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Novemberrevolution / Alle Berichte

von Holger Czitrich Stahl / Rainer Holze
September 2018

Revolution gegen Kaiser und Krieg, für demokratische Republik, Frieden oder gar Sozialismus?

Konferenz zum 100. Jahrestag der Novemberrevolution,
Berlin, 14. April 2018

Zu den wissenschaftlichen Konferenzen, die anlässlich des 100. Jahrestages der deutschen Novemberrevolution in den letzten Monaten in Berlin stattgefunden haben, gehörte auch die ganztägige Konferenz des Berliner Bildungsvereins Helle Panke e. V. Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin mit der obigen ambitionierten Themenstellung. Den Reigen der Vorträge eröffnete Stefan Bollinger (Berlin) mit seinem Beitrag „Ohne Kaiser und Generale? Radikaler Bruch, Frieden, Demokratie – die zwiespältigen Resultate einer Revolution“. Historikerinnen und Historiker wie politische Akteure ständen vor der Aufgabe, sich den Ereignissen vor 100 Jahren bewusst und inhaltlich zu stellen. Neu sei die große Aufmerksamkeit, die der revolutionären Seite dieser historischen Ereignisse im gesamten (west)deutschen Kontext zuteilwerde. Es dominieren jedoch immer noch jene Betrachtungen, die die Ereignisse der Jahreswende 1918/19 und der Weimarer Reichsverfassung vorrangig als Geburtsstunde der ersten deutschen Republik betrachteten. Bereits zeitgenössischen Betrachtern, kritischen Köpfen und auch Akteuren sei die Ambivalenz des Umbruchs zwischen großen revolutionären Erwartungen an eine neue, menschliche, demokratische, vielleicht sozialistische Gesellschaft einerseits und das Fortwirken der deutschen Elite und das Fehlen demokratischer Verwurzelung in den breiten Schichten der Eliten, der Intelligenz, aber auch unter den arbeitenden Klassen andererseits deutlich geworden.

Die Novemberrevolution sei ein Lehrstück gewesen für das Aufbegehren der Massen, für die Fähigkeit der Besitzenden, ihre Macht zu behaupten sowie das Verhalten von linken Politikern, kein Risiko einzugehen, sondern den gemäßigten Fortschritt zu propagieren und dabei blind zu werden für jene Mächte, die ein Interesse an Ruhe und Ordnung gehabt haben und eher als Marionette denn als Respektspersonen wahrgenommen werden. Linke aller Parteien und bürgerliche Demokraten können an die Weimarer Verfassung erinnern, die ein großes Stück Demokratie verkörpert habe, an die in ihr enthaltenen bürgerlichen, aber auch sozialen Rechte, an ihren Anspruch an eine positive Beeinflussung des Wirtschaftslebens durch den Staat und an – wenn auch bescheidene – Überreste des Rätegedankens für die Führung in den Unternehmen. Für Linke sei es aber auch unerlässlich, gleichzeitig auf den diktatorischen Notausstieg dieser Verfassung, auf die Verfassungswirklichkeit und die „Blindheit des Staates auf dem rechten Auge“ zu verweisen.[1][1]

Über die Grenzen und Potenzen der Räte in der Novemberrevolution referierte Gerhard Engel (Am Mellensee). Die Arbeiter- und Soldatenräte von 1918/19 seien weitestgehend spontan in einer rasch um sich greifenden Massenbewegung gegen den Krieg und für einschneidende Gesellschaftsveränderungen, die Militarismus und Krieg aus dem Leben des Volkes verbannen und den Weg in eine demokratische, womöglich sozialistische Gesellschaft bahnen sollte, entstanden. Ihr wenn auch nur teilweises rezipiertes Vorbild haben sie in den Sowjets der russischen Revolution gesehen. Anknüpfungspunkte aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung besaßen sie in den Arbeiterräten, die in den großen Streiks vom Januar 1918 als streitbares Organ entstanden waren. Hauptträger der Rätebewegung waren vor allem Arbeiter der Großbetriebe und Arbeiter, die noch die Uniformen der Marine und des Feldheeres trugen. Ihre Initiativen hatten eine beträchtliche Sogwirkung auf andere Schichten der Bevölkerung ausgeübt, die ebenfalls gewillt waren, ihre sozialen und politischen Ziele gegen die bisherige Gesellschafts- und Staatsordnung durchzusetzen. Die Rätebewegung barg das Potential für eine von der Arbeiterklasse angeführte Volksbewegung, die auf grundlegende Veränderungen in der Gesellschaft abzielte. Die Entwicklung der Räte zu parteiübergreifenden und auf Aktion orientierten Gremien habe die Möglichkeit geboten, die anfängliche Schockstarre der alten Machtorgane und der konservativen Parteien und Organisationen für entschlossene revolutionäre Maßnahmen zu nutzen, bevor sich diese zur konzertierten Konterrevolution formieren konnten. Die Erfolge in den ersten Tagen und Monaten der Revolution - Beendigung des Krieges, Sturz der verhassten Monarchie, Durchsetzung politischer und sozialer Forderungen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Anlehnung an das Erfurter Programm – belegten dies. Engel zeigte eine Reihe von Ursachen dafür auf, dass die Möglichkeiten der Rätebewegung nicht genutzt wurden, dass ihr Grenzen gesetzt waren. Er stellte in diesem Kontext vor allem die objektiven Bedingungen, unter denen die Revolution stattgefunden hatte, die prinzipielle Ablehnung einer basisdemokratischen Arbeiterbewegung durch die mehrheitssozialdemokratische Arbeiterbewegung, die in Folge des weiteren Kriegsverlaufes sich vertiefende und sich in der Revolution weiter verschärfende Spaltung der Arbeiterbewegung und das diffuse Selbstverständnis der Räte selbst heraus. Keine dieser Faktoren habe für sich allein gewirkt, sie waren einander verwoben. Das Hauptverdienst der Arbeiter- und Soldatenräte habe in der Nahrungsmittelbeschaffung, der Demobilisierung des zurückflutenden Millionenheeres, der Arbeitsbeschaffung, beim Schutz des Eigentums und im Kampf gegen Wucher und Schwarzmarkt bestanden. Alles, was darüber gegangen war, wurde von den Denunzianten als illegale Einmischung in die Arbeit der intakt gebliebenen Staatsorgane und Wirtschaftsorgane, vor allem als Herbeiführung „russischer Zustände“ verstanden. Der Rat der Volksbeauftragten habe alles darangesetzt, die Räte zu strangulieren. Eine groß dimensionierte antikommunistische und antisemitische Propaganda von der „Antibolschewistischen Liga“ bis zu den sozialdemokratischen Zeitungen habe die Massen verunsichert und verwirrt, was nicht nur die Kommunisten getroffen habe, sondern auch diejenigen Mitglieder der SPD und USPD, die sich in der Rätebewegung für die Vertiefung, Stabilisierung und Weiterentwicklung der Revolution einsetzten. Das Agieren der Revolutionäre sei von Beginn an durch das Fehlen eines alternativen sozialistischen Demokratiekonzepts belastet worden. Über die politische Schlagkraft und das Tätigkeitsprofil der Räte habe die jeweilige politische Zusammensetzung entschieden. Die MSPD-geführten Räte sahen ihre Aufgabe vor allem in der Lösung von sozialen Tagesaufgaben, die von der Spartakusgruppe und den Internationalen Kommunisten Deutschlands majorisierten Räte versuchten, sich als tatsächliche Machtorgane zu etablieren. Eine kritische Betrachtung der Rätebewegung in der deutschen Revolution könne dazu beitragen, Soll und Haben dieser großen Volksbewegung abzuwägen. Die in Bewegung geratenen Massen, Hunderttausende, die in einer äußerst schwierigen Lebenssituation am Ende des Krieges versuchten, ihre Lebensbedingungen positiv zu verändern, wofür sie Zeit und viele sogar ihr Leben geopfert haben, verdienten hohen Respekt. 100 Jahre danach sei es aber auch angebracht, denen anerkennend zu gedenken, die sich unter schwierigen Umbrüchen, spontan und ohne wegweisende Führung bestmöglich für sozialen und politischen Fortschritt eingesetzt haben.

Dietmar Lange (Berlin) thematisierte auf der Grundlage seines Buches[2][2] den sonst in der Forschung und Publizistik wenig beachten Generalsstreik und die Märzkämpfe 1919 in Berlin, in denen massive Forderungen nach Umwandlung der Macht- und Eigentumsverhältnisse erhoben wurden. Er sei ein Beispiel dafür, dass im Frühjahr 1919 große Streiks und Unruhen, an denen sich breite Massen von Arbeitern über alle Parteigrenzen hinweg beteiligten, das Deutsche Reich erschütterten und die sozialdemokratische Regierung in Bedrängnis brachten. Der Generalstreik in Berlin endete schließlich in einem blutigen Massaker, für das exemplarisch der Schießbefehl von Gustav Noske stehe. Die Ereignisse in Berlin hatten weitreichende Folgen über die Hautstadt hinaus und stellten gemessen an den Toten noch die Januarkämpfe in Berlin mit den beiden prominentesten Opfern Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in den Schatten.

Auch die weiteren Diskussionsbeiträge – zu den Vortragenden gehörten erfreulicherweise mehrere unserer Kolleginnen – trugen zum guten Verlauf der Konferenz bei. Leider können wir aus Platzgründen nur noch kurz auf sie aufmerksam machen. So stellte Marga Voigt (Berlin) Briefe Clara Zetkins aus den Jahren 1915 bis 1920 vor, die unter anderem Auskunft über deren Einschätzung der Novemberrevolution und deren Wirken als internationale Sozialistin geben. Christiane Sternsdorf-Hauck (München) zeigte die sehr marginalen Beteiligung von Frauen in der Rätebewegung am Beispiel der bayrischen Revolution und der Bayrischen Räterepublik. Gisela Notz (Berlin) schilderte den langen internationalen Kampf der Sozialistinnen um das dann in der Novemberrevolution durchgesetzte Frauenwahlrecht sowie das Auftreten von Frauen in der Nationalversammlung und im Reichstag. Vera Bianchi (Hamburg) machte das Forum mit dem Ende 1919 gegründeten Syndikalistischen Frauenbund bekannt, für den vor allem das Eintreten für die Gleichberechtigung, Bildung und Ausbildung der Frauen und für direkte Aktionen kennzeichnend war. Ottokar Luban (Berlin) setzte sich prononciert mit dem DDR-Geschichtsbild zur Gründung der KPD auseinander, und Mario Hasselbarth (Jena) beleuchtete differenziert die spezifische Rolle der USPD in der Novemberrevolution am Beispiel Thüringens.

Die Konferenzdokumente werden von der „Hellen Panke“ in ihrer Schriftenreihe „Pankower Vorträge“ dokumentiert.

Holger Czitrich Stahl/Rainer Holze

Reformen im Realsozialismus der 60er Jahre und ihre politischen Konsequenzen: NÖS, Praxisdebatte, Kybernetik und Demokratischer Sozialismus

Konferenz der Helle Panke e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin am 27. April 2018

Das fünfzigste Jubiläum des „langen Jahres“ 1968 wird vielerorts mit Vernissagen, Vorträgen und Konferenzen begangen, dazu kommen Features in den Medien, Filme, (auto-)biografische Bücher Beteiligter u.v.m. Die damaligen Ereignisse im Osten Europas finden in dieser vor allem historisierenden Erinnerungsprozedur maximal am Rande statt. Höchstens wird der Prager Frühling erwähnt, als Aufstand der Bevölkerung gegen die Machthaber in Prag und Moskau. Über die komplexen Hintergründe, politischen Intentionen, Machtstrukturen und damit zusammenhängenden Vorgeschichten hört man nur wenig.

Der Prager Frühling war Kulminationspunkt einer Entwicklung, zu der zahlreiche Reformen, Reformversuche und Reformdebatten in Ländern des sog. „Ostblocks“ und in der Sowjetunion selbst gehörten. Es ging um das Verhältnis zwischen Plan und Markt, um ein Streben nach Emanzipation von Moskau, um mehr politische und volkswirtschaftliche Selbstbestimmung einzelner Staaten. Es ging darum, eigene Wege im Rahmen des engen realsozialistischen Korsetts zu suchen, und das auf unterschiedlichen Ebenen der Gesellschaft und des politischen Systems, von den jeweils Herrschenden über die Funktionäre in den politischen und/oder wirtschaftlichen Gremien und Apparaten bis hin zu Studenten und Arbeitern.

Sie alle hatten Hoffnungen auf die Reformen, Erwartungen an Veränderungen. Die Einen hatten eher ökonomische Ziele vor Augen, die Anderen träumten von der Demokratisierung des Sozialismus, um diesen zu erhalten und attraktiver zu machen. Ihn zu überwinden und ein kapitalistisches Wirtschaftssystem wie im Westen einzuführen war für fast alle handelnden Akteure jedoch keine Option.

Ende der 1960er Jahre wurden diese Erwartungen mitsamt den Hoffnungen zerstört. Das Scheitern der Reformen trug möglicherweise zum späteren ökonomischen und politischen Scheitern des gesamten Systems mit bei. Die Frage bleibt spekulativ, ob die Reformen, hätte man sie umgesetzt, zum Systemerhalt beigetragen oder dessen Niedergang beschleunigt hätten. Die Tagung der „Hellen Panke“ widmete sich genau diesen Fragen. Der erste Teil der Veranstaltung gab einen Überblick, der zweite vertiefte das Thema anhand von Fallbeispielen.

Überlegungen zum Verhältnis zwischen politischen und ökonomischen Reformen anhand der Erfahrungen von damals unterbreitete Jörg Roesler (Berlin) in seinem Einführungsvortrag. Er zeichnete die historischen Vorbedingungen nach. In der ČSSR stagnierte zu Beginn der 1960er Jahre die Wirtschaft. Schuld war ein Reformstau, den die Partei vorsichtig und ohne Beteiligung von Betriebsfunktionären und Belegschaften zu überwinden suchte. Erst mit dem Amtsantritt von Alexander Dubček als Erstem Sekretär der KPČ am 5. Januar 1968 wurde der Weg für Ota Šiks ökonomische Reformideen frei, die Judith Dellheim (Berlin) im zweiten Teil der Konferenz ausführlich vorstellte. Anfang April 1968 wurde Šik Stellvertretender Ministerpräsident und „Reformbeauftragter“. Während die Moskauer Führung kein Problem mit den zeitgleich unter dem Titel „Neuer ökonomischer Mechanismus“ anlaufenden Wirtschaftsreformen im benachbarten Ungarn hatte, bereiteten ihr die Ereignisse in der Tschechoslowakei Sorge, denn hier ging es um mehr als ökonomische Probleme. Der wenig reformfreudige sowjetische Generalsekretär Leonid Breshnew wollte keine Fehlerdebatte, keinen Pluralismus oder mehr Demokratie. Ihm ging es eher um die Demonstration militärischer Stärke im weltpolitischen Machtspiel. Die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ im August 1968 ist auch in diesem Kontext zu sehen. Wirtschaftsreformen, gekoppelt an demokratische Veränderungen, waren unerwünscht. In der DDR führte diese Neuausrichtung letztlich 1971 zu Walter Ulbrichts Entmachtung. Er hatte sich nicht zu hundert Prozent hinter Breshnew gestellt, praktizierte selbst Wirtschaftsreformen und strebte mehr ökonomische Unabhängigkeit von Moskau an. Seine Nachfolge trat Erich Honecker an, dessen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik enger mit Moskau verbunden war.

Über die fatalen Auswirkungen des gewaltsamen Reformabbruchs sprach im Anschluss Christoph Lieber (Berlin). Seiner Meinung nach wurden damit auch alle anderen positiven Impulse innerhalb des Staatssozialismus grundsätzlich zerstört, so etwa eine undogmatischere Kulturpolitik (wie sie die Kafka-Konferenz 1963 antizipierte) oder die Theorieproduktion von Radovan Richta, Zdeněk Mlynář, Ota Sik und anderen. Deren Reformideen gefährdeten die Kader- und Apparatestruktur des sowjetisch geprägten Systems. Nach Stalins Tod wurden, so Lieber, die Kader verunsichert. Erst unter Breshnew bekamen sie wieder eine klare Linie und gewannen an Macht zurück. Die Reformen unter Dubček stellten für die Kader wiederum einen Unsicherheitsfaktor dar. Der nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen 1969 eingeführte Wohlfahrtsstaat tschechoslowakischen Typs (die „Normalisierung“) sollte für Ruhe bei den Kadern und in der Bevölkerung sorgen. Ohne die Überwindung der bolschewistischen Parteistruktur seien folglich keine erfolgreichen Wirtschaftsreformen machbar gewesen, so Lieber.

Diese These wurde anschließend von Klaus Steinitz (Berlin) untermauert, der sich als damals Beteiligter in der Staatlichen Plankommission an das Neue Ökonomische System in der DDR erinnerte. Die Wirtschaftsreformen wurden „von oben“ von der Parteiführung konzipiert und durchgesetzt. Interne Machtkämpfe zwischen den führenden Akteuren aus Politik und Wirtschaft, Moskaus langer Arm sowie dogmatische Einengungen behinderten eine erfolgreiche Entfaltung der Reformen. Treibende Kraft hinter dem NÖS war Walter Ulbricht. Er wollte mit den Wirtschaftsreformen das Land weiterentwickeln, ohne es zu demokratisieren. Seine parteiinternen Kontrahenten um Honecker und Willi Stoph waren gegen das NÖS. Nach dem Ende der Reformpolitik in Prag wurde mit Moskaus Plazet auch das NÖS in der DDR beendet und Honecker durfte Ulbricht ablösen.

Waren die Reformen in der DDR zum Großteil „von oben“ bestimmt, so verhielt es sich in Jugoslawien anders. Hier gab es eine breite Studentenbewegung, wie Boris Kanzleiter (Berlin) zu berichten wusste. Gemeinsam mit Intellektuellen und inspiriert durch Herbert Marcuse hatten sie das Ziel, die Arbeiterselbstverwaltung wieder zu beleben, weiterzuentwickeln und den Betriebsegoismus bei der Planung zu überwinden. Hierzu wurde u.a. die Universität Belgrad besetzt, wobei die Parteiorganisation Streiks und Proteste unterstützte.

Judith Dellheim schildete die Reformideen in der Tschechoslowakei, wie sie vor allem in Ota Šiks zentralem Buch „Plan und Markt im Sozialismus“ formuliert worden sind.

Die bisher genannten Reformideen und Planungskonzepte gingen zumeist „von oben“ aus, d.h. sie fußten auf dem Primat der Politik über die Ökonomie. Politische Entscheidungsträger, Staats- und Parteifunktionäre und deren bürokratische Apparate erhoben einen Alleinentscheidungsanspruch. Meinungen aus der Wissenschaft oder von Wirtschaftsfachleuten wurden nicht selten mit Argwohn und Misstrauen betrachtet. Selbst in der ČSSR konnten die Reformen erst eingeleitet werden, nachdem es das Okay aus der Politik gab. Und hier waren für die Ideen Ökonomen zuständig. Wie viel schwerer es da z.B. Mathematiker hatten, sich Gehör zu verschaffen, schilderte die Wissenschaftshistorikerin Annette Vogt (Berlin) am Beispiel des sowjetischen Mathematikers Leonid W. Kantorowitsch. Dieser hatte sich schon 1939 mit mathematischen Lösungen für Transport- und Logistikfragen befasst. Während orthodoxe Wirtschaftsfunktionäre im Osten seine Ideen blockierten, da sie im Recht sein wollten, trafen diese Ansätze ausgerechnet in den USA auf offene Ohren und traten später dort im System der linearen Programmierung erfolgreich in Erscheinung. Für die mathematisch bzw. dann computergesteuerte Planung der Wirtschaft mit dem Ziel eines ökonomischen Gleichgewichts war Kantorowitsch ein Pionier.

Lutz Brangsch und Erika Maier (beide Berlin) diskutierten abschließend über die Lehren, die Linke heute aus den damaligen Versuchen ziehen können. Neben den progressiven Ideen seien es die Erfahrungen des Scheiterns, die man nicht vergessen dürfe. Sie mahnten mehr Realismus und weniger Euphorie auf dem langen Weg zum Sozialismus an.

Doch hat nicht genau dieser Überhang von zu viel Realismus gegenüber zu wenig Utopie dem „Realsozialismus“ geschadet? Hätte man die Reformen erst gar nicht angehen sollen, um die Jugend nicht zu stark für den (demokratischen) Sozialismus zu begeistern? Waren die Erwartungen zu hoch und ist die Enttäuschung deshalb noch höher ausgefallen? Sollte eine Linke also weniger träumen und sich nur im Hier und Jetzt für kleine Verbesserungen einsetzen? Viele Fragen blieben offen. Am nächsten Tag wurden sie anhand der 68er-West in einer zweiten Konferenz weiterdiskutiert. Beiträge beider Veranstaltungen erscheinen sowohl zum Nachhören in der Mediathek als auch in gedruckter Form unter www.helle-panke.de

Alexander Amberger

Marx und der internationale Kapitalismus

„Marx’ Capital and its Impact on World Development”
Konferenz der KPRF, Moskau, 11. bis 12. Mai 2018

Die KPRF hatte zu einer internationalen wissenschaftlichen Konferenz zum 200. Geburtstag von Karl Marx eingeladen, an der über 220 Wissenschaftler und Politiker teilnahmen. Sie vertraten vierzig linke Parteien besonders aus dem marxistisch-leninistischen Spektrum. Es gab über 60 Wortmeldungen; die Diskussionen fanden aber ausschließlich in den Konferenzpausen statt.

Der Parteivorsitzende Gennadi Sjuganow hielt zur Eröffnung eine Grundsatzrede zur Aktualität und politischen Bedeutung der Lehre von Marx. Am zweiten Tag referierte der Sekretär für Internationales des ZK der KPRF Dimitri Nowikow zu Fragen der Weiterentwicklung und der Auseinandersetzung mit dem Marxismus. Stefan Bollinger als Vertreter der Partei Die Linke, einziger Sprecher aus dem deutschsprachigen Raum, eröffnete für das Geburtsland von Marx die Reihe der Ansprachen und mahnte die Weiterentwicklung der Lehren des großen Denkers unter den Bedingungen des modernen Kapitalismus an.

Die Mehrzahl der Rednerinnen und Redner bezog sich auf die historischen Erfahrungen ihrer Länder und der Parteien bei der Aneignung und der Anwendung des Marxismus. Kaum eine Rolle spielten Fragen der national eigenständigen Weiterentwicklung der Theorie. Trotzdem waren jene Beiträge von kommunistischen Parteien und nationalen Befreiungsbewegungen am überzeugendsten, die von der Wirkmächtigkeit der marxistischen Ideen für ihren nationalen Befreiungskampf berichten. Für die Südafrikanische KP, so Mapaila Kgabele Solomon, waren diese Ideen eine Inspiration. Aber die meisten der Parteivertreter verweisen darauf, dass sie jetzt nicht mehr mit unmittelbarer kolonialer Fremdherrschaft, sondern mit den Folgen des Kapitalismus und der äußeren (ökonomischen, politischen und militärischen) Einwirkung des Imperialismus – und die meiste Kritik ging an die Adresse der USA – konfrontiert sind.

Einige Beiträge arbeiteten die moderne Entwicklung des Kapitalismus, die Rolle des Monopolkapitalismus heraus. Robert Griffiths (CP Britain) wusste aber auch das zumindest in den entwickelteren Ländern spürbare Dilemma zwischen den eigentlich für den Sozialismus reifen, ihn erzwingenden objektiven Bedingungen und dem Stand der subjektiven Kräfte zu verdeutlichen. Das war auch das Problem von Juha-Pekka Vaisanen von der KP Finnland, der über die Schwierigkeiten und neuen Wege der Heranführung an Marx besonders bei der Jugend sprach. Von der Neuherausgabe des „Kapital“ bis zu „Marx-Straßendiskussion“ und der Nutzung neuer Kunstformen reichen die Versuche, über die Vaisanen berichtete, eine „marxistische Alphabetisierung“ in neuen Formen voranzubringen.

Teilweise großen Optimismus verbreiteten russische Wissenschaftler über die Möglichkeiten der wissenschaftlich-technischen, der elektronischen Revolution, so Alexander Buzgalin. Auch Alexander Jurcenko und Schores Alfjorow sahen große Chancen für eine Verbindung der wissenschaftlichen mit der sozialen Revolution.

In einem anspruchsvollen Beitrag entwickelte Alexander Rysenkov eine marxistische Krisenmodellierung für ökonomische Prozesse insbesondere in den USA. Für spätestens den Zeitraum 2025/28 erwartet er eine neue tiefe Krise und damit eine weitere Zuspitzung der sozialen Widersprüche.

Soweit erkennbar, erfolgte in den Vorträgen weder eine allgemeine, geschweige denn eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Scheitern der realsozialistischen Staaten in der Sowjetunion und Osteuropa. Wenn dieses Thema angesprochen wurde, reduzierten die Redner diesen Zusammenbruch – in der extremsten Formulierung – auf den imperialistischen, ja „faschistischen Angriff“ der USA auf die Sowjetunion 1989/91. Eine kritische Bestandsaufnahme der Leistungen und der Grenzen – erst recht nicht des Demokratieproblems – erfolgte nicht. Das setzte sich dann auch bei den an der Macht befindlichen nationalen Bewegungen, wie etwa in Nicaragua, fort.

Der Vertreter der KP China vertrat die Ansicht, dass die Weiterentwicklung des marxistischen Denkens die Grundlage der heutigen Entwicklung Chinas mit ihren Erfolgen sei, deutete aber zumindest auch an, dass Entwicklungswidersprüche (insbesondere bezüglich der inneren Stratifikation der Klassen- und Sozialstruktur, der Ungleichheiten und der 200 Millionen Armen) zu beachten seien.

So schien sich für den Beobachter eine kleine Sensation anzubahnen, als Olga Sinowjewa, die Witwe des 1978 wegen seiner Stalinismuskritik ausgebürgerten Logikers und Soziologen Alexander Sinowjew zum Pult eilte. Sie würdigte ausführlich die antistalinistische Arbeit ihres Mannes, der in der BRD Asyl fand. Diese kritische Position bewegte aber die Tagungsleitung und die meisten Zuhörer nicht. Denn hier begeisterte vor allem Sinowjews Kritik an Gorbatschows Politik, zu allererst an der Perestroika. Seine Gegenformel von der „Katastroika“ ist mittlerweile Gemeingut auch der Kommunisten, denen sich Sinowjew nach seiner Rückkehr nach Russland zur Verfügung stellte. Leider wurde auch diese Gelegenheit einer kritischen Auseinandersetzung und einer selbstkritischen Einschätzung des Scheiterns weder von den Gastgebern noch den Rednern genutzt.

Deutlich wurde die enge Verbundenheit einer Reihe der anwesenden Parteien mit der KPRF, mit der (untergegangenen) Sowjetunion – und in besonders expressiver Form bei der Vertreterin der SWAPO auch mit Russland und dem ausdrücklich genannten Präsident Putin – formuliert. Im Mittelpunkt stand in diesen Beiträgen dabei die unmittelbare Unterstützung der UdSSR für die kommunistischen Parteien und antikolonialen Befreiungsbewegungen in der Vergangenheit; ganz offensichtlich war ein Teil der anwesenden Funktionäre in der Sowjetunion ausgebildet worden. Der Sieg über den Faschismus war sicher nicht nur wegen der zeitlichen Nähe des Tages des Sieges für viele Redner ein wichtiger Bezugspunkt.

Die Fähigkeit und das Bemühen, die Breite der linken Bewegung, die Vielfalt des marxistischen Denkens und der heute vor der Linken im internationalen Rahmen stehenden politischen, strategischen und theoretischen Fragen abzubilden, war auf dieser Tagung kaum zu spüren – vielleicht am ehesten noch in der Frage der nationalen Befreiungskämpfe. Die unvermindert anhaltende Spaltung der linken Bewegung, die sich ja auch in der Anwesenheit bzw. Nichtanwesenheit von Parteien wie in der Wertigkeit der Delegationen ausdrückte, wurde fast durchweg nicht reflektiert.

Besondere Sympathien erhielten die Vertreter Kubas, Venezuelas, Vietnams, aber auch Chinas. Aufwühlend wirkte die Rede des Vertreters der KP der Ukraine über die schwierige und bedrohte Situation seiner Partei.

Stefan Bollinger

Gegen den Strom schwimmen. Kritische Wissenschaft im 21. Jahrhundert[3][3]

Symposium aus Anlass des 50. Jahrestages der Gründung des BdWi, Marburg, 2. bis 3. Juni 2018

Anlässlich des 50. Jahrestages der Gründung des „Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler“ (BdWi) fand am 2. Juni 2018 in Marburg ein Symposium mit dem Titel „Gegen den Strom schwimmen. Kritische Wissenschaft im 21. Jahrhundert“ statt, an dem ca. 80 Personen teilnahmen. Ergänzt wurde das Symposium durch eine anschließende Jubiläumsfeier. Im Eröffnungsvortrag stellte Sabine Kiel (Hannover, Vorstand BdWi) „Demokratisierung“ als Kernthema des BdWi heraus. Sie warf die Frage nach Realisierung bei den derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnissen an den Universitäten (u.a. Prekarisierung des Mittelbaus und Engagement von Studierenden) auf. Die heutigen Lebens- und Arbeitssituationen ließen nur sehr begrenzten Raum für ein gesellschaftskritisches Engagement.

Keynote 50 Jahre BdWi-Geschichte: Zunächst referierte Georg Fülberth (Marburg; von 1972-1991 im Vorstand des BdWi), zur Frühgeschichte des Bundes. Er stellte klar, dass der BdWi zwar 1968 gegründet wurde, es aber keinen originären Bezug zu `68 gebe. Die Gründung sei vielmehr eine Alleininitiative des Marburger Soziologen Werner Hofmann gewesen. Mit Bezug auf Artikel 5 GG sei die Freiheit der Wissenschaft gegen die Notstandsgesetze und Staatseingriffe in die Wissenschaft postuliert worden. Die nach dem Tod Hofmanns (1969) erfolgte 68’er-Neugründung im Jahre 1972 sei eine Reaktion auf den „Radikalenerlass“ und das konservative Rollback an den Hochschulen gewesen. Rainer Rilling (Marburg; Geschäftsführer des BdWi 1983-1999) knüpfte an die Umwälzungen im Hochschulbereich, die in den 70er Jahren begannen und in deren Folge viele linke HochschulwissenschaftlerInnen ihre berufliche Perspektive verloren, an. Hierbei räumte er selbstkritisch ein, dass der BdWi, wie viele andere auch, die Reichweite des Neoliberalismus nicht erkannt habe. Rilling betonte, dass Demokratiefrage und Hochschulreform bis heute Markenzeichen des Vereins seien. Darüber hinaus habe man sich mit Themen wie Tschernobyl, Risikokapitalismus, Friedensfrage, imperiale Weltordnungskriege, Informationsgesellschaft und der politischen Rechten auseinandergesetzt. Dabei sei der BdWi nicht als Berufsverband, Lobbygruppe, Wissenschaftsgewerkschaft oder Think Tank in Erscheinung getreten, sondern versuchte sich als widerstandsfähige hybride Organisation. Dies gelte bis heute. Regina Schleicher (Frankfurt, BdWi-Vorstand/-Beirat seit 2013) warf abschließend Schlaglichter auf die jüngste Vergangenheit. So habe man sich viel an der „unternehmerischen Hochschule“ abgearbeitet. Gerade die Veränderungen der Verhältnisse an den Hochschulen könnten ein Motiv für ein Engagement im BdWi sein.

Panel 1: Berufsverbote und demokratische Grundrechte. Auseinandersetzung mit rechts-konservativer Gegenreform: Alexandra Jäger (Berlin, Historikerin) stellte, nach einführenden Ausführungen zur Entstehung des Radikalenerlasses, Ausschnitte aus ihrer Studie über die Berufsverbotepraxis an Hochschulen in Hamburg vor. Ihre These lautete, dass es sich beim „Radikalenerlass“ um eine „temporäre Versicherheitlichung“ gehandelt habe. Linke Einflüsse sollten so abgewehrt werden. Zur Bedeutung des Radikalenerlasses für die politische Bildung referierte Dominik Feldmann (Uni Köln). Politische BildnerInnen verortete er in einem Feld zwischen Emanzipation und Repression. Diesbezüglich problematisierte er die Einflüsse des Radikalenerlasses auf die politische Bildung. Mit Bezug auf Berufsverbotsfälle im 21. Jahrhundert, die „Extremismusklausel“ im Bund und das neue Verfassungsschutzgesetz in Hessen vertrat er die These einer „Revitalisierung des Radikalenerlasses“. Den Bogen hin zur Auseinandersetzung mit einer rechts-konservativen Gegenreform schlug Helmut Kellershohn (Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung). Herausgestellt wurden von ihm starke Parallelen der Programmatik von AfD und CSU. Diese seien eine konservative Geschlechterpolitik, das Beschwören der freien Marktwirtschaft und ein durchsetzungsfähiger Rechtsstaat. In der Diskussion bestand Einigkeit darüber, dass ein offener Klärungsprozess linker Positionen erforderlich sei und Debatten linker Strategien gegenüber der Angst vor einem Erstarken der Rechten im Vordergrund stehen sollten.

Panel 2: Hochschulreform und Hochschulpolitik im Wandel der Jahrzehnte: Zu Beginn rekapitulierte Andreas Keller (GEW) 40 Jahre neoliberale Politik im Hochschulbereich und deren Auswirkungen. Eva Gruse (Heidelberg, fzs) setzte sich mit verschiedenen Aspekten der gegenwärtigen Hochschulpolitik auseinander. Aktuelle Brennpunkte der Studierenden seien u.a. das NRW-Hochschulgesetz und Studiengebühren für ausländische Studierende. Universitäten müssten wieder zu Orten politischer Diskussion werden. Diskutiert wurden das Engagement Studierender und die Systemakkreditierung.

Panel 3: Wissenschaft, Forschung und gesellschaftliche Verantwortung: John Kannankulam (Uni Marburg) beschäftigte sich mit der Rolle des Marxismus in der Wissenschaft vor dem Hintergrund alternative Forschungsansätze mit dem Fokus auf die Staatsfrage. Mit der Geschichte der Friedens- und Geschlechterforschung setzte sich Jürgen Nieth (Mainz, Wissenschaft & Frieden) auseinander. Er plädierte dafür, dass Forschung und Bewegungen wieder zusammenfinden müssten. Diskutiert wurden Auftragsforschung, Drittmittel und ob freie Forschung überhaupt möglich sei. Gisela Notz (Berlin, BdWi) nahm – wie auch in ihrem Beitrag auf dem Panel am Abend – ausführlich Bezug auf die eher zögerlichen Annäherungen des BdWi an den Feminismus („Frauenfrage“), die erst ab Mitte der 80er Jahre Fahrt aufnahm.

Im Rahmen der abendliche Abschlussdiskussion wurden Themen und Möglichkeiten politischer Vernetzung einer Wissenschaftslinken diskutiert. Frieder Otto Wolf (Berlin) stellte dazu in seinem Vortrag den Fokus auf eine radikale Wahrheitspolitik und die Auseinandersetzung mit der politischen Rechten, die von Beginn an ein Schlüsselthema des BdWi gewesen sei.

Dominik Feldmann / Patrick Ölkrug

[1][4] Vgl. auch den Beitrag von Bollinger im vorliegenden Heft, S. 8 ff. (Anm. d. Red.).

[2][5] Dietmar Lange, Massenstreik und Schießbefehl, Generalstreik und Märzkämpfe in Berlin 1919, Münster 2012.

[3][6] Unter dem Titel „Gegen den Strom schwimmen – 50 Jahre BdWi“ ist im Mai 2018 auch ein Sammelband im BdWi-Verlag erschienen – Details finden sich hier: https://www.bdwi.de /show/10629306.html.

Links:

  1. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftn1
  2. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftn2
  3. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftn3
  4. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftnref1
  5. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftnref2
  6. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftnref3

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