Arbeitskämpfe

Arbeit, Ausbeutung, Widerstand in der globalen Bekleidungsindustrie

von Michael Fütterer
März 2018

In der Öffentlichkeit wird die Bekleidungsindustrie meist nur wahrgenommen, wenn es um Schreckensbilder der Ausbeutung aus den Sweatshops geht: einstürzende Fabriken, Löhne weit unterhalb des Existenzminimums, enormer Arbeitsdruck, Arbeitstage von bis zu 14 Stunden, gewerkschaftsfeindliche Angriffe von Fabrikmanagern sowie sexualisierte Gewalt gegen Arbeiterinnen. Als Reaktion darauf bildete sich in den vergangenen 20 Jahren eine Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen, Initiativen und Regulierungsversuchen heraus. Sie kritisierten einzelne Missstände oder forderten die bessere Einhaltung von Mindeststandards ein. Entscheidende Ursache für die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in der globalen Bekleidungsindustrie ist der enorme Preisdruck der Einkäuferunternehmen auf die Zulieferer, die so ein race to the bottom erzeugen.

Um dies zu untersuchen, wurde von Gary Gereffi (1999) der Begriff buyer-driven value chains eingeführt. Er versteht darunter Wertschöpfungsketten, die von in der Regel multinationalen Einzelhandelsunternehmen dominiert und organisiert werden. Multinationale Unternehmen, wie Inditex, H&M, Nike oder Primark, organisieren dezentrale Produktionsnetzwerke überwiegend in Ländern des Globalen Südens, wo Arbeitskosten niedrig sind. Dabei realisieren diese multinationalen Unternehmen die meisten Profite, indem sie Produktdesign, Marketing, Informations- und Wertschöpfungskettenmanagement kontrollieren, während der Produktionsprozess an unabhängige Produzenten outgesourct wird. So behalten die multinationalen Unternehmen die Verfügungsgewalt darüber, was produziert wird, bei wem, wie viel, wann und zu welchem Preis (Dolan & Humphrey 2004). Die Mehrheit der Produktionsbetriebe ist in Asien angesiedelt, mit weiteren Zentren in Lateinamerika, Südosteuropa und Nordafrika. Der Wettbewerb zwischen den unabhängigen Zulieferern sowie zwischen den nationalen Produktionsstandorten wird zu einem erheblichen Maß über die Arbeitskosten ausgetragen. Für viele Staaten im Globalen Süden ist die Bekleidungsindustrie traditionell eine Möglichkeit, industrielles Wachstum zu fördern. Daher sind unabhängige Gewerkschaften den dortigen Regierungen und den Fabrikbesitzern gleichermaßen ein Dorn im Auge.

Grenzen internationaler Zusammenarbeit

Bekannt ist eine internationale Zusammenarbeit in der globalen Bekleidungsindustrie zumeist als Kooperation zwischen Gewerkschaften in der Produktion im Globalen Süden und Nichtregierungsorganisationen aus dem Globalen Norden. Sie besteht zumeist aus konkreten Unterstützungskampagnen bei einzelnen Arbeitsrechtsverletzungen oder fordert soziale Mindeststandards ein. In der Regel sind diese Gewerkschaften und NGOs dabei auf den Staat oder Konsument*innen orientiert.

Diese Kampagnen haben international durchaus erfolgreich ein Bewusstsein über die Arbeitsbedingungen im Globalen Süden erzeugt und einzelne Erfolge erzielt. Allerdings ist es nicht gelungen, nachhaltig gewerkschaftliche Macht auf Fabrikebene aufzubauen, so Strukturen in der Bekleidungsindustrie zu verändern und Gewerkschaften in den Bekleidungsproduktionsländern dauerhaft zu stärken. Bei dieser Form der Kooperation besteht vielmehr die Gefahr, dass den Gewerkschaften dieser Länder lediglich die Rolle zukommt, Informationen für die Aktivist*innen im Norden zu liefern. Die Beschäftigten treten als Zeugen der unmenschlichen Praxis der Bekleidungsunternehmen auf, ohne aber selbst Akteur*innen der Veränderung zu sein. Wichtige Probleme, wie etwa Konflikte, die aus der Arbeitsorganisation entstehen, werden in diesen Kampagnen nicht angegangen. Beispiele dafür aus der Bekleidungsindustrie sind die Einführung von Gruppenarbeit, Zielvorgaben, Arbeitshetze und weitere Instrumente aus dem Werkzeugkasten der Schlanken Produktion. Auch gehen Perspektiven auf eine Veränderung von Gesellschaft verloren, da es „lediglich“ um die Einhaltung von Mindeststandards geht und die für eine Veränderung von Gesellschaft notwendigen Formen der Selbstorganisation von Arbeiter*innen nicht entwickelt werden (Gindin 1998: 79).

Diese Probleme werden sich durch die anstehenden Veränderungen noch verschärfen: Digitalisierung meint nicht einfach einen nicht aufzuhaltenden technologischen Prozess, sondern eine tiefgreifende gesellschaftliche Transformation. Dabei geht es beispielsweise um den Umbau von Unternehmen, neue Formen von Kontrolle im Betrieb, die weitere Entgrenzung von Arbeit, um die Konstruktion eines neuen Arbeitertypus, um die weitere Zunahme prekärer Arbeitsbedingungen und -verhältnisse, die Veränderung kollektiver Erfahrungen und möglicher Widerstandsformen, sowie um völlig veränderte Bedingungen für eine gewerkschaftliche Organisierung. Dies gilt gleichermaßen für Produktion und Verkauf.

Gewerkschaft in Bewegung: Das ExChains-Netzwerk

Mit einer anderen Gewerkschaftsarbeit reagiert das ExChains-Netzwerk auf diese Herausforderungen. Im Rahmen des Netzwerks von tie Global (www.exchains.org) arbeiten seit 2002 Gewerkschafter*innen aus Indien, Bangladesch und Sri Lanka mit Betriebsräten und Gewerkschafter*innen aus dem Bekleidungseinzelhandel in Deutschland zusammen. Verbunden sind weitere Gewerkschaften etwa in Thailand oder den Philippinen. Kern des Netzwerkes sind die Gewerkschaften GATWU und GAFWU aus Indien, die NGWF aus Bangladesch, die FTZ&GSEU aus Sri Lanka, DISK/Tekstil in der Türkei sowie ver.di, und Betriebsräte und Beschäftigte von H&M, Zara, Primark und Esprit.

Gemeinsame Erfahrungen der Beschäftigten in den verschiedenen Ländern ermöglichen - trotz der bestehenden Unterschiede – die Zusammenarbeit. Die Beschäftigten teilen die Erfahrung von niedrigen Löhnen, von Verletzungen der eigenen Würde am Arbeitsplatz, von flexiblen und prekären Arbeitsbedingungen sowie von Angriffen auf Gewerkschafter*innen und gewerkschaftlich orientierte Betriebsräte.[1] Zudem arbeiten in beiden Branchen überwiegend Frauen zu schlechten Arbeitsbedingungen. Das gemeinsame Gegenüber ist faktisch das gleiche Unternehmen. Regelmäßige Treffen in Deutschland und Südasien zwischen Betriebsräten und Gewerkschafter*innen dienen dazu, diese Perspektiven auszuarbeiten, die gemeinsame Praxis weiterzuentwickeln und konkrete Aktivitäten zu planen.

Die Gewerkschaften in der Bekleidungsproduktion erarbeiten gemeinsame Organisierungsstrategien und diskutieren grenzüberschreitend, welche betrieblichen Ansätze Selbstorganisation befördern. In Deutschland arbeiten Betriebsräte über die Grenzen des einzelnen Unternehmens zusammen und entwickeln gemeinsam mit ver.di Strategien, wie betriebliche Interessenvertretung im Bekleidungseinzelhandel gestärkt werden kann und wie krank machende Arbeitsbedingungen bekämpft werden können. In den letzten fünfzehn Jahren entstanden so zirka 100 Betriebsräte in Filialen von H&M (Fütterer/Rhein 2015). Entlang der Wertschöpfungskette bemühen sich die Mitglieder des Netzwerks um einen Ansatz, die Verhandlungsmacht als zentraler Faktor für Veränderung durch gegenseitige Unterstützung zu stärken.

Betriebliche Gewerkschaftsgruppen führen eigene Verhandlungen über Arbeitsbedingungen in den Bekleidungsfabriken und entwickeln Aktionen, um Druck auf die Unternehmen aufzubauen. Diese beruhen auf so genannten Arbeitsplatzmappings, die ihrerseits ihren Ursprung in der lateinamerikanischen Tradition der Bildung von Unten haben und die Erfahrungen, Wissensstände und Konflikte der Arbeiterinnen zum Ausgang nehmen. So gelang es Beschäftigten in den Produktionsbetrieben des Südens, Verhandlungen über Arbeitsbedingungen auf betrieblicher Ebene zu führen und auch auf neue Kontrollformen zu reagieren. Diese Strategie wird durch Aktionen von ver.di, Betriebsräten und Gewerkschafter*innen in Deutschland unterstützt, die Druck auf die Abnehmer des jeweiligen Zulieferers aufbauen – durch betriebliche Öffentlichkeit beispielsweise auf Betriebsversammlungen, das Ausnutzen von betrieblicher Mitbestimmung sowie durch unmittelbare Aktionen am Arbeitsplatz. Umgekehrt unterstützen die Gewerkschaften aus der Bekleidungsproduktion die Forderungen der Beschäftigten aus dem Einzelhandel bei uns. Die Einkäuferunternehmen sollen so in die Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Zulieferern hineingezogen werden. Ein Beispiel für diese Verbindung ist die Betriebsrätekonferenz von H&M im Juni 2017, als Gewerkschafter*innen aus Asien, Betriebsräte aus Deutschland sowie ver.di gemeinsame Forderungen der Beschäftigten aus Produktion und Verkauf an die H&M-Geschäftsleitung gerichtet und Aktionen beraten haben, die durchzusetzen.

Das Netzwerk beabsichtigt, mit dieser Praxis auch Antworten auf die anstehenden Veränderungen zu finden: Basierend auf den Erfahrungen der Beschäftigten vor Ort, den Veränderungen ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen und durch den Aufbau von Selbstorganisation.

Literatur

Dolan, Cathrine/Humphrey, John (2004): Changing Governance Patterns in the Trade in Fresh Vegetables between Africa and the United Kingdom. In: Environment and Planning A: Economy and Space, Nr. 36, S. 491-509.

Fütterer, Michael/Rhein, Markus (2015): «Erneuerung geht von unten aus» Neue gewerkschaftliche Organisierungsansätze im Einzelhandel – Das Beispiel H&M. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin.

Gereffi, Gary (1999): International trade and industrial upgrading in the apparel commodity chain. In: Journal of International Economics. Nr. 48, S. 37-70

Gindin, Sam (1998): Socialism with Sober Senses. Developing Worker's Capacities. In: Socialist Register, Nr. 34, S. 75-101.

Kobel, Anton (2011): Einzelhandel in Deutschland. In: Express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2, 3–4 u. 5/2011, unter: http://labournet.de/branchen/dienstleistung/eh/kobel2.html.

McKinsey (2016): The State of Fashion 2017. McKinsey Report.

International Labour Organisation (2016): Asean in Transformation: How technology is changing jobs and enterprises. Genf.

[1] Für detailliertere Informationen über Arbeitsbedingungen im Einzelhandel siehe z.B. Kobel (2011).