allen Menschen ein gutes, genußvolles Leben frei von Armut und Hunger gewährleistet wird. Unnötig der Hinweis, daß dies längst mit Leichtigkeit möglich wäre, würde die Organisationsform der Gesellschaft diesen elementaren Anspruch nicht systematisch verhindern.“ So geht es dann weiter. Alles kein materielles, kein technisches oder organisatorisches Problem, sondern lediglich eine „Bewußtseinsfrage“; man müsse sich nur die Folgen der liberalen „Gehirnwäsche“ aus dem Kopf schlagen.[21]

Dazu bedürfe es allerdings der Rückbesinnung auf jahrhundertealte Sozialutopien und Sozialrevolten, gewissermaßen einer reflektierten „Rückkehr in die Zukunft“: „Die Dritte industrielle Revolution setzt unausweichlich das Problem auf die Tagesordnung, an dem die alten Sozialrevolten gegen das Terrorsystem der abstrakten ‚Arbeit’ gescheitert sind. Natürlich kann es kein Zurück in diese gesellschaftlichen Konstellationen und kein Anknüpfen an den Bewußtseinsstand dieser Revolten geben. Aber auf einer viel höheren Entwicklungsstufe stellt sich erneut die Frage, wie die Produktivkräfte, … organisiert werden können, in die Form einer bewußten Verständigung der Gesellschaftsmitglieder zu bringen sind, statt von einem blinden und anonymen Mechanismus gesteuert zu werden.“[22] Auch diese Frage ließe sich durch historische Rückbesinnung für die Zukunft beantworten. „Der Gedanke einer permanenten gesellschaftlichen Beratung über den Einsatz der Ressourcen verweist schon auf ein mögliches institutionelles Gefüge, das ‚Marktwirtschaft und Demokratie’ [wohlgemerkt: beides – WG] ablösen könnte: nämlich eben ‚Räte’, beratende Versammlungen aller Gesellschaftsmitglieder auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Reproduktion. Sich einfach versammeln und die Dinge in die eigene Hand nehmen … Die historischen, immer nur kurzlebigen Ansätze von ‚Räten’ seit der Pariser Commune sind daran gescheitert, daß sie in den kapitalistischen Kategorien von abstrakter ‚Arbeit’, Geldform, Marktvermittlung und ‚Politik’ befangen blieben, also ihren eigenen Gesichtspunkt gegen die herrschenden Fetischformen nicht geltend machen konnten. Unter den Bedingungen der Dritten industriellen Revolution könnten ‚Räte’ dagegen tatsächlich nur noch an die Stelle von Geldform und anonymen Märkten treten. Die Mikroelektronik stellt dafür gleichzeitig die Möglichkeit einer allseitigen kommunikativen Vernetzung bereit, die alle Herrschaftszentren ‚vertikaler’ [‚hierarchischer’ – WG] Menschenverwaltung leicht aushebeln kann.“ Es bedürfe „einer bewußten ‚Palaverkultur’; also genau das, was für Ford und Lenin der Horror eines ewigen ‚Gequatsches’ war, das ihre schöne Gesellschaftsmaschine beeinträchtigen könnte. Genau darum geht es: alles zu bereden und abzuwägen, statt sich einer blinden und zerstörerischen abstrakten Leistungsmaschine zu unterwerfen und als deren Rädchen zu funktionieren. Zeit für das Palaver stünde übergenug zur Verfügung; und zwar nicht nur durch die Produktivkräfte der Dritten industriellen Revolution, sondern auch durch die Perspektive, alle destruktiven und unsinnigen Produktionen ersatzlos stillzulegen, die nur der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems dienen.“[23] Ob diese ebenso wortgewaltigen wie inhaltlich ‚ergreifend schlichten’, um nicht zu sagen ‚romantischen’ Überlegungen[24] freilich die ‚Massen’ des 21. Jh. zu ergreifen vermögen, muss angesichts der seitherigen Weltläufte mit Gründen bezweifelt werden.[25]

Am Ende seines „Schwarzbuchs“ scheint Kurz dies selbst geahnt zu haben. „Selbst wenn es nur wenige sind, die im Zerfallsprozeß des Kapitalismus eine neue innere Distanz gewinnen können: Es ist immer noch besser, Emigrant im eigenen Land zu werden, als in den inhaltslosen Plastikdiskurs der demokratischen Politik einzustimmen.“ Hielte man Robert Kurz dazu für fähig, so könnte man beim Lesen des letzten Satzes in diesem ‚radikalen’ Werk vermuten, der Autor habe ihn in einem unerwarteten Anflug resignierender Selbstironie formuliert: „Die Gedanken sind frei, auch wenn sonst gar nichts mehr frei ist.“[26]

Dabei wäre es eher nötig gewesen, dass Kurz sich selbst von der fixen oder metaphysischen[27] Idee einer „absoluten Schranke“ des Kapitalismus befreit hätte. Dies ist ihm allerdings nie gelungen. Einige Jahre später bemerkt er, dass das „atemberaubende Tempo“ der historischen Entwicklung, den „Reflexionsstand [gemeint ist sein eigener – WG] von Mitte der 90er Jahre längst überholt“ hat.[28] Gemeint war zunächst noch nicht in erster Linie der anhaltende Prozess der Globalisierung des Kapitals zum „Weltkapital“, als vielmehr die in diesem Prozess sich vollziehende Wandlung des traditionell nationalen Imperialismus zu einem „post-nationalen Sicherheitsimperialismus“[29], die den empirischen Rahmen bilde für die eigentliche, notwendig aber theoretische Analyse des „Weltkapitals“. Auch wenn sich diese Analyse als Resultat der Globalisierung nicht auf der abstrakten Ebene des „Kapitals im Allgemeinen“, sondern auf eine bestimmte historische Konkretionsstufe beziehe, so fiele diese methodische Konkretion doch nicht mit einer bloß historisch-empirischen Beschreibung zusammen, wie sie etwa von der Weltsystemtheorie Immanuel Wallersteins versucht worden wäre.[30] Jede Stufe historischer Konkretion müsse sich mit den Gesetzen des „Kapitals im Allgemeinen“ theoretisch vermitteln lassen, so dass der konkrete Prozess der Globalisierung und speziell die globale Finanzialisierung des Kapitals letztlich als bloßer Versuch zu begreifen sei, die innere Schranke der Kapitalverwertung immer weiter hinauszuschieben, ohne sie freilich je überwinden zu können.

Auch in seinem letzten Buch hielt Kurz an der Idee einer „absoluten inneren Schranke“ des Kapitals als eines historischen, wenngleich zukünftigen Faktums, wenn nicht Fatums, fest.[31] Man dürfe sich eben den Zusammenbruch des Kapitalismus nicht in Analogie zum Tod eines Individuums vorstellen. „Ein globales gesellschaftliches System, das sich in mehreren hundert Jahren herausgebildet und entwickelt hat, kollabiert sicherlich anders als ein physisches Individuum; es hat eine andere Dauer, bis das Gesamtsubjekt der Verwertung sozusagen auf dem Boden aufschlägt. … Wenn sich die radikale Krisentheorie bestätigt, wird sich für spätere Historiker (…) das Erreichen der inneren Schranke tatsächlich auf eine Zäsur zusammenziehen, die in der historischen Zeit gewissermaßen als Punkt erscheint, während sie ein Menschenalter einschließen kann. … In diesem Sinne ist die historische Zeit des Kapitalismus abgelaufen.“[32] Im Ergebnis scheint damit die „radikale Krisentheorie“ von Robert Kurz sich kaum von der von ihm kritisierten Perspektive des Historikers Wallerstein zu unterscheiden, freilich ohne dessen Einsicht in die Notwendigkeit von sozialen Kämpfen real existierender Menschen und Menschengruppen.[33] (Vgl. Teil I dieses Literaturberichts).

II. Karl-Heinz Roth – Gegen das „Elend der Theorie“[34] – Für ein „Aktionsprogramm“ des sozialen Widerstands gegen die „Verelendung“ in Europa[35]

Der Arzt und Sozialhistoriker Karl-Heinz Roth, Aktivist, Autor zahlreicher Schriften[36] und Herausgeber verschiedener Zeitschriften[37] sieht sich selbst als „Wanderer zwischen verschiedenen Restströmungen der allmählich ergrauten ‚neuen’ Linken“.[38] Insofern Roth sich um die kritisch-solidarische Auseinandersetzung mit anderen Gruppierungen der Linken bemüht, nimmt er innerhalb des Spektrums der ‚autonomen Marxisten’ eine Sonderrolle ein. Als empirisch orientierter Historiker kann er in vieler Hinsicht als Antipode zum ‚philosophisch’[39] inspirierten Theoretiker Robert Kurz angesehen werden. Während für Kurz historische Tatsachen (einschließlich der Arbeiterkämpfe) allenfalls zur Illustration seiner theoretischen Ableitungen dienen, begreift Roth sie als Dokumente einer realen Bewegung innerhalb der sozialen Welt.

Wenn einer von den hier zu behandelnden „autonomen“ Autoren, den von Kurz als Vorwurf gemeinten Titel „Arbeiterbewegungs-Marxismus“ verdiente, dann am ehesten Roth. Allerdings, Roths Arbeiterbewegung ist vor allem die „andere Arbeiterbewegung“[40], d. h. vornehmlich die der nicht in „reformistischen“[41] Gewerkschaften und Parteien organisierten Arbeiter, also die Bewegung der spontan und autonom gegen die Herrschaft des (globalen) Kapitals (weltweit) kämpfenden Arbeiterklasse. Insofern steht Roth im Prinzip auch heute noch eher den Positionen des klassischen Operaismus nahe, die er jedoch – ähnlich wie der „post-operaistische“ Negri – um die globale Dimension des Kampfs der „Weltarbeiterklasse“ erweitert.

Auch Roth will „über Marx hinaus“[42]. Während aber Robert Kurz zumindest dem von ihm so genannten ‚exoterischen’ Marx vorwarf, die Arbeiterklasse, den Klassenkampf und die Arbeiterbewegung fälschlich als Subjekt einer revolutionären Umwälzung des Kapitalismus angesehen zu haben, kritisiert Roth an Marx – gerade umgekehrt –, dass er die spontane Subjektivität der Arbeiterklasse und ihrer Kämpfe eher vernachlässige und sie vielmehr als bloß abhängige Variable der als autonom betrachteten, durch die Konkurrenz der Kapitale und nicht durch den widerständigen Kampf der Arbeiter induzierten Kapitalbewegung behandelt habe.[43] Jedenfalls gelte dies für den Marx des Kapital, das auch in der inzwischen vollständig vorliegenden Fassung (MEGA2 II) allenfalls ein Torso geblieben sei gegenüber dem ursprünglichen Plan aus dem Jahre 1858.[44]

Nach diesem „6-Bücher-Plan“ sollte das Gesamtwerk zur Kritik der Politischen Ökonomie neben dem Buch Vom Kapital je ein weiteres Buch zum Grundeigentum, zur Lohnarbeit, zum Staat, zum Internationalen Handel sowie abschließend und zusammenfassen zum Weltmarkt enthalten. Tatsächlich hat Marx alle diese Thematiken in komprimierter Form schließlich an unterschiedlichen Stellen in die drei Bände des Kapital hineingenommen.[45] Der Vorwurf von Roth lautet nun, dass durch die Integration dieser einzelnen Thematiken in die Untersuchung des Kapitals – insbesondere der Bücher über die Lohnarbeit und den Weltmarkt – das lebendige Subjekt der Lohnarbeit und des Klassenkampfes als „variables Kapital“ der dominierenden Subjektivität (Macht und Herrschaft) des Kapitals untergeordnet worden sei. Hinzu käme, dass das bei Marx vorherrschende Bild der dem Kapital unmittelbar subsumierten „richtigen“ Lohnarbeiter als rechtlich „freie Individuen“ etc. nur „eine Erscheinungsform“ der vom Kapital als „Handelsgut“ angeeigneten Arbeit(skraft) sei.[46] Es gäbe – auf dem Weltmarkt, d.h. nicht mehr nur im „globalen Süden“, sondern mit der neoliberalen oder post-fordistischen „Rückkehr der Proletarität“ auch innerhalb der kapitalistischen Zentren (der „Triade“ aus USA, Japan, EU) – zahlreiche weitere solcher Formen mehr oder minder unfreier Arbeit. „Wenn wir nun aber annehmen, dass die Marxschen ‚doppelt freien’ Lohnarbeiter nicht mehr der strategische und privilegierte Teil der Weltarbeiterklasse sind, und dass Sklaven, Kontraktarbeiter, (Schein-)Selbstständige und andere im Kapitalismus theoretisch ‚gleichberechtigt’ sind, dann hat dies weitreichende Folgen für die Theoriebildung. Denn dann ist wahrscheinlich nicht nur die Marxsche Werttheorie überholt, sondern muss auch die Revolutionstheorie völlig neu durchdacht werden.“[47]

Es gelte daher mit Marx über Marx hinauszugehen. Dessen ursprünglicher Plan sei in dem Sinne zu rekonstruieren und durch die historische Erfahrung zu ergänzen, dass die Struktur und Geschichte der Lohnarbeit, d.h. der Entwicklung der modernen Arbeiterklasse und ihrer Kämpfe erweitert um die Vielzahl der anderen vom Globalkapital durch Kauf, Gewalt und/oder andere Formen der Abhängigkeit angeeigneten Arbeit(skräfte) als gleichwertiges und perspektivisch schließlich überwiegendes Gegengewicht zum Kapital untersucht werde. Dies bedeute, den Kampf der Klassen in umfassenden Sinne – und nicht die bloße Selbstbewegung des Kapitals (etwa als „automatisches Subjekt“) – als den eigentlichen Motor der sozial-ökonomischen, ja der gesamten geschichtlichen Entwicklung zu begreifen – wie das im Prinzip schon im Kommunistischen Manifest festgestellt worden war.

„Als Vorarbeit“ zu einer Marx ergänzenden ‚Kritik der politischen Ökonomie der Arbeit’ dient der vorliegende Sammelband, der verschiedene Positionen innerhalb des durch die o. g. Überlegungen gesteckten Rahmens zusammenstellt. Wegen seiner internationalen Ausstrahlung werden wir hier wenigstens knapp auf die durch Antonio Negri inspirierte Kritik der Marxschen Arbeitswerttheorie im Zusammenhang mit dem Wandel der Arbeitsverhältnisse von der „industriellen Arbeit über die Massenarbeit bis zur ‚kognitiven Arbeit’ unserer Tage“[48] eingehen. Die Rede von der „Arbeiterklasse“ sei jedenfalls heute eine falsche Verallgemeinerung. Vielmehr müsse man von einem Multiversum der Ausgebeuteten, und spezieller der Widerständigen gegen das Kapital sprechen. Dieses Multiversum bilde das „globale Proletariat“ im eigentlichen Sinne, die Weltarbeiterklasse[49], und nur diese komme im 21. Jahrhundert noch als Subjekt eines „sozialrevolutionären Aufbruchs hin zu einer von Gewalt, Herrschaft und Ausbeutung freien Gesellschaft“ in Frage. Wichtig ist, dass nach Roth u.a. dabei keinem spezifischen Segment dieser Weltarbeiterklasse ein Primat, eine „führende“ oder „hegemoniale“ Rolle zukommt.[50]

Umrisse einer erneuerten sozialistischen Alternative[51]

Roths Skepsis gegenüber großen Theorieentwürfen – die Marxschen eingeschlossen[52] – hinderte ihn in den letzten beiden Jahrzehnten jedoch nicht daran, seine zahlreichen historiographischen Studien, die sich häufig auf Einzelfälle konzentriert hatten, in „konzeptionell-politischen Wortmeldungen“ bilanzierend zusammenzufassen.[53] Auch dabei bleibt Roth allerdings dem Prinzip des Vorrangs empirischer Forschung treu. Dennoch versucht er, vielfach auch in kritischer Diskussion mit Kollegen und Genossen[54], zu relativ vorsichtigen Verallgemeinerungen und Prognosen zu kommen, vor allem, um auch und gerade in unübersichtlichen Krisenlagen politisch-emanzipatorischen Bewegungen praktische, über die unmittelbare Situation hinausweisende Orientierungen und Perspektiven anzudeuten. Sein Hauptaugenmerk richtet Roth dabei immer wieder auf die Lage der globalen sozialen Unterklassen und ihren möglichen Reaktions- bzw. Aktionsweisen in der weltweiten Krise.

Hier liegt nun aber auch die Crux jeder emanzipatorischen Strategie, die von vornherein auf die globale Ebene fokussiert ist, dass sie sich nämlich nicht mehr auf ein (wenigstens tendenziell) homogenes Subjekt des Widerstands, sondern auf ein äußerst vielfältiges „Multiversum“ (Roths Variante der Hardt/Negri´schen „Multitude“) stützen muss, das seiner ganzen Natur nach aber eben nicht einer einheitlichen Strategie folgen kann und dennoch der globalen Koordination bedarf, weil jedes lokal, regional oder selbst kontinental isoliertes Emanzipationsprojekt angesichts des entwickelten Stands der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verflechtung nach Roth zum Scheitern verurteilt sein würde. Das diesem Zustand entsprechende strategische Schlüsselwort lautet: Vernetzung – der relativ autonomen Teilsubjekte des globalen Emanzipationsprozesses. Darin eingeschlossen sind nicht nur unterschiedliche, den jeweiligen konkreten Ausbeutungs- und Unterdrückungsmechanismen angemessene Kampfformen, sondern auch ganz unterschiedliche Geschwindigkeiten und Entwicklungsstadien der Transformationsprozesse usw. Schließlich ist Roth von der langfristigen Perspektive (longue durée, gemessen in Jahrzehnten) jeglicher erfolgversprechenden Emanzipationsstrategie überzeugt. Damit nähert er sich in mancher Hinsicht den im folgenden Teil IV dieses Literaturberichts zu untersuchenden Transformationsprojekten, die von eher traditionellen Marxisten gemeinsam mit kritischen Ökonomen (Keynesianern) und Sozialwissenschaftlern (im Anschluss an Polanyi) entwickelt worden sind. Soweit Roths erste knappe und noch weitgehend abstrakte Zusammenfassung aus der Zeit unmittelbar vor der neuen Weltwirtschaftskrise 2007ff.

„In den vergangenen zwei Jahren [2007 bis 2009 – WG] haben sich die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse grundlegend verändert. Nichts ist mehr wie vorher“, heißt es im Vorwort zu Roths erster Bilanzierung der „globalen Krise“ aus dem Jahre 2009, in der er ein umfassendes Forschungsprojekt zu den sozial-politischen Konsequenzen und die Umrisse einer alternativen Krisenüberwindung ankündigte, „die in einen globalen Transformationsprozess einmünden könnte“.[55] Der dazu bisher vorliegende Band 1 thematisiert zunächst den ökonomischen Verlauf der Krise, ihre wesentlichen Eigenschaften und die Versuche des kapitalistischen Krisenmanagements. Der erste Teil dieses Bandes ist weitgehend deskriptiv und heute vor allem insofern von geringerer Relevanz[56], als die Darstellung des Gesamtprozesses nur bis zur Mitte des Jahres 2009 reicht und daher die weitere Entwicklung, insbesondere der nachfolgenden Krise der Staatsfinanzen (in Europa) und die langfristige (säkulare?), voraussichtlich mindestens das zweite Jahrzehnt im 21. Jh. charakterisierende ökonomische Stagnation nicht behandelt wird. Das aber wäre für die Entwicklung der angekündigten „Gegenperspektiven“ unerlässlich.[57]

Immerhin hat Roth 2013 gemeinsam mit Zissis Papadimitriou (R/P) ein „Manifest für ein egalitäres Europa“[58] vorgelegt, in dem strategische Schlussfolgerungen aus den sozialen Folgen der Krise in Europa erörtert werden und schließlich die „Umrisse einer Alternative des sozialen Widerstands“ einschließlich der eines „Aktionsprogramms“ enthalten sind. Ausdrücklich wird darin die Perspektive auf die Idee eines egalitären, föderativen Europas in der Tradition des antifaschistischen Widerstands eröffnet, die gleichzeitig als „Bestandteil eines globalen Umbruchs“ zu verstehen sei.[59] „Es ist Zeit zum Handeln. Fünf Jahre der Krise sind genug“ heißt es im Vorwort des Manifests[60], auf dessen Basis die Autoren gemeinsam mit Angelika Ebbinghaus und anderen einen „Aufruf für ein (solidarisches und) egalitäres Europa“ verfasst haben, dem sich rasch zahlreiche Intellektuelle und Aktivisten aus mehreren europäischen Ländern angeschlossen hatten.[61]

Zwar habe sich in den ersten Jahren der Krise auch in Europa der soziale Widerstand gegen die „Austeritätsprogramme der herrschenden Klassen“[62] neu zu formieren begonnen, heißt es im historisch-analytischen Teil des Manifests. „Es kam in Griechenland, Portugal und Spanien zu Massenkundgebungen und Generalstreiks, wie es sie in diesem Ausmaß seit dem Ende der Diktaturen nicht mehr gegeben hatte. … Aber der Schein trog.“ Die soziale Zusammensetzung der Massenproteste sei zu inhomogen gewesen, die Strategien der politischen Initiativgruppen nicht aufeinander abgestimmt und die Manifestationsformen hätten sich – nicht zuletzt durch die „ordnende Hand“ der an den Aktionen beteiligten „Reste der Traditionslinken“ – vielfach auf bloße Symbolpolitik beschränkt. Nicht zuletzt aufgrund des Fehlens glaubwürdiger Alternativen sei bei den sozialen Unterschichten wie bei den von Abstiegsängsten geplagten unteren Mittelschichten schließlich eine fortschreitende „soziale Demoralisierung“ eingetreten, die sich u.a. in einem Zulauf zu demagogischen, rechts-populistischen Strömungen zeige.[63] „Somit müssen wir uns eingestehen, dass der soziale Widerstand trotz seiner beeindruckenden Breite und der Vielfalt seiner Manifestationsformen in eine Sackgasse geraten war.“[64]

Die strategische Funktion der „Umrisse eines Aktionsprogramms“ besteht nach R/P demnach zunächst darin, die soziale Demoralisierung und Entsolidarisierung der betroffenen sozialen Schichten zu überwinden und „die mentalen Blockaden beiseite zu räumen, die die sozialen Bewegungen aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit von Aktionsformen abhielten, die den Bruch mit der restriktiven Sozial- und Wirtschaftspolitik herbeiführen könnten.“ Um aber einen effektiven „Systembruch“ herbeizuführen, müssten „entscheidende“ Reformen eingeleitet werden, die sich in mehrere Etappen über „längere Zeitspannen erstrecken, die einen oder mehrere Generationswechsel einschließen.“[65]

Den Kern des vorgeschlagenen Aktionsprogramms bilden weitreichende Reformen auf dem Gebiet der Arbeitsbedingungen, der sozialen Sicherheit und der Menschenwürde, die Forderung nach Rückverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten und Maßnahmen zur Verhinderung der Kapitalflucht und zur Sozialisierung der Investitionen sowie zur Wiederaneignung der öffentlichen Güter, eine Intensivierung der Umweltpolitik und schließlich entschiedene Maßnahmen zur Herstellung der Gleichheit zwischen den Geschlechtern u.a..

Selbst wenn man einräumt, dass die Vorschläge von R/P bei ihrer Realisierung eine „soziale Katastrophe“ in Europa verhindern und „entscheidende“ Schritte in Richtung auf eine postkapitalistische Gesellschaft darstellen würden[66], so erscheint das Programm schon zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung – und erst recht drei oder vier Jahre später – reichlich anachronistisch; anzunehmen, die konstatierte „Demoralisierung“ der sozialen Unterschichten infolge der erfahrenen Niederlagen der vorangegangenen Jahre durch die Formulierung eines noch so radikalen Aktionsprogramms überwinden oder gar ein erneuerte, nunmehr programmatisch gestärkte soziale Bewegung in Europa initiieren zu können, ist – gelinde gesagt – wenig realistisch, oder vielmehr schlecht-utopisch.[67] Ob ein solches oder ähnliches Programm in einer längerfristigen Perspektive, etwa infolge eines erneuten Ausbruchs oder einer Vertiefung der immer noch anhaltenden sozial-ökonomischen Krise, eine vorwärtstreibende Rolle spielen könnte, sei dahingestellt. Immerhin scheinen die von R/P vorgeschlagenen Maßnahmen im Prinzip durchaus kompatibel mit den Überlegungen verschiedener Transformationstheoretiker aus dem Umkreis oder in der Nachfolge der traditionellen marxistischen Arbeiterbewegung.

Dies gilt schließlich auch für den – freilich noch zaghaften - Versuch am Ende des Manifests über die Fixierung des Sozialhistorikers Roth auf die (andere!) Arbeiterbewegung hinausweisenden „Aufbruch zu neuen Ufern“, wo es heißt: „Es gibt noch eine zweite Handlungsebene des sozialen Widerstands, auf die wir uns mit unseren Vorschlägen beziehen: Die Netzwerke der alternativen Ökonomie. … Wenn es gelänge, zwischen den Trägerschichten der alternativen Ökonomie und den Aktivistinnen und Aktivisten einer sozialen Wiederaneignung gemeinsame Praxisbezüge zu stiften, dann wäre ein qualitativer Sprung möglich, der die Grenzen der ‚entscheidenden Reformen’ in die Richtung einer nachkapitalistischen, egalitären Gesellschaft überschreitet. Dann könnte die gemeinschaftliche Aneignung und Inbetriebnahme der kommunalen und regionalen Produktions- und Reproduktionsmittel als Fanal wirken: als konkreter Beweis dafür, dass es möglich ist, die in der vergegenständlichten Arbeit aufgehäuften Reichtümer kollektiv anzueignen und den Erfordernissen einer sich herrschaftsfrei entfaltenden sozialen Subjektivität anzupassen.“[68]

(Zu den beiden zuletzt genannten Perspektiven vgl. Teil IV dieses Literaturberichts.)

* Fortsetzung zu: „Eine Art ‚Commonismus’“? Varianten des Postkapitalismus, Teil I, in: Z 107 (September 2016), S, 83-97, und: „Offener oder autonomer Marxismus“ – „Mit Marx über Marx hinaus“ – Zum Kommunismus 2.0? Varianten des Postkapitalismus, Teil II, in Z 108 (Dezember 2016), S. 129-144.

[1] R. Kurz, Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft (1999) 2. Aufl., München 2002, 427.

[2] R. Kurz, Der Unwert des Unwissens. Verkürzte „Wertkritik“ als Legitimationsideologie eines digitalen Neo-Kleinbürgertums. www.exit-online.org/link.php?tabelle=autoren&posnr=321

[3] R. Kurz, Schwarzbuch, a.a.O., 438.

[4] R. Kurz, Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Bad Honnef 2003; ders., Das Weltkapital. Globalisierung und innere Schranke des modernen warenproduzierenden Systems, Berlin 2005; ders., Geld ohne Wert. Grundrisse zu einer Transformation der Kritik der politischen Ökonomie, Bad Honnef 2012.

[5] Bahamas, Nr. 66, Sommer 2013. SPIEGEL Online nannte ihn „einen der wichtigsten zeitgenössischen linken Theoretiker in Deutschland, http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/publizist-und-philosoph-robert-kurz-ist-tot-a-845455.html. Natürlich war Kurz umstritten, ehemalige Sympathisanten nannten ihn einen „Spinner“ (http://weltkritik.blogsport.de/2012/07/20 /robert-kurz-ist-tot-eine-erinnerung/), seine Arbeiten „Theomurxismus“, so R. Walther, in trend.onlinezeitung 3/06.

[6] R. Kurz, Der Tod des Kapitalismus. Marxsche Theorie, Krise und Überwindung des Kapitalismus, Hamburg 2013.

[7] E.. Lohoff, R. Kurz, Was ist Wertkritik? Vgl. http://www.exit-online.org/textanz1. php?tabelle=schwerpunkte&index=16&posnr=129&backtext1=text1.php. Später kritisierte Kurz u. a. auch seinen damaligen Ko-Autor Lohoff für dessen „verkürzte“ Wertkritik. Vgl. Fn 2. Vgl. E. Lohoff, Der Wert des Wissens. Grundlagen einer Politischen Ökonomie des „Informationskapitalismus“, in Krisis 31, 2007.

[8] „Ein Hinweis zur Terminologie: ´Wertkritik´ ist die bereits im Kollaps der Modernisierung vertretene, an Marx unmittelbar anknüpfende Fundamentalkritik der kapitalistischen Basiskategorien. ´Wert-Abspaltungs-Kritik´ ist die darüber hinausgehende, 1992 von Roswitha Scholz eingeführte Synthese von Marxscher Kritik der politischen Ökonomie und feministischer Kritik, die das hierarchische Geschlechterverhältnis als für die Wertvergesellschaftung konstitutiv kenntlich macht…“ C. P. Ortlieb, Ein Vorwort zur Erinnerung an Robert Kurz, 1943-2012 in: R. Kurz, Der Tod des Kapitalismus, a.a.O., 14. Vgl. auch R. Scholz, Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats, Bad Honnef 2000.

[9] Vgl. Gruppe Krisis, Manifest gegen die Arbeit, http://www.krisis.org ; R. Kurz, N. Trenkle, Die Aufhebung der Arbeit. Ein anderer Blick in das Jenseits des Kapitalismus, aus: R. Kurz, E. Lohoff, N. Trenkle (Hg.), „Feierabend! Elf Attacken gegen die Arbeit“, Hamburg 1999.

[10] „Kritik muss prinzipiell negativ sein, und nur aus der grundsätzlichen Negation heraus kann eine alternative Praxis entstehen.“ (Vgl. Fn 3, a.a.O.) Ob Kurz auf diese Weise auch mit Adorno über Adorno hinaus wollte, muss offen bleiben. Jedenfalls deutet er damit das Prinzip seiner kritischen Kritik an, das ihn nicht nur in der Polemik mit seinen Gegnern antrieb, sondern auch bei der Diskussion mit Genossen in einen permanenten Überbietungswettbewerb führte. Kurz´ „grundsätzliche Negation“ ist stets total. Die „bestimmte Negation“! ebenso wie die dialektische Negation der Negation, die allererst eine wirkliche Bewegung hervorbringt und stets ein Moment der Selbstreflexion und Selbstkritik enthält, ist ihm stets fremd geblieben. In dieser Hinsicht ähnelt die philosophische Position von Kurz sogar der – ansonsten ganz anderen – von Antonio Negri.

[11] Zur „abstrakten Arbeit“ vgl. K. Müller, Historizität und Messbarkeit der abstrakten Arbeit, in Z 107 (September 2016), S. 146-160. Zum Wertbegriff: D. Wolf, Zur Konfusion des Wertbegriffs, Hamburg 2004; zum „automatischen Subjekt“ vgl. M. Sommer, D. Wolf, Automatisches Subjekt, in: dies., Imaginäre Bedeutungen und historische Schranken der Erkenntnis. Eine Kritik an Cornelius Castoriadis, Hamburg 2008.

[12] Vgl. Kapitalismuskritik für das 21. Jahrhundert. Mit Marx über Marx hinaus: Das theoretische Projekt der Gruppe „EXIT!“ Vgl. http://www.exit-online.org/text.php?tabelle=selbstdarstellung.

[13] Ebd. (Hervorh.-WG).

[14] Darunter versteht er die explizit kapitalistischen Gesellschaften des „Westens“ ebenso wie die sich einst selbst als „realsozialistisch“ bezeichnenden Gesellschaften des „Ostens“. Selbst die erst zu Beginn des neuen Jahrhunderts scheinbar hoffnungsvoll gestarteten Projekte eines „Sozialismus für das 21. Jahrhundert“ in Lateinamerika will er davon keineswegs ausnehmen. „Diese ´nostalgischen Revivals der Dritte-Welt-Revolutionsromantik´“ hätten keinerlei „welthistorische gesellschaftliche Eigenperspektive. … Vielmehr handelt es sich bei ihnen um Abfallprodukte der Globalisierung wie das allein von der Explosion des Ölpreises gesponserte vulgärmarxistische Caudillo-Regime von Chavez in Venezuela, das sich mit dem antisemitischen Islamismus verbündet, oder um ethno-populistische Strömungen wie diejenige der mexikanischen Zapatistas, die das gegenstandslos gewordene nationale Entwicklungsprogramm in eine basisdemokratische folkloristische Selbstverwaltung des Elends verwandelt haben.“ Vgl. Fn 6, A.a.O.

[15] Ebenso wie übrigens der gesamten „klassischen“ Arbeiterbewegung.

[16] Eine These, die sich auch auf die Entwicklung des chinesischen Modells anwenden ließe, von Kurz aber allenfalls nebenbei, wie selbstverständlich, vertreten wird. Vgl. dazu etwa R. Kurz, „Der Tod des Kapitalismus“ (Fn 28) wo China umstandslos dem globalen System des Kapitalismus zugeordnet wird.

[17] Vgl. R. Kurz, Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie, Frankfurt/M. 1991.

[18] Vgl. Fn 4.

[19] Das zentrale Merkmal der Dritten industriellen Revolution konnte es dann nur noch [im Vergleich zur ersten und zweiten i.R. – WG] sein, die menschliche Arbeitskraft im industriellen Produktionsprozeß überhaupt überflüssig zu machen, sie durch gesteuerte Automaten und Informationssysteme „wegzurationalisieren“. R. Kurz, Schwarzbuch Kapitalismus (Fn 1), 346; darin insgesamt: Die Geschichte der Dritten industriellen Revolution, a.a.O., 338-437.

[20] „Bleibt die radikale Gegenbewegung aus, ist das Resultat die unaufhaltsame Entzivilisierung der Welt, wie sie jetzt schon überall sichtbar wird.“ A.a.O., 443f. Vgl. ausführlicher: Die Dämonen erwachen, 427-437.

[21] Alles: Epilog, in: a.a.O., 438f. Es ist einigermaßen grotesk zu lesen, dass Kurz, der nicht müde wird, den Fetischcharakter der Warenwelt und der ihr entsprechenden Kategorien zu betonen, nunmehr zu glauben scheint, die dadurch objektiv verursachte „verkehrte“ Wahrnehmung der Welt stattdessen auf die „Gehirnwäsche“ durch den Liberalismus zurückführen zu können.

[22] A.a.O., 441.

[23] Ebd.

[24] Etwas ausführlicher, aber kaum weniger ‚romantisch’ die Ausführungen von Kurz (gemeinsam mit Norbert Trenkle) zu „Von der Enteignung zur Aneignung“ und „Elemente einer Aneignungsbewegung“ in: dies., Die Aufhebung der Arbeit. Ein anderer Blick in das Jenseits des Kapitalismus, (Fn 9) a.a.O.

[25] „Die Weltkrise der Dritten industriellen Revolution trifft auf kein emanzipatorisches Projekt mehr, das als gesellschaftliche Alternative mobilisierbar wäre.“ A.a.O., 427. „Es ist fast müßig, sich die Frage zu stellen, auf welche Weise eine neue radikale Kapitalismuskritik ... zur gesellschaftlichen Massenbewegung werden kann. Denn das ist eine Frage, die nur durch die Tat zu entscheiden ist.“ A.a.O., 441.

[26] A.a.O., 444.

[27] D.h. der hegelianischen Idee, wonach die Wirklichkeit dem Begriff zu folgen habe, und nicht etwa umgekehrt.

[28] R. Kurz, Das Weltkapital, a.a.O., 8.

[29] Vgl. R. Kurz, Weltordnungskrieg. (Fn 4).

[30] Vgl. zur Kritik an Wallerstein R. Kurz, Weltkapital …, 35-80.

[31] R. Kurz, Geld ohne Wert, (Fn 4) Um Missverständnisse zu vermeiden sei hier vermerkt, dass auch die beiden zuletzt genannten Arbeiten von Kurz neben dogmatischen Wiederholungen und z.T. wenig überzeugenden Polemiken gegen vermeintliche Konkurrenten auch eine Vielzahl interessanter historischer Details und Interpretationen enthalten, die durchaus lesenswert und diskussionswürdig sind.

[32] A.a.O., 362f.

[33] Gut zwölf Jahre nach dem Erscheinen des „Schwarzbuchs“ und vier Jahre nach dem Ausbruch der größten Krise des Kapitalismus seit 1929 fiel Kurz zur Frage des Subjekts der Überwindung des Kapitalismus resp. der Warenproduktion, der Kämpfe und der Programmatik des Übergangs zu einer neuen Gesellschaftsformation substanziell immer noch nicht mehr ein als er dort formuliert hatte. (Vgl. oben, S. 4f.) Wie sehr er sich der Dürftigkeit seiner Argumentation wenigstens halbwegs bewusst war, zeigt der schon fast verzweifelt anmutende Versuch, sich gegen seine Kritiker in dieser Frage zu verteidigen. Vgl. die posthum erschienenen Fragmente „Krise und Kritik“ in: Exit, Nr. 10 (Teil I) 26-61, Nr. 11 (Teil II) 64-111.

[34] M. van der Linden/K. H. Roth (Hg.), Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, 2. Aufl., Berlin/Hamburg 2011, 557. Die Autoren greifen hier auf eine polemische Schrift von E. P. Thompson zurück (vgl. ders., Das Elend der Theorie: Zur Produktion geschichtlicher Erfahrung, Frankfurt/M., New York 1980.) Thompsons Kritik richtete sich vor allem gegen bestimmte zeitgenössische linke Strömungen wie den „Althusserianismus“, aber auch gegen die „Frankfurter Schule“. „Ob Frankfurter Schule oder Althusser, sie sind geprägt durch die sehr starke Betonung, die sie auf den unentrinnbaren Druck ideologischer Herrschaftsformen legen, auf eine Herrschaftsform, die jeglichen Raum für Initiative und Kreativität der Masse der Menschen zerstört, eine Herrschaft, von der sich nur eine aufgeklärte Minderheit von Intellektuellen freikämpfen kann.“

[35] K. H. Roth/Z. Papadimitriou, Die Katastrophe verhindern. Manifest für ein egalitäres Europa, Hamburg 2013.

[36] Darunter Texte zur Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, zum deutschen und internationalen Faschismus u.a. Themen, auf die hier nicht eingegangen werden kann.

[37] Mitbegründer der ehemaligen, an italienische (operaistische) und an deutsch-anarchistische Vorbilder anknüpfenden und schließlich nach inneren Streitigkeiten (vgl. Wildcat Nr. 39, 1986, 37-41) eingestellten Zeitschrift „Autonomie“ (Neue Folge). Vgl. Frombeloff (Hg.) … und es begann die Zeit der Autonomie. Politische Texte von Karl Heinz Roth, Hamburg 1993; Spätere Zeitschriften: Von 1997 bis 2002: „1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts“; von 2002 bis 2009: „Sozial.Geschichte – Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts“; seit 2009: „Sozial.Geschichte Online“ (mit wechselnden Redaktionen).

[38] K. H. Roth, Der Zustand der Welt. Gegen-Perspektiven, Hamburg 2005, 12f.

[39] Für Roth galt Kurz schon in den frühen 1990er Jahren als „eschatologische(r) Manichäer“, mit dem nicht zu diskutieren sei, weil „am Ende nicht mehr herauskommen würde als eine intellektuell-schaukämpferische Selbstinszenierung ohne jeglichen politischen Gebrauchswert …“. Vgl. K. H. Roth (Hg.), Die Wiederkehr der Proletarität. Dokumentation der Debatte, Köln 1994, Vorwort, 7.

[40] K. H. Roth, Die ‚andere’ Arbeiterbewegung und die Entwicklung der kapitalistischen Repression von 1880 bis zur Gegenwart. Ein Beitrag zum Neuverständnis der Klassengeschichte in Deutschland, München 1974. Diese frühe Arbeit von Roth ist noch weitgehend geprägt von dem Ultraradikalismus jener Jahre. „Die bundesrepublikanische Klassengesellschaft lebt in einem permanenten Belagerungszustand. Schwerpunkt des Belagerungszustands ist die Fabrik.“ A.a.O., 263. Dabei beziehen sich die konkreten Beispiele, die Roth heranzieht, soweit sie über Disziplinarmaßnahmen, Stechuhren usw. hinausreichen, vor allem auf Frankreich und Italien, wo zu jener Zeit in vielen Fabriken tatsächlich gewaltförmige Auseinandersetzungen zwischen militanten Belegschaften und Polizei und Werkschutz stattfanden. Verdienstvoll an dieser Publikation ist der umfangreiche dokumentarische Anhang und die ‚kommentierte Kurzbibliographie’. A.a.O., 269-393.

[41] Und das sind nach Roth, zumindest in den kapitalistischen Zentren, schon seit mehreren Jahrzehnten nahezu alle traditionellen – darunter auch die einst sich selbst als revolutionär verstehenden – Organisationen der Arbeiter(klasse).

[42] M. van der Linden, K. H. Roth (Hg.), Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, 2. Aufl., Berlin/Hamburg 2011.

[43] Wie oben gezeigt, ist dies allerdings eher die Position von Robert Kurz als die von Marx.

[44] Den Marx in einem Brief an Engels vom 2. April 1858 angekündigt hatte (MEW 29, 312). Vgl. dagegen: W. Jahn, Ist das „Kapital“ ein Torso? Über Sinn und Unsinn einer Rekonstruktion des „6-Bücher-Plans“ von Karl Marx, in: Zur Kritik der politischen Ökonomie – 125 Jahre „Das Kapital“, hg. von W. Goldschmidt, DIALEKTIK, H. 3, 1992, 127-138. Neuerdings: R. Hecker, R. Sperl, C.-E. Vollgraf (Hg.), Marx’ Sechs-Bücher-Plan. Eine Debatte. Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge, Hamburg 2016.

[45] So jedenfalls R. Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital’, Bd. I, Frankfurt/Wien 1968, 79-85. Dazu kritisch W. Jahn, a.a.O. 127-129.

[46] Vgl. dazu T. Kuczynskis Kritik an Marx’ Begriff der ‚Ware Arbeitskraft’, ders., Was wird auf dem Arbeitsmarkt verkauft?, in: van der Linden/Roth (Fn 2), 383-377.

[47] A.a.O., 24. Zu den „Defiziten“ der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie aus der Sicht der Autoren [d.h. hier wohl nicht nur der Hg. – WG], vgl. 566-581. Die hier angedeutete Kritik an der „Marxschen Werttheorie“ hat offensichtlich ganz andere (empirische) Gründe als die bei Negri oder Kurz – darauf kann hier nur hingewiesen werden.

[48] A.a.O., 28.

[49] „All diejenigen Menschen, die sich im widerständigen Prozess der Enteignung, der disziplinarischen Zurichtung und der Entäußerung sowie Verwertung ihres Arbeitsvermögens befinden, konstituieren das globale Proletariat, das Multiversum der Ausgebeuteten. Diejenigen von ihnen, die sich dabei im Prozess der widerständigen Ausbeutung und Verwertung ihres Arbeitsvermögens befinden, bilden die arbeitenden Klassen des Multiversums oder die Weltarbeiterklasse. Bei dieser Definition ist stets mitzubedenken, dass auch reproduktive Tätigkeiten unter den Arbeitsbegriff fallen“. A.a.O. 592. Zur Entstehungsgeschichte des „Multiversums“ vgl. 560-566.

[50] Zur diesbezüglichen „Kritik an der Marxorthodoxie und am Post-Operaismus“ vgl. a.a.O., 569-578.

[51] Vgl. K. H. Roth, Der Zustand der Welt. Gegen-Perspektiven, 62-81.

[52] Vgl. K. H. Roth, Hypothek oder Vermächtnis?. Kritische Bemerkungen über das Marxsche Transformationsprogramm als Kern unserer revolutionstheoretischen Traditionsbestände, in: ders. (Hg), Wiederkehr der Proletarität … (vgl. Fn 30), 264-274. Vgl. auch (zwölf Jahre später): Marx testen: Die Dringlichkeit einer neuen Theoriedebatte, in: K. H. Roth, Der Zustand der Welt. Gegen-Perspektiven, Hamburg 2005, 46-61.

[53] Vgl. K. H. Roth, Die globale Krise. (Band 1 des Projekts „Globale Krise – Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven“), Hamburg 2009, Vorwort, 12.f.

[54] Vgl. etwa die Publikation der Debatte um Roths These von der Wiederkehr der Proletarität in den kapitalistischen Zentren seit den 1980er Jahren, in: K. H. Roth (Hg.) … (Fn 30). Hierzu auch den Bericht von B. Hüttner in: Z 21 (März 1995), 225-230.

[55] Vgl. Fn 45, hier: 9, 12.

[56] Von größerem – auch theoretischem – Interesse ist hingegen Roths Versuch, in einem zweiten Teil (a.a.O., 152-243) die Krise 2007ff. als Schlussphase eines großen sozial-ökonomischen Zyklus zu deuten, „der 1966/67 mit weltweit vernetzten Arbeiter- und Sozialrevolten begann und in den Jahren 2006/2007 nach dem Auslaufen der letzten spekulativen Boomphase endete“. Roth versucht dabei die klassische ökonomische „Theorie der langen Wellen“ (Kondratieff/Schumpeter) aus operaistischer Perspektive neu zu deuten und dabei auch soziokulturelle Momente wie Generationenwechsel, Konsum- und Lebensweise u.a. einzubeziehen. „Mit dem Konzept des doppelten Generationswechsels und des damit verbundenen Wandels der Lebensstile verfügen wir über den wohl bedeutendsten endogenen [!?-WG] Faktor zur Erklärung der langen Welle von 1966/67 bis 2006/2007.“ (A.a.O., 152). Tatsächlich gelingen Roth dabei u.a. einige bemerkenswerte Einsichten in das eigentümliche Beziehungsgeflecht zwischen der „kulturellen Revolution“ der 68er-Generation und den neoliberalen bzw. post-fordistischen Versuchen zur Mobilisierung der Subjektivitätsreserven (Bildung, „Selbstverwirklichung“ etc.) der qualifizierteren Teile der Arbeitskräfte im Interesse der Kapitalverwertung. Eine entscheidende Rolle bei dieser Umdeutung „moralischer Werte“ spielte nach Roth die Niederschlagung der Arbeiterkämpfe – vor allem in Italien, aber auch die weitgehende Zerschlagung der britischen Gewerkschaften u.a. – in den späten 70er und frühen 80er Jahren. Dieser Teil des Textes verdiente eine gründlichere Auseinandersetzung, die hier, wo es vor allem um die Alternativen geht, nicht vorgenommen werden kann.

[57] Vgl. dazu die Themen des angekündigten Bd. 2: Das Multiversum: Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven in: A.a.O., 334-335.

[58] Vgl. Fn 34.

[59] A.a.O., 80-126

[60] A.a.O., 5.

[61] Das Dokument existiert in einer Lang- und einer Kurzfassung, letztere erhielt die hier in Klammern gesetzte Ergänzung des Titels. Vgl. www.egalitarian-europe.com/wb/pages/de/willkommen.php.

[62] Vgl. „Das Diktat der neomerkantilistischen Kernzone und die Unterwerfung der Peripherie unter die Austeritätsprogramme“. A.a.O., 36-40.

[63] Rechte Demagogen „spielen das alte Spiel des Faschismus: Sie greifen die soziale Frage auf und leiten sie in die Kanäle einer hyper-nationalistischen Ethnopolitik weiter.“ A.a.O., 10f.

[64] Alle Zitate a.a.O., 83-86.

[65] A.a.O., 102, 94. Das Konzept „revolutionärer Strukturreformen“ ist weniger neu als die Autoren suggerieren. Eine ähnliche Strategie propagierte André Gorz bereits vor 40 Jahren, als die Klassenkämpfe in Westeuropa ihrem Nachkriegshöhepunkt zustrebten und eine schrittweise und gewaltlose sozialistische Transformation, zumindest in Italien oder Frankreich, keineswegs unrealistisch schien. Vgl. A. Gorz, Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus. Frankfurt 1967. Die gewaltsame Zerschlagung eines ähnlichen Projekts in Chile beendete wenige Jahre später (1973) für Viele auch in Westeuropa die Hoffnungen auf den Erfolg einer solchen Strategie.

[66] Dies gilt vor allem im Unterschied zu scheinbar ähnlichen Konzepten wie etwa dem von Yanis Varoufakis initiierten „Manifest für die Demokratisierung Europas“ (Democracy in Europe Movement 2025, DiEM 25) Vgl. https://diem25.org/manifesto-lange-version/, das sich wesentlich bescheidenere, jedenfalls keine kapitalismustranszendierenden Ziele setzt. Vgl. auch E. Balibar, Europa: Krise und Ende?, Münster 2016 und die Rezension von J. Reitzig, Krisenperspektiven für Europa, in: Z 108 (Dezember 2016), 225-227; K. Busch u.a., Europa geht auch solidarisch! Streitschrift für eine andere Europäische Union, Hamburg 2016. Zur kontroversen Diskussion europäischer Linksparteien vgl. K. Dräger, Die Europäische Linke nach dem Kampf um Griechenland: Plan A, Plan B, Plan C?, in: Z 104 (Dezember 2015), 38-49. Vgl. auch: „Gemeinsame transform! Erklärung. Einen alternativen Plan für Europa verfolgen!“ http://www.transform-network.net/de/blog/blog-2016/news/detail/Blog/tracing-an-alternative-plan-for-europe.html (Februar 2016) und K. Dräger, „Linker Aufbruch in Europa?“ Eine nüchterne Zwischenbilanz, in: Z 106 (Juni 2016), 32-42.

[67] Wie tief die „Demoralisierung“ bei den „sozialen Unterschichten“ (von den Mittelschichten ganz zu schweigen) in einzelnen Ländern Europas inzwischen fortgeschritten ist, zeugt am Beispiel Frankreichs eindrücklich D. Eribon, Die Rückkehr nach Reims, Berlin 2016.

[68] R/P, Manifest …, a.a.O., 115, 117f.