Weltwirtschaft, G20 und die Nationalstaaten

Wie nationalistisch ist der Nationalstaat?

von Peter Wahl
Dezember 2017

Das Diskursfeld Nation-Nationalstaat-Nationalismus und verwandte Begriffe wie Souveränität, Identität und Heimat haben in den aktuellen politischen Auseinandersetzungen dramatisch an Bedeutung gewonnen. Sie spielen eine große Rolle bei der allfälligen Rechtsentwicklung in den Industrieländern, sie sind eine wesentliche Komponente in den europapolitischen Kontroversen und beim Brexit, und sie sind natürlich zentral in den Konflikten um Katalonien, Kurdistan und anderen Hotspots nationaler Unabhängigkeitsbestrebungen.

Die europäische Linke ist davon ziemlich überrascht worden. Zudem sind neue Konflikte und Spaltungslinien entstanden. So gehört z.B. die Candidatura d’Unitat Popular (Kandidatur der Volkseinheit, CUP), eine katalonische Partei mit links-alternativen, sozialistischen und anarchistischen Strömungen, zu den vehementesten Verfechtern eines unabhängigen Kataloniens, während Podemos und andere spanische Linke eine Unabhängigkeit ablehnen. Ähnlich gegensätzlich fällt die Bewertung des Konflikts in der europäischen Linken aus. Für die deutsche Linke ist das Thema vor dem Hintergrund der Geschichte von zusätzlicher Brisanz. Alles was zu dem Diskursfeld zählt, gilt durch die NS-Vergangenheit als kontaminiert. Ein anti-nationaler Konsens reicht weit über die Linke hinaus in Politik und Medien. Das Narrativ von der „postkolonialen Konstellation,“ das Habermas vor zwanzig Jahren formulierte[1], oder die These von Negri und Hardt vom „Empire[2] haben in Deutschland besonders großen Anklang gefunden. Für die meisten Linken schien das Thema abgeschlossen und alles klar zu sein.

Allerdings wird das Problem dadurch nicht verschwinden. Im Gegenteil, es ist nämlich verknüpft mit grundlegenden gesellschaftlichen Prozessen wie der Globalisierung, der neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der EU und der meisten ihrer Mitgliedsländer, der Krise der repräsentativen Demokratie und mit globalen Problemlagen wie der zunehmenden Instabilität des internationalen Systems, Flucht und Migration etc. Emanzipatorische Alternativen werden nur unter Berücksichtigung dieses Kontextes entwickelt werden können.

In die Sackgasse führte es dagegen, sich einfach dem Zeitgeist anzupassen, wie dies jetzt schon im konservativen Lager und bis zu den Grünen sichtbar wird. So erklärte Katrin Göring-Eckardt nach der Bundestagswahl: „Wir lieben dieses Land. Es ist unsere Heimat. Diese Heimat spaltet man nicht.[3] Abgesehen von der Anschlussfähigkeit an fatale Sätze wie „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“, ist bemerkenswert, wie der Begriff Heimat – ursprünglich auf regionale Lebenswelten bezogen – umstandslos mit dem Nationalstaat Deutschland gleichgesetzt wird.

Leider findet sich das unsaubere Sprechen und Denken auch in so manchen linken Statements. Nation, Nationalismus, Nationalstaat – alles verschwimmt in einer gedankentrüben Nacht, in der alle Katzen grau werden. Kritisches Denken muss aber differenzieren. Kritik kommt von krínein, griechisch: trennen, scheiden, unterscheiden. In diesem Sinn will dieser Text das Diskursfeld Nation etwas näher beleuchten – in der Hoffnung, damit zu einer Versachlichung der Diskussion innerhalb der Linken beitragen zu können.

1. Die Nation

Dass es eine linke Skepsis gegenüber allem gibt, was mit der sprachlichen Wurzel natio in Zusammenhang steht, ist plausibel. Bedeutet das lateinische Wort doch „Geburt“ – also einen naturhaften, biologischen Vorgang. Naive Vorstellungen und rechte Denktraditionen definieren deshalb Nation schon immer als biologisches und natürliches Kollektiv. Sie glauben die Nation, durch „Blutsbande“ begründet, völkisch. Das nationale Kollektiv erscheint dann quasi als Erweiterung der biologischen Familie, der Sippe und des Stammes. Das ist natürlich eine Mystifikation. Tatsächlich sind Nationen und Nationalstaaten kein natürliches Phänomen. Sie sind historisch entstanden, haben sich historisch verändert und verändern sich auch in Zukunft.

Zunächst zum Begriff der Nation: Er lässt sich definieren als die Verdichtung kommunikativer Prozesse und kultureller Gemeinsamkeiten einer größeren Menschengruppe oder eines gesellschaftlichen Großkollektivs, in der Regel mit einer gemeinsamen Sprache, kollektiven historischen Erfahrungen und einer entsprechenden Selbstwahrnehmung und Selbstdeutung, als kollektive Identität.[4]

Diese Selbstdeutung wird mehr oder weniger auch beeinflusst durch Fremdzuschreibungen und Fremdeinwirkung. Wird z.B. eine Nation diskriminiert oder unterdrückt, wird dies auch die Selbstwahrnehmung prägen. Aktuelles Beispiel ist die katalonische Unabhängigkeitsbewegung. Ein immer wiederkehrender Topos ihres Selbstverständnisses ist der Verweis auf die Repression durch die spanische Zentralgewalt seit dem Bürgerkrieg 1936, darunter das Verbot der katalanischen Sprache unter der Franco-Diktatur.[5]

Eine Nation kann ohne eigenen Staat oder über mehrere Staaten verteilt existieren. Nationen ohne eigenen Staat sind nicht nur die Katalanen, sondern auch die Schotten, die Palästinenser oder die Kurden. Über mehrere Staaten verteilt leben die Kurden, nämlich in der Türkei, dem Iran, dem Irak und Syrien, oder die Basken, die sich auf Spanien und Frankreich aufteilen. Dort wo Nation und Nationalstaat territorial nicht kongruent sind, kam und kommt es sehr häufig zu Konflikten, die oft in blutige Kriege oder Bürgerkriege münden. Die Beispiele, wo solche Konflikte friedlich und zivilisiert gelöst wurden, sind weitaus seltener. Dazu gehören z.B. das Referendum an der Saar 1955, in dessen Folge das Saarland an die Bundesrepublik fiel, oder die Referenden in Schottland 2014 und im frankokanadischen Quebec 1995. Bei den beiden letzteren erhielten die Unabhängigkeitsbefürworter keine Mehrheit.

1.1. Der Nationalstaat

Schafft eine Nation sich eigene Staatlichkeit, entsteht ein Nationalstaat. Nation und Nationalstaat sind also nicht das Gleiche. Durch die staatliche Organisation erreicht die Vergesellschaftung, die o.g. kommunikative und kulturelle Verdichtung, eine neue Qualität. Jetzt verstärken staatliche Institutionen, Gesetze und Regeln eine materielle Infrastruktur, exakt markierte Außengrenzen sowie eine integrierte Volkswirtschaft die Kohäsion der Nation. Die Herausbildung von nationaler Staatlichkeit ist allerdings nicht einfach nur die Selbstorganisation von Gesellschaft, sondern vollzieht sich immer herrschaftsförmig. Solange es sich um Klassengesellschaften handelt, haben die dominanten Klassen immer überproportionalen, mitunter gar exklusiven Einfluss auf die Gestaltung des Nationalstaates.

Die Selbstwahrnehmung als eigenständige Gemeinschaft wird durch Symbole, durch Fahnen, Hymnen, einen Gründungsmythos und eine nationale Erzählung zielgerichtet gefördert und verstärkt. In der Regel wird diese aktive Verfestigung nationaler Identität aus linker Sicht kritisch gesehen – oft zu Recht. Schließlich handelt es sich dabei meist um Versuche, Denken und Verhalten der Individuen wie der sozialen Klassen und Schichten und ihrer Organisationen zugunsten der herrschenden Interessen von oben zu beeinflussen und zu formen.

Allerdings liegen die Dinge nicht immer so einfach. So ist z.B. das Interesse, die Nazivergangenheit kritisch im kollektiven Bewusstsein der Deutschen zu halten, also Geschichtspolitik zu betreiben, im Grundsatz durchaus emanzipatorisch. Dazu sind staatliche Maßnahmen im Erziehungssystem, in Politik und Kultur notwendig und legitim. Insofern sind Fragen kollektiver Identität im Nationalstaat immer umkämpftes Terrain in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung.

Mit der Entfaltung des Kapitalismus wurde der Nationalstaat weltweit zum dominierenden Modell der Vergesellschaftung. Gegenüber den Feudalregimen und multinationalen Imperien erwies sich der Nationalstaat als der effizientere Rahmen für die kapitalistische Akkumulation.

Die ersten modernen Nationalstaaten waren Frankreich und England. Im 19. Jahrhundert setzte dann eine Welle von Neugründungen ein, darunter Deutschland und Italien. Ein wichtiger Katalysator dabei war der Kampf gegen die Fremdherrschaft durch Imperien, wie das napoleonische Kaiserreich, Österreich-Ungarn oder das zaristische Russland. Die nationalen Bestrebungen waren oft mit demokratischen Kämpfen amalgamiert, so z.B. in Deutschland. Die demokratische Strömung erlitt allerdings in der Revolution 1848 eine vernichtende Niederlage, und der reaktionäre Teil setzte sich durch. Das sollte die deutsche Geschichte enorm beeinflussen, bis hin zu den beiden Weltkriegen.

Programmatisch wurde die Etablierung der Nationalstaaten mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker formuliert, deren prominentesten Vertreter zu Beginn des 20. Jahrhunderts US-Präsident Wilson und Lenin waren. Mit Ende des Ersten Weltkrieges entstanden wiederum zahlreiche Nationalstaaten, vor allem aus der Konkursmasse Österreich-Ungarns, des osmanischen Reichs und des zaristischen Russlands, darunter Polen, Finnland, die Tschechoslowakei und Jugoslawien.

In dieser Epoche entstand übrigens als spezieller Fall auch die zionistische Bewegung, deren Ziel es war, den Juden Schutz vor Antisemitismus und Pogromen durch die Schaffung eines eigenen Staates zu bieten. Das führte dann 1948 zur Gründung Israels. Hier wird die Schutzfunktion sehr deutlich, die Nationalstaaten unter bestimmten Umständen annehmen können. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es im Zuge der Entkolonialisierung zu einer weiteren Welle der Bildung von Nationalstaaten, die sich mit der Entkolonialisierung Afrikas bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts zog.

Die Linke in Westeuropa und Nordamerika hat diesen Prozess in z.T. politisch einflussreichen Solidaritätsbewegungen begleitet, darunter auch die deutsche Linke. Ein interessanter Aspekt dabei ist, dass sie es nicht als Widerspruch empfand, unter dem Vorzeichen Internationale Solidarität nationale Befreiungsbewegungen zu unterstützen, aber gleichzeitig für das eigene Gemeinwesen eine dezidiert anti-nationale Haltung einzunehmen.

Wenn man einmal Gedankenlosigkeit ausschließt, impliziert dies, dass das Thema Nation und Nationalstaat nicht essentialistisch, unhistorisch oder von einem prinzipiell moralischen Standpunkt aus gesehen wurde. Offenbar kamen andere Momente dazu. So z.B. die Positionierung eines nationalen Befreiungskampfes im internationalen System, und hier wiederum meist im Verhältnis zur Supermacht USA und ihren Verbündeten, darunter die Bundesrepublik. Indem die Unterstützung für nationale Unabhängigkeit z.T. explizit als Anti-Imperialismus formuliert, z.T. in eher diffusen und moralisch motivierten Kategorien, wie etwa des Kampfes zwischen David und Goliath, wahrgenommen wurde, konnte der Widerspruch zur eigenen anti-nationalen Einstellung aufgelöst werden.

Als zentrale Einsicht kann man daraus den Schluss ziehen, dass die Verabsolutierung des Gegensatzpaares national-international, wie sie in der aktuellen linken Debatte häufig vorkommt, in eine reduktionistische Sackgasse führt. Beide sind in der Realität immer mit sozialen, Herrschafts- und Klassenfragen verbunden; sie stehen in unterschiedlichen historischen Kontexten und haben verschiedene geopolitische Dimensionen. All dies kann die Bewertung einer konkreten nationalen Unabhängigkeitsbewegung modifizieren. Und das tut es nicht nur bei der Linken, sondern auch in den anderen politischen Lagern. So ist für den politischen Mainstream die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo „gut.“ Wenn die russische Bevölkerung der Krim das Gleiche tut, ist es „böse.“ Mitunter variiert das am gleichen Fall innerhalb kurzer Zeit. Das schottische Referendum 2014 wurde als nationalistisch bornierte Kleinstaaterei abqualifiziert. Nach dem Brexit, den die Mehrheit der Schotten ablehnte, waren sie plötzlich gute Europäer.

1.2. Die Ambivalenz des Nationalstaats

Indem ein Großkollektiv sich als Nation konstituiert, konstruiert es zugleich den Unterschied zwischen Innen und Außen, Wir und die Anderen, zwischen Eigenem und Fremdem. Das ist unvermeidlich und geschieht in allen Kollektiven, auch harmlosen wie einer Schulklasse oder Fußballmannschaft. Es zeigt aber zugleich die Ambivalenz, die in dieser Differenz von Anfang an angelegt ist. So ist in allen Kollektiven latent die Tendenz enthalten, nach innen Konformismus zu erzeugen, der sich zu Repression steigern kann, und nach außen Abwehr, die zu Abwehr des Fremden und Aggressivität gegen Außenstehende werden kann. Allerdings ist das kein Automatismus. Man muss sich davor hüten, die deutschen Erfahrungen zum allgemeingültigen Modell für alle zu erklären. Das kann leicht in die Relativierung der Verbrechen des deutschen Nationalstaates umkippen.

Es kommt hinzu, dass man in einen Nationalstaat hineingeboren wird, das heißt die Staatsbürgerschaft ist ein Zufall und hat Zwangscharakter, dem sich niemand entziehen kann, ganz im Unterschied zur Zugehörigkeit zu einer Partei oder zum Fan-Club FC St. Pauli. In dieser Hinsicht ähnelt die Nation einem anderen wichtigen Großkollektiv: der Klasse oder sozialen Schicht, in die man hineingeboren wird. Im Lichte all dessen wird deutlich, dass der Nationalstaat nicht einfach einen neutralen Rahmen für Vergesellschaftung abgibt. Allerdings hat er auch noch andere Seiten. Mit der bürgerlichen Revolution entstand eine enge Verknüpfung von Nationalstaat und der aus ihr hervorgegangenen bürgerlichen Demokratie. Deren Grundregeln und Institutionen sind auf den Nationalstaat, insbesondere auf sein Territorialprinzip, die Staatsbürgerschaft und das staatliche Gewaltmonopol gegründet. Bisher gibt es keine funktionierende Demokratie jenseits des Nationalstaates. Gerade die EU mit ihren euphemistisch als Demokratiedefizit bezeichneten Strukturen ist der beste Beleg dafür. Das bedeutet natürlich nicht, dass jeder Nationalstaat automatisch demokratisch ist. Er ist bisher eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für Demokratie.

Ähnliches gilt für den Sozialstaat. Auch er war bisher nur im Rahmen des Nationalstaates möglich. Auch hier wird eine Schutzfunktion deutlich, nämlich für die sozial verwundbaren Gruppen der Gesellschaft. Unter dem Druck der neoliberalen Globalisierung erodiert diese Schutzfunktion. Hier liegt einer der wichtigsten Gründe dafür, dass ein beträchtlicher Teil dieser Schichten nationalistischen Parteien wählen. Auch die EU hat, anders als von der Linken erhofft, gerade nicht einen Schirm gegen die neoliberale Globalisierung aufgespannt. Im Gegenteil, sie wollte im globalen Standortwettbewerb „die wettbewerbsstärkste Region der Welt“ (Lissabon-Agenda) werden.

Last but not least ist der Nationalstaat auch das grundlegende Subjekt des Völkerrechts. Gerade angesichts der zunehmenden Tendenzen zu dessen Aushöhlung durch neo-imperialistischen Interventionismus muss emanzipatorische Politik dessen Einhaltung immer wieder einfordern.

1.3. Nationalstaat, Transnationalisierung und Globalisierung

Im Zuge der Globalisierungsdebatte wird gern die o.g. These von einer „postnationalen Konstellation“ (Habermas) vertreten, oder eine als „Empire“ vorgestellte transnationale Weltgesellschaft (Hardt/Negri) behauptet. Demnach sei der Nationalstaat obsolet.

Wie so oft ist etwas dran an der Sache. Aber das wird in einer Weise verallgemeinert und überzogen, dass es am Ende ins Ideologische kippt. Richtig ist, dass die Transnationalisierung[6] der Finanzmärkte, dass transnationale Konzerne und technologische Innovationen wie das Internet die Grenzen der Nationalstaaten durchlöchert haben. Der Prozess wird durch multilaterale Institutionen – IWF, Weltbank, WTO etc. – sowie Freihandelsabkommen institutionell flankiert und beschleunigt. Das war keine Naturgewalt, sondern von den Eliten gewollt. Richtig ist, dass damit die politische Regulierung von Banken und Konzernen schwieriger wird, was ja wiederum durchaus von den Neoliberalen so gewollt ist. Durch die Globalisierung ist es tatsächlich zu einem gewissen Steuerungsverlust des Nationalstaates gekommen. Allerdings gilt das nicht für alle in gleicher Weise. Die USA haben ihre Konzerne durchaus im Griff, wenn es darauf ankommt. Das gilt für Banken ebenso wie für die digitale Industrie, wie Google und Facebook, die sich anstandslos dem NSA unterwerfen müssen, wenn es von ihnen verlangt wird. Und wenn es sein muss, werden sogar Unternehmen anderer Länder an die Kandare genommen. So haben die USA die Abschaffung des Schweizer Bankgeheimnisses durchgesetzt. In der Sanktionspolitik gegenüber Kuba, dem Iran und Russland kommen immer wieder US-Gesetze gegen nicht-amerikanische Unternehmen zur Geltung. Es gibt also eine Hierarchie im Ausmaß des Kontrollverlusts des Nationalstaates. Die USA oder China spielen in einer anderen Liga als der Tschad oder die Mongolei. Die Rede von der Überholtheit des Nationalstaates ist eine unzulässige Verallgemeinerung.

Der Nationalstaat bleibt noch auf sehr lange Zeit das bestimmende Strukturelement des internationalen Systems. Man kann das beklagen, aber man kann es nicht leugnen und muss es in einer politischen Strategie in Rechnung stellen. Auch wenn man der Vision einer Welt ohne Grenzen anhängt, ist der Nationalstaat derzeit die nach wie vor wichtigste Handlungsbasis sowie die entscheidende Arena der politischen Auseinandersetzung. Deutschland ist als viertgrößte Wirtschaftsmacht und mit seinen 80 Millionen Einwohnern unter den 195 Nationalstaaten des Planeten sogar ein ziemlich großer. Das festzustellen hat mit Nationalismus nichts zu tun.

1.4. Souveränität

Teil des Diskursfeldes Nation und Nationalstaat ist der Begriff Souveränität. Meist versteht die deutsche Linke das Konzept entweder in seiner reaktionären Variante – wie sie Carl Schmitt im 20. Jahrhundert formuliert hat, wonach souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt – oder nur in seiner außenpolitischen Dimension, nämlich als völkerrechtliche Souveränität mit dem Verbot der Einmischung in die inneren Verhältnisse anderer Staaten. Das Insistieren auf Souveränität wird dann gern in einen Topf mit Nationalismus geworfen.

In die politische Theorie wurde der Begriff im 17. Jahrhundert durch den französischen Staatstheoretiker Jean Bodin eingeführt und diente der Legitimation der absolutistischen Herrschaft. In bewusstem Gegensatz dazu hat Rousseau den Begriff der Volkssouveränität als demokratische Selbstbestimmung des Volkes formuliert. Volk ist hier identisch mit den Staatsbürgern und hat nichts mit dem völkischen Verständnis zu tun, wie in der Tradition der deutschen Rechten. Viele Linke außerhalb Deutschlands beziehen sich auf diesen demokratischen Souveränitätsbegriff.[7]

Aber auch der völkerrechtliche Souveränitätsbegriff hat eine emanzipatorische Dimension. Er spielte als Recht auf nationale Selbstbestimmung eine entscheidende Rolle bei der Entkolonialisierung und ist auch heute noch angesichts neo-imperialistischer Druckausübung oder gar Intervention als Schutzmechanismus höchst relevant. Die Geringschätzung völkerrechtlicher und demokratischer Souveränität, wie sie in Kolonialismus und Imperialismus üblich war, findet heute ihre Fortsetzung in der Unterwerfung Griechenlands oder in der Doktrin von der Responsability to Protect, d.h. der Intervention – politisch, durch ökonomischen Druck bis hin bis zum Angriffskrieg – unter dem Vorwand, Menschenrechte und Demokratie zu schützen. Die Effekte kann man z.B. in Libyen, im Irak und Syrien besichtigen.

2. Patriotismus, Nationalismus

Die Verdichtung der Kommunikation innerhalb des Nationalstaats und der Homogenisierungsdruck durch gemeinsame Geschichte, Alltagstraditionen, Gesetze und das politische und ökonomische System etc. erzeugen eine nationale Identität. Diese Identität ist eine Mischung aus Partikeln gesellschaftlicher Realität, Klischees, Ressentiments und Mythen, was den Individuen nicht unbedingt bewusst sein muss.

Letztlich liegt der kollektiven Identitätsbildung ein grundlegendes Bedürfnis zugrunde. Der Homo Sapiens ist ein Gemeinschaftswesen und kann nicht isoliert von einem Kollektiv existieren. Gemeinschaftsbildung ist daher immer auch identitätsstiftend. Auch Linke identifizieren sich deshalb mit großen Kollektiven: der Klasse, der Partei, einer sozialen Bewegung – oder dem FC St. Pauli. Völlig entziehen kann sich ein Individuum kollektiven Identitäten nicht, auch nicht nationaler Identität. Das gilt auch für politisch links stehende Individuen. Auch sie werden in ihren jeweiligen nationalen Zusammenhang hineingeboren und darin sozialisiert. Auch für sie gilt die Grundeinsicht des philosophischen Materialismus, wie sie Marx in seiner sechsten Feuerbachthese formuliert hat: das Wesen des Menschen ist „das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“[8] So ist selbst das Ignorieren oder die vehemente und ihrerseits hoch-affektive Abgrenzung vom nationalen Kollektiv, wie sie bei den sog. Antideutschen gepflegt wird, typisch deutsch und nur vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte verständlich. Kollektive Identität muss kein widerspruchsfreies, homogenes Ganzes bilden, sondern kann gesellschaftliche Widersprüche und historische Veränderungen widerspiegeln. Wenn eine Gesellschaft sich als pluralistisch und tolerant versteht, wird die Vielfalt Teil des gemeinsamen Selbstverständnisses. Für die Deutschen kommt hinzu: Auch wenn sich die weltoffenen und kosmopolitisch orientierten Sektoren von Gartenzwerg, Sauerkraut und Schäferhund abgrenzen, der Tatsache dass die Verantwortung für Auschwitz zum Kollektiv der Deutschen – und nur zu diesem – gehört, können sie sich nicht entziehen.

2.1. Der Umschlag von nationaler Identität in Nationalismus

Auch in einigermaßen demokratischen, offenen und pluralistischen Gesellschaften existiert nationale Identität. Deren Stellenwert ist aber normalerweise begrenzt und die Risiken sind eingehegt, u.a. durch die checks and balances der Demokratie. Allerdings kann sie bei vermeintlichen oder tatsächlichen Bedrohungen, oder wenn die Identität in Frage gestellt oder gar herabgewürdigt wird, schnell abgerufen und politisch instrumentalisiert werden. Aus der zunächst passiven, als mentale Struktur vorhandenen Identität wird eine aktive politische Haltung: Patriotismus oder dessen Steigerung, Nationalismus und Chauvinismus.

Nationalismus ist eine Ideologie mit enormem Affektgehalt, die die eigene Nation bzw. den eigenen Nationalstaat anderen gegenüber für besser und überlegen hält. Nationalismus ist also nicht identisch mit Nation und Nationalstaat. Es ist einer der gravierendsten Irrtümer in vielen linken Debatten, diesen Unterschied zu ignorieren.

Patriotismus ist eine emotionale Beziehung zum Vaterland (patria), die sog. Vaterlandsliebe. In den meisten Nationalstaaten wird Patriotismus mindestens als legitim, wenn nicht erwünscht angesehen. In Deutschland dagegen gibt es auch bis in die Funktionseliten hinein eine Distanz dazu, auch wenn es zunehmend Tendenzen gibt, Patriotismus für harmlos und legitim zu erklären. So sagte z.B. schon 1999 der ehem. Bundespräsident und Sozialdemokrat Johannes Rau bei seiner Antrittsrede: „Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt, ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet.“[9]

Allerdings stehen zahlreiche Befunde aus Soziologie und Psychologie dem entgegen. So kommt z.B. die Studie „Deutsche Zustände“, die regelmäßig diesen Fragen nachgeht, zum Schluss, dass selbst noch der sog. Party-Patriotismus, wie er bei der Fußball-WM 2006 auftrat, Überlegenheitsgefühle und Fremdenfeindlichkeit fördert.[10]

Das Problem beginnt bereits mit dem affektiven Charakter von Patriotismus. In der Vaterlandsliebe wird eine gesellschaftliche Konstruktion zur vermeintlich personalen Beziehung transformiert, nämlich der von Vater und Kind, und auf diese Weise autoritär präformiert. Noch gravierender aber ist, dass die Liebe zum Vaterland in der Regel den nüchternen Blick auf das Eigene trübt – Liebe macht bekanntlich blind. Right or wrong – my country bringt es auf den Begriff. Patriotismus ist in Bezug auf das Objekt seiner Gefühle daher notwendig affirmativ und stellt so die Grundlagen gesellschaftskritischen Denkens, das auf Veränderung zielt, von vorneherein in Frage – und damit den Kern linker Identität. Er ist immer für Herrschaftsinteressen instrumentalisierbar gewesen. Insbesondere dann, wenn die Situation der subalternen Klassen und Schichten besonders schlecht ist oder verschlechtert werden soll, wird Patriotismus als Kompensation angeboten, so dass „jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz seyn könnte“, die Möglichkeit hat, wenigstens „auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu seyn.“[11]

Allerdings ist auch die Funktion des Patriotismus nicht essentialistisch zu fixieren. Wie jedes andere gesellschaftliche Phänomen kann auch sie vom historischen Kontext modifiziert werden. Als Ressource etwa im antifaschistischen Widerstand in Frankreich, Italien, Jugoslawien, im Sowjetpatriotismus gegen den Vernichtungskrieg der Nazis oder in antikolonialen Bewegungen kann dem Patriotismus eine historisch progressive Funktion nicht abgesprochen werden.

2.2. Kann man ein Gemeinwesen wertschätzen?

Es stellt sich nach alledem die Frage: Gibt es eine rational begründete und aus emanzipatorischer Sicht legitime Wertschätzung eines Gemeinwesens – des eigenen wie anderer? Wenn ja, unter welchen Umständen? Habermas hat mit seinem Begriff „Verfassungspatriotismus“ versucht, das so zu konzeptualisieren, dass es nicht nationalistisch entgleist. Der Name ist unglücklich gewählt. Im Grunde ist der Verfassungskonsens gemeint oder allgemeiner noch: der Gesellschaftsvertrag. In der Sache könnte das ein brauchbarer Ansatz sein, wenn die Verfassung mit emanzipatorischen Werten wie soziale Gerechtigkeit, Solidarität, Demokratie, Friedfertigkeit und nachhaltigem Umgang mit der Natur verbunden ist. Allerdings: Es wäre dann wieder eine ziemlich rationalistische Angelegenheit, der vermutlich die Kraft fehlt, die die großen Emotionen des Patriotismus und Nationalismus zu erzeugen vermögen.

3. Internationalismus oder Globalismus?

Internationalismus gilt als das Gegenkonzept und das Gegengift gegen Nationalismus. Er stammt historisch von der Linken ab, war herrschaftskritisch, sollte der Emanzipation des Proletariats dienen und richtete sich dementsprechend gegen die kapitalistischen Eliten. Internationalismus war die grenzüberschreitende Solidarität der Subalternen aller Länder gegen die herrschende Klasse aller Länder.

Zwar hat dieser Internationalismus im 20. Jahrhundert beträchtliche Beschädigungen hinnehmen müssen – so z.B. mit dem Einschwenken der europäischen Sozialdemokratie auf die Linie des Burgfriedens im Ersten Weltkrieg, oder mit seiner Instrumentalisierung durch den Staatssozialismus, aber als normative Orientierung wird er von der Linken nach wie vor in Ehren gehalten.

Allerdings haben sich durch die Globalisierung des Kapitalismus die Rahmenbedingungen für Internationalismus sehr verändert. Es gibt eine Umkehrung und Vereinnahmung des Internationalismus durch den herrschenden Diskurs. Die grenzenlose Freiheit der Kapitalströme und die interkontinentale Organisation der Wertschöpfungsketten durch transnationale Konzerne werden durch eine internationalistisch daherkommende Ideologie abgesichert. Die Verteidigung demokratischer, sozialer und ökologischer Standards z.B. gegenüber TTIP wird demgegenüber als Nationalismus diffamiert. Jene, gegen deren Interessen sich der Internationalismus ursprünglich richtete, haben ihn für sich gekapert. Wenn man seinen emanzipatorischen Begriff von Internationalismus nicht mit den Neoliberalen teilen will, sollte man deren „Internationalismus“ deshalb besser als Globalismus bezeichnen.

Dessen soziale Basis sind zum einen die Repräsentanten der herrschen Eliten – Manager, Politiker, Spitzenbürokraten –, aber auch die Mittelschichten mit kosmopolitischem Habitus. Sie gehören zu den Gewinnern der Globalisierung. Sie bedürfen des Schutzes des Sozialstaates nicht. Sie sind gebildet, mobil, liberal, individualistisch, kulturell offen und können sich in der Weltsprache Englisch ausdrücken. Sie siedeln in den Global Cities, den Agglomerationen von London, New York, Paris, Frankfurt, LA und Shanghai. Ihre Rollkoffergeschwader sind auf allen internationalen Airports zu Hause. Sie glauben, mit ihrem kulturellen Kapital überall arbeiten und verdienen zu können. Ihre Kinder studieren und machen Praktika auf allen Kontinenten. Sie repräsentieren die Kultur der Globalisierung. Medien und Kulturindustrie tragen dazu bei, die globalistische Lebensweise zum allgemeinverbindlichen Leitbild zu erheben. Der Klassencharakter ihrer privilegierten Lebensweise verschwindet hinter einer glamourösen Fassade.

Zudem erkennen sie nicht, dass ihre liberal-individualistische Lebensweise in hohem Maße heteronomen Interessen unterliegt. Ihr konsumintensiver und ökologisch fragwürdiger Lifestyle wird bestimmt von den Verwertungsinteressen transnationaler Unternehmen, deren Avantgarde die digitale Wirtschaft ist. All die Google, Facebook, Apple kommen jedoch aus einem einzigen Land, den USA, und sind Projektion der ökonomischen Macht und der Soft Power der USA. Insofern ist ihr scheinbarer Universalismus tatsächlich das Produkt eines einzigen Nationalstaates. Politisch verstecken die globalen Eliten hinter der Anrufung des Internationalismus die Aufkündigung der in den Nationalstaaten erkämpften Klassenkompromisse.

Fazit: Nicht überall wo international drauf steht, ist auch emanzipatorischer Internationalismus drin. Und nicht alles, was nationalstaatlich geschieht, ist nationalistisch. Die Linke sollte sich von der binären Logik – national = böse, international = gut – lösen. Die Sache ist ambivalent und widersprüchlich. Dementsprechend ist eine differenzierte Herangehensweise notwendig. Um es zuzuspitzen: Ein linker, friedlicher womöglich sozialistisch orientierter Nationalstaat ist allemal einem supranationalen Konstrukt mit neoliberaler Verfasstheit und imperialen Ambitionen vorzuziehen.

[1] Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt/M. 1998.

[2] Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt/M. 2002.

[3] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-10/heimat-katrin-goering-eckardt-frank-walter-steinmeier

[4] Wem der Begriff Identität verdächtig ist, kann ihn auch durch kollektives Selbstverständnis ersetzen.

[5] S. dazu ausführlich den Blog des Autors und Mitglied des Parteivorstands der Linkspartei, Raul Zelik, https://www.raulzelik.net

[6] Transnational bedeutet: Kommunikation, Wirtschaftsbeziehungen etc. quer durch mehrere Nationalstaaten, die von diesen nicht kontrolliert werden oder kontrolliert werden können. Internationalbezeichnet die Beziehungen inter nationes, also zwischen den Nationen, die gezielt von diesen gestaltet werden. Supranational bedeutet, den Nationalstaaten übergeordnet, wie bei den vergemeinschafteten Politikbereichen der EU. Multinational(auch plurinational) bedeutet Zusammenarbeit mehrerer Nationalstaaten auf formal gleichberechtigter Basis, z.B. in der UNO oder der WTO.

[7] So z.B.: William Mitchell, Thomas Fazi (2017): Reclaiming the State: A Progressive Vision of Sovereignty for a Post- Neoliberal World. London 2017.

[8] Marx-Engels Werke, Band 3, S. 5-6, Berlin 1969.

[9] http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/1999/05/ 19990523_Rede.html

[10] http://www.uni-bielefeld.de/ikg/gmf/pdf/ergebnisse_2006.pdf

[11] Arthur Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, Düsseldorf 1913, S. 105. Der Band ist online verfügbar: https://www.gutenberg.org/ebooks/47406