Von der Novemberrevolution zum „deutschen Oktober"

Bekanntes und Unbekanntes aus der Novemberrevolution 1918/19

von Klaus Gietinger
September 2018

Die Revolution des November 1918 ließ zwar die Kronen purzeln und führte zu einer parlamentarischen Demokratie. Doch weder wurden die militaristischen Strukturen des Kaiserreiches zerstört, noch die Verwaltung demokratisiert noch irgendwelche Industrien vergesellschaftet. Der Frühling des 20. Jahrhunderts kam nicht, sondern gut 14 Jahre später der Faschismus.

Es gibt zwei Hauptgründe für das Scheitern:

1. Die Spaltung der Arbeiterbewegung

2. Das exzessive Ausmaß der konterrevolutionären Gewalt und deren Billigung bzw. Forcierung durch die SPD-Führung.

Beides soll betrachtet werden, wobei jedoch der Schwerpunkt auf Punkt 2 liegt.

Es wird in diesem Zusammenhang auf bisher kaum oder wenig oder falsch betrachtete Aspekte der Zusammenarbeit von SPD-Führung und der alten Militärführung bzw. den Freikorps hingewiesen

Spaltung 1

Der Hauptspaltungsgrund der Arbeiterbewegung war die Billigung des imperialistischen Krieges durch die Führung und die Fraktion der SPD im August 1914.

Spaltung 2

Doch es gab eine zweite Spaltung, diese schwelte schon länger im Untergrund der Sozialdemokratie. Es ging um die Frage des Massenstreiks. Massenstreik gegen die Bourgeoisie und gegen den Krieg, ja oder nein.

Dieser zweite Riss lag quer zum Riss aufgrund des Krieges, er ging auch durch die USPD:

Bestes Beispiel sind die Altvordern Eduard Bernstein und Karl Kautsky, die sich 1917 der USPD anschlossen, aber Revisionisten bzw. Zentristen waren und vor allen Dingen Feinde von Massenstreikaktionen.

Spätestens im Dezember 1918 kam im ganzen Land noch die Frage hinzu: Rätemacht, ja oder nein?

Spaltung 3

Eine kleine, eher sektiererische Gruppe, Spartakus mit Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, hatte zwar relativ wenig Einfluss an der Basis der Arbeiterbewegung, aber umso größer war ihre publizistische Außenwirkung. Auch sie gehörten bis zum Jahreswechsel 1918/19 der USPD an. Kaum assoziiert waren hier die Bremer Linksradikalen, die als eine weitere Gruppe gesehen werden kann.

Eine vierte Gruppe mit Draht zur USPD bildeten die Revolutionären Obleute, die sich erst im Laufe des Krieges aufbauten. Sie sympathisierten zwar mit dem linken Flügel der USPD, agierten aber unabhängig und hatten eine Massenbasis. Sie arbeiteten außerdem mit der Spartakus-Gruppe zusammen, konkurrierten teils jedoch, warfen ihr „revolutionäre Gymnastik“ vor, ja mieden kurz vor der Novemberrevolution jeden Kontakt mit den Leuten, da die Gruppe von der Polizei weitgehend zerschlagen und mit Spitzeln durchsetzt war. Gleichzeitig setzten sie ihre Hoffnungen zu sehr auf Kongresse und vor allem ihr Führer Richard Müller liebte die unendliche Diskussion.

Nochmals quer dazu standen die syndikalistischen, parteiunabhängigen Bewegungen im Ruhrgebiet, die noch kaum erforscht sind.

So hat man mindestens drei Brüche innerhalb der Arbeiterbewegung, Ein gemeinsames Handeln links von der SPD-Führung und ihrem Anhang war daher trotz der massenhaften Radikalisierung aufgrund der arbeiterfeindlichen Handlungen der SPD-Regierung sehr schwer zustande zu bringen.

Verbürgerlichung der SPD

Zentral auf der rechten Seite der SPD war:

Die Verbürgerlichung der Arbeiterbürokraten, der SPD-Führung. Stellvertretend stehen hierfür die Namen Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann, Gustav Noske, Wolfgang Heine, Otto Wels, Eduard David, Otto Landsberg, Otto Braun, Ernst Heilmann, Albert Südekum, Eugen Ernst sowie die Gewerkschafter Gustav Bauer und Carl Legien und der Parteipublizist Georg Stampfer. Seit dem „Vorwärts“-Putsch 1916, d.h. der Ausschaltung der sozialdemokratischen Kriegsgegner in der zentralen Zeitung der SPD, beherrschten sie nicht nur fast alle Parteigremien, sondern auch die gesamte sozialdemokratische Presse.

Sie huldigten während des Krieges mehr oder minder dem Fetisch Nationalismus, liebäugelten mit Imperialismus, Annexionen und Kolonialismus, ja hatten teils völkische Züge. Und sie schafften schon während des Krieges Netzwerke mit den Großkapitalisten (Hilfsdienstgesetz 1916) und der Obersten Heeresleitung.

Auslöser Kiel – Von Revolution und Konterrevolution

Neuere Forschungen von Ottokar Luban[1], Ralf Hoffrogge[2] u. a. haben zu Recht die Rolle der Revolutionären Obleute beim Auslösen der Revolution in den Vordergrund gerückt.

Gleichwohl war der Auslöser die Marinemeuterei in Kiel und den Küstenstädten. Bekannt ist auch, dass Noske als Bremser nach Kiel geschickt wurde, dort die Ausbreitung des Aufstandes zwar nicht verhindern konnte, ihm aber dann sehr schnell ein Abwürgen des Revolutionsherdes gelang.

Weniger bekannt ist, dass er schon zu dieser Zeit Deckoffiziersbrigaden (die sog. „Eiserne Brigade“) gegen die Revolution aufstellen ließ und gleichzeitig sich die desavouierten Offiziere schon auf Hauptmannsebene (Marinebrigade Ehrhardt, Marinebrigade Loewenfeld u. a.) in hoch aggressiv aufgeladenen Freikorps organisierten.

Kumpanei mit dem Kriegsminister

Nachdem die SPD-Führung in Berlin am 9. November die Massen nicht mehr von den Straßen bekam, kaperte sie die Kanzlerschaft, versuchte die Monarchie zu retten und bis zum letzten Moment die Revolution zu verhindern. Dies ist bekannt.

Weitgehend unbekannt dagegen ist, dass der designierte Reichskanzler Ebert sogleich versuchte, die militärischen Gewalten in der Hauptstadt in seine Hände zu bekommen.

Von der historischen Forschung – bis auf Ernst-Heinrich Schmidt – unbeachtet blieb bisher: Wels und Ebert erbaten sich schon am 9. November vom preußischen Kriegsminister Heinrich Schëuch Unterstützung für ihre Bremser-Politik, die dieser auch gewährte. Mit von ihm zur Verfügung gestellten Sicherungsmannschaften ließ Wels als neu eingesetzter Stadtkommandant der Hauptstadt die Zufahrtsstraßen kontrollieren und die Bahnhöfe besetzen. Sogar junge Offiziere stellten sich seiner Truppe am 10. November zur Verfügung:[3] Es gab also in Berlin Freikorps schon am zweiten Tag der Revolution. Schëuch dagegen zog die Uniform aus und wirkte in Zivil. Im Gegensatz zum späteren Oberbefehlshaber Noske (im März 1919) verhinderte der gemäßigte Militarist jedoch Anfang November 1918, dass von Flugzeugen aus mit revoltierenden Matrosen angefüllte ankommende Züge beschossen wurden, wie es der General Alexander von Linsingen beabsichtigt hatte. Gleichzeitig standen Schëuchs Militärfahrzeuge am ersten Tag der Revolution, dem 9. November 1918, und das Telefonnetz des Kriegsministers Wels für dessen „Werbekampagne“ bei den Soldatenmassen gegen die „Linken“ zur Verfügung.[4]

Schon am 9. November hatte Wels verhindert, dass Heimattruppen, hier die Naumburger Jäger, auf die Massen schossen[5], was zweifellos ein Massaker und danach verstärkte revolutionäre Gewalt hervorgerufen hätte. Das ist bekannt.

Weniger bekannt ist, dass Wels die Naumburger Jäger sofort für sich und die SPD-Führung gewann. Eine andere kaiserliche Truppe, die so genannten „Maikäfer“, das Garde-Füsilier-Regiment, waren diejenigen, die am 6. Dezember die erste wirkliche Gewalt gegen die Massen ausübten und wahllos in eine Demonstration schossen, wobei auch zahlreiche Passanten in einer Straßenbahn getötet wurden. Auch dies unter Wels’ Kommando.

Der zweite Tag

Friedrich Wolf macht in seinem Drama Die Matrosen von Cattaro klar, dass der zweite Tag einer Revolution der Wichtigste ist.

Der zweite Tag war der 10. November 1918.

Die SPD-Führung bzw. die Gewerkschaftsführung organisierte in der Nacht vom 9. auf den 10. November ihre Basis, die Betriebszellen, die sie ab 1916 klugerweise Stück für Stück reaktiviert hatte.

Als Fetisch diente hier der Ruf nach Einheit. Dies ist bekannt, wird aber oft wenig beachtet.

Fast gar nicht bekannt ist:

Mit den Arbeiter- und Soldatenräten (darunter waren ebenfalls Offiziere), von der SPD-Führung agitiert und instruiert, machte man im Circus Busch eine Generalprobe. Nichts sollte dem „Zufall“ überlassen werden, wie ein späterer SPD-Kanzler 1928 erzählte.[6] Die Linken wollten sie überrumpeln, trichterte man den politisch Unerfahren ein, und die Einheit und die Einberufung einer Nationalversammlung sei das Wichtigste. Und die Linken hatten geschlafen. Statt die Soldatenräte, die erst in der Nacht in den politischen Willensbildungsprozess gedrängt hatten, zu agitieren diskutiert man – statt zu handeln.

Im Circus Busch wurden Liebknecht und die Obleute ausgestochen.

Doch eine Regierung SPD/USPD und ein Vollzugsrat waren zu diesem Zeitpunkt auch von Ebert et al. nicht zu verhindern. Deswegen flüchtete er sich, noch als kurzzeitiger neuer „Reichskanzler“ und dann als führender Volksbeauftragter der neuen paritätischen SPD/USPD-Regierung, erst mal in den Schutz des Kriegsministeriums. Ebert und Wels belegen mit ihren Handlungen, dass sie von Anfang an auf die alten Militärs setzten. Hier arbeiteten sie zunächst mit dem gemäßigteren Kriegsminister zusammen, den sie wie selbstverständlich im Amt ließen.

Ein Fehler der Linken:

Liebknecht lehnte den Eintritt in Regierung und Vollzugsrat, unter dem Druck der Spartakusgruppe, ab.

Bekannt ist das in der Nacht vom 10. auf den 11. November geschlossene Bündnis zwischen Friedrich Ebert und Wilhelm Groener (Chef der Obersten Heeresleitung, OHL).

Dessen Ziel war nicht nur die Demobilisierung, sondern die „Bekämpfung des Bolschewismus“[7].

Dass die Demobilisierung tatsächlich von den Soldatenräten organisiert wurde, blieb bei Ebert ausgeblendet bzw. war für ihn als Massenfeind nicht vorstellbar.

Doch die Behauptungen von der SPD nahestehenden Historikern, es sei bei dem Bündnis Ebert-Groener erst nur um die Demobilisierung gegangen[8], wird durch Folgendes Lügen gestraft:

1. Der Versuch Eberts, das Militär der Hauptstadt, die Heimatarmee, sofort am 9. November durch Erlass in die Hand zu bekommen – und in keine andere, etwa die der USPD, gelangen zu lassen.

2. Die Zusammenarbeit mit dem Kriegsminister und das Schutzsuchen bei ihm.

3. Wels’ Benutzung der Struktur, Telefone, Telegrafen, Fahrzeuge und der Offiziere des Kriegsministeriums zum Bremsen der Revolution und Besetzen strategischer Punkte.

4. Das gleichzeitige Aufstellen konterrevolutionärer Marinebrigaden in Kiel durch Noske.

Auch kaum bekannt ist:

Die USPD in der Regierung wusste von den Kontakten Eberts mit Groener und stimmte zu. So kam es am 18. November zur Wiedereinsetzung der Befehlsgewalt der Offiziere mit dem Segen der USPD.

Wiederum zu wenig beachtet ist auch in der neueren Forschung:

Die OHL versuchte mit dem Truppeneinmarsch des Feldheeres (10. Dezember 1918) – mit Wissen Eberts – einen Putsch gegen die Arbeiter- und Soldatenräte.

Ebert verheimlichte die Putschvorbereitungen, die ihm in Gänze bekannt waren, vor seinen Kabinettskollegen und – selbstverständlich – den Räten. Und – auch dies wird immer ausgelassen, obwohl der DDR-Historiker Erwin Könnemann es schon 1968 entdeckt hatte – er ließ sich seine Begrüßungsrede von Major Kurt von Schleicher vorgeben.[9] Auch die Wendung Eberts in seiner Rede an die heimkehrenden Truppen: „Im Felde unbesiegt“ stammt von Schleicher, dem späteren Reichskanzler (1932/33) und Steigbügelhalter Hitlers, der somit Ebert als einen der Begründer der Dolchstoßlegende inszeniert hatte.

Gleichzeitig forderte die OHL von Ebert, einen Zwist mit den USPD-Volksbeauftragten anzuzetteln.

Der Putsch scheiterte und konnte den Reichsrätekongress nicht verhindern.

Aber schon zu dieser Zeit entschlossen sich Ebert und die OHL zum Aufbau von Freikorps.

Rätekongress – die missachteten Beschlüsse

Der Rätekongress vom 16. – 19. Dezember beschloss die Nationalversammlung. Das freute Ebert und er akzeptierte es mit Kusshand. Das ist bekannt.

Schon nicht mehr so bekannt sind – der irische Historiker Mark Jones vergisst dies ganz[10] – die „Hamburger Punkte“ und der Umstand, dass diese nur durch das Eingreifen revolutionärer Soldatenräte unter der Führung Heinrich Dorrenbachs (von der Volksmarinedivision) im Kongress durchgesetzt werden konnten.

Ziel dieser Punkte war nicht nur die Wahl der Offiziere und das Ablegen von Abzeichen, sondern eindeutig auch die Zerschlagung des deutschen Militarismus. Dies mit überwältigender Mehrheit, auch und gerade mit den Stimmen der SPD-Räte.

Ebert verhinderte zusammen mit Generalleutnant Groener (der im vollen Wichs in der Reichskanzlei auftrat) und in großer Einheit mit diesem die Umsetzung der Hamburger Punkte.

Kaum bekannt ist ein weiterer revolutionärer Fehler: Die USPD-Volksbeauftragten versagten in dieser Sitzung und ließen sich von Ebert und Groener mit Hinweis auf Lenin und Trotzki den Schneid abkaufen. Die Demokratisierung der Armee wurde auf den St. Nimmerleinstag verschoben.

Ein weiterer gravierender Fehler ist bekannt: Die USPD verweigerte die Mitarbeit im Zentralrat, dem Folgeorgan des Vollzugsausschusses.

Weihnachtskämpfe

Viele Details über die Weihnachtskämpfe 1918 sind bekannt.[11]

Die SPD-Führung und in deren Auftrag Wels wollten die Volksmarinedivision loswerden.

Unbekannt ist: Das Feuer auf die Matrosen, die mit Wels verhandeln wollten, kam auch aus der Universität: Es war eine Provokation durch die Garde-Kavallerie-Schützendivision (GKSD), die unter dem faktischen Kommando von Hauptmann Waldemar Pabst stand und hier ihren Befehlsstand hatte.[12]

Bekannt ist: Der Angriff aufs Schloss durch noch-kaiserliche Truppen im Auftrag Eberts wurde durch die Volksmassen verhindert.

Weniger bekannt ist, dass hier Gasgranaten eingesetzt wurden.[13] Zum ersten Mal im Innern Deutschlands. Und dass es Überlegungen gab, sie auch gegen die Zivilbevölkerung zu verwenden.

Die letzte Niederlage der Konterrevolution lehrte diese den Aufbau der Freikorps voranzutreiben. Hier wieder in Kooperation von OHL und SPD-Führung.

Die USPD verabschiedete sich bekanntlich Weihnachten 1918 aus der Regierung. Noch ein Fehler. Damit ging sämtlicher Einfluss in den Regierungsgremien verloren.

Januaraufstand

Während des Januaraufstands versagte nicht nur der Revolutionsausschuss, blieb das Heimatheer inkl. der Volksmarinedivision entgegen den Versprechungen Dorrenbachs neutral und agierten Liebknecht (aber auch Luxemburg) wirr, sondern es gelang auch Ebert durch geschicktes Taktieren mit den Verhandlern von der USPD (Bernstein/Kautsky/Louise Zeitz), Zeit zu gewinnen für die Aufrüstung der Freikorps durch Noske. Dessen berühmter Ausspruch ist bekannt.

Wenig bekannt ist, dass Noske am 6. Januar 1918 mit einer absoluten Blankovollmacht ausgestattet wurde, alle Handlungen zu tätigen um den Aufstand niederzuwerfen.

Er bediente sich seines rührigsten Offiziers Hauptmann Pabst und dessen und anderer Streitmächte aus Panzern, Kanonen, Flugzeugen, Flammen- und Minenwerfern, Maschinengewehren und Gasgranaten. Auch dies eine Premiere. Erstmals in Deutschland wurden solch moderne Vernichtungswerkzeuge gegen die eigene Zivilbevölkerung bereitgestellt.

Und Noske ließ den Truppen – im Gegensatz zum Kriegsminister Anfang November – in der dicht besiedelten Großstadt mit allen Waffen freien Lauf. Die präfaschistischen Freikorps begannen ihre Massaker.

Im Januaraufstand wurden die ersten äußerst brutalen rechtswidrigen Exekutionen durch Regierungstruppen getätigt; die Mörder blieben straffrei.

Wenig bekannt ist, dass der sozialdemokratische Redakteur Stampfer in der Dragoner-Kaserne am 11. Januar 1918 die Exekution von Hilde Steinbrink, die für Rosa Luxemburg gehalten wurde, verhinderte, jedoch gegen die bestialische Exekution der so genannten „Vorwärts“-Parlamentäre nichts unternahm, ja sogar später leugnete, davon gewusst zu haben, und Spartakus dafür verantwortlich machte.[14]

Inzwischen ist bekannt, aber wird immer noch von der SPD geleugnet: Luxemburg und Liebknecht wurden auf Befehl Waldemar Pabsts und mit stillschweigender Billigung Noskes von Offizieren der GKSD ermordet, die Täter von der Regierung und den die eigentliche Macht habenden Freikorps geschützt. Die GKSD saß über sich selbst zu Gericht. Die Mörder kamen frei, wurden reichlich mit Geld versorgt. Und die SPD-dominierte Weimarer Koalitionsregierung stand Schmiere. Noske verhinderte aus gutem Grund Nachuntersuchungen.[15]

Zu wenig beachtet wird weiterhin: Die Zerschlagung des Januaraufstandes mit brutalster Gewalt wirkte äußerst demoralisierend und traumatisierend auf die Arbeiterbewegung.

Restdeutschland

Ein weiterer großer Fehler: Es gab praktisch keine wirksame Koordination der parallel laufenden Streiks im Ruhrgebiet, in Thüringen, Sachsen und schließlich Berlin Anfang 1919.

Die wichtigsten Ziele lauteten: Zerschlagung des Militarismus, wie im Rätekongress beschlossen; sofortige Sozialisierung; Erhalt der Räte; Bestrafung der Weltkriegsverbrecher und der Mörder von Liebknecht, Luxemburg und anderen.

Lange Zeit wenig, in jüngster Zeit aber wieder verstärkt beachtet wird die Tatsache, dass sich überhaupt unabhängig von den Parteien Räte- und syndikalistische Strukturen bildeten, die die Arbeiterparteien allesamt unter Druck setzten. Dies vor allem im Ruhrgebiet.

Auch wurde bei gleichzeitigem Angebot von faulen Kompromissen durch SPD-Kommissar Carl Severing konsequent militärische Gewalt eingesetzt (General Watter).

In Bremen wurde – was auch wenig bekannt ist – völlig kompromisslos durch Noske und seine Freikorps Gewalt ausgeübt, obwohl die Räte dort bürgerliche Wahlen, Waffenabgabe und Verhandlungen anboten. Ein von den Bremern mit den Freikorps in Verden geschlossener Waffenstillstand wurde von Noske und seinen SPD-Bütteln, denen man die Macht in Bremen versprach, gebrochen.

Schließlich gab es in Berlin im März die absolute Steigerung des Regierungs-Terrors.

Der Verlauf des März-Streiks und -Kampfs, die zweite Revolution, ist durch neuere Studien[16] inzwischen sehr gut erforscht. Alle diese Forschungen unterschätzen aber die beispiellose Gewaltmaschinerie, die durch die Verbindung Ebert/Groener und konkret Noske/Pabst im März 1919 zustande kam.[17]

Der Noske/Pabst’sche Schießbefehl, durch Fake-News der GKSD und anderer unterfüttert, stellt die Einführung des Terrors in die deutsche Innenpolitik dar. Die Tötung von Gefangenen, von wahllos Aufgegriffenen und Unschuldigen, ja Kindern, war innerhalb Deutschlands ein bislang beispielloser Vorgang.

Was auch neuere Arbeiten nicht beachten: Dieser Schießbefehl war nicht einmal vom Preußischen Belagerungszustand von 1851 gedeckt. Er stellt einen reinen Massenmordbefehl dar und hat mit standrechtlicher Erschießung oder Standrecht nichts zu tun, das auch im preußischen Belagerungszustand genau geregelt war und einen Verteidiger, mehrere Richter und eine höhere Berufungsinstanz notwendig machte, die erst nach 24 Stunden eine Entscheidung fällen durfte.

Weiter unbekannt ist, dass Noske auch den noch verschärften eigenen Mord-Befehl Pabsts billigte. Wohnte jemand in einem Haus, in dem Waffen gefunden wurden, oder war er nur irgendwie verdächtig, ein Roter zu sein, konnte er erschossen werden. Als dies im Kabinett bekannt wurde, bat man Noske, sich solche Befehle künftig zeigen zu lassen.[18] Das war’s, mehr Einwände hatte die Regierung Scheidemann nicht gegen das Abmurksen ihrer Wähler.

Noch weniger bekannt: Noske versicherte nach den Märzkämpfen seinen Offizieren, dass er diese „vielleicht nicht ganz gerechtfertigten“[19] Erschießungen nicht verfolgen lassen werde (so wie er die juristische Verfolgung der Luxemburg/Liebknecht-Mörder unmöglich gemacht hatte). Dies stachelte die Offiziere an und sie gingen wie selbstverständlich davon aus, dass der Schießbefehl auch im Mai 1919 in München gelte und 1920 im Ruhrgebiet, obwohl er schon im März 1919 von Noske zurückgenommen worden war. Doch auch diese Interpretation der Mordbefehle billigten Noske bzw. die Regierung.

Tausende völlig unschuldige Opfer waren die Folge.

Aber auch die Exekutionen der Kämpfer waren rechtswidrig. Nochmals: Dies waren keine standrechtlichen Erschießungen, sondern dies war Mord. Auch hier führten bei meist lascher juristischer Verfolgung der Mörder persönliche Zeugenaussagen Noskes (als er schon abgesetzt und Oberpräsident in Hannover war) zu Freisprüchen.

All dies wurde von der SPD-Regierung bzw. der Weimarer Koalition und der SPD-Fraktion im Reichstag und in Preußen unter Beifall abgesegnet.

Auch die Massaker in München im Mai 1919 und im Ruhrgebiet im März 1920 bei der Niederschlagung der dritten Revolution blieben ohne Folgen.

Diese Massaker und der Noske/Pabst-Befehl können eindeutig als Wegbereitung des Faschismus bezeichnet werden. Zumal sich München dadurch zum Zentrum der faschistischen Bewegung entwickeln konnte und die rechte SPD-Regierung Hoffmann dort im Zuge des Kapp-Putsches erfolgreich beseitigt wurde.

Kaum bekannt ist, dass Noske eine solche grundsätzlich rechtswidrige Praxis (Aufständische mit der Waffe in der Hand sind sofort zu Erschießen), als sie 1907 insgeheim in der Militärführung des Kaiserreiches diskutiert und in einen Geheim-Befehl umgewandelt wurde, noch 1911 im Reichstag bekämpft hatte.[20] 1919/20 handelte er ganz genauso.

Kaum bekannt ist zudem (und auch Wolfgang Niess[21] und Joachim Käppner[22] lassen dies in ihren sonst durchaus diskutablen Büchern aus): Ebert billigte direkt und ausdrücklich nach den Märzmassakern diese Praxis des militärischen „Zugreifens“: „Dass je rascher und durchgreifender dieses erfolgt, umso weniger Widerstand und Blutvergießen zu erwarten ist, hat schon die Erfahrung an anderen Stellen gelehrt.“[23]

Er übernahm hier fast wortwörtlich Hindenburgs Strategie, die wiederum Goebbels in ein Transparent 1943 im Berliner Sportpalast einfließen ließ: „Totaler Krieg ist kürzester Krieg“.

Und Freikorps-Kommandeure, die zwar auch rassistisch, völkisch und mit Gewalt handelten, um die Räte und USPD-dominierten Landesregierungen zu zerschlagen, die aber versuchten, Massaker zu vermeiden (wie General Maercker) wurden von profaschistischen Kommandeuren wie Hermann Ehrhardt (die schon das Hakenkreuz am Stahlhelm trugen) als Kompromissler bezeichnet[24]: weil sie die Ebert’sche Maßgabe des „durchgreifenden Zugreifens“ – was nichts anderes als Massaker bedeutete – eben nicht verfolgen wollten.

Geheime Hinrichtungsvorschriften

Und ebenfalls nahezu unbekannt: Es gab geheime Ausarbeitungen der Weimarer Koalition für den Artikel 48 in der Weimarer Verfassung, in der diese inhumane, präfaschistische Praxis auf Druck Noskes festgeschrieben werden sollte. Sie dienten dann später Hitler als Vorbild für seinen Kommissarbefehl und den Barbarossabefehl.

Noske war die präfaschistische Figur par excellence, die gestützt von Ebert somit auch als Vorläufer der Nazis gelten kann. Nicht umsonst nannte ihn Hitler 1933 eine „Eiche unter diesen sozialdemokratischen Pflanzen“.[25]

Völlig unbekannt und von der Forschung praktisch ignoriert wird die Tatsache, dass sich Deutschland schon 1919/20 zu einer durchmilitarisierten Gesellschaft mit einer Million Waffenträgern, Kasernierter Polizei (Sipo), Einwohnerwehren, Zeitfreiwilligenverbänden, Technischer Nothilfe, Wehrbauern (Freiwilligendank)[26] unter dem Schutz und Schild der Sozialdemokratie entwickelt hätte, wären nicht die Alliierten eingeschritten und hätten das Verbot all diese Verbände durchgesetzt. Die sich dann entwickelnde „schwarze Reichswehr“ war längst nicht so groß und schlagkräftig, wie die von den Militärs beabsichtigte und von der SPD gebilligte Volksgemeinschaftsmilitarisierung. Sie verhindert zu haben ist ein großes Verdienst der Alliierten. Die Arbeiterbewegung war zu schwach, bzw. zu gespalten um dem Militarismus und den rechten SPD-Führern nach dem Ersten Weltkrieg die Rote Karte zu zeigen.

Fazit

Zu wenig Einigung und Koordinationen bei den Arbeitern,
zu wenig Stromstärke bei der Gewalt der linken Kämpfer.

Präfaschistische Elemente in der SPD-Führung, deren Pakt mit der Konterrevolution im März 1919 schon nicht mehr zu besiegen war.

Somit gab es faktisch 1918 keinen Sommer, nur einen Herbst, der auf den kurzen Frühling folgte. Der Winter des Faschismus ist schon hier zu ahnen, auch wenn er selbst nach diesen Massakern noch nicht zwangsläufig folgen musste.

[1] Siehe Ottokar Luban, Die Novemberrevolution 1918 in Berlin. Eine notwendige Revision des bisherigen Geschichtsbildes. In: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin, H. 2009/I, S. 53-78.

[2] Siehe Ralf Hoffrogge, Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution, Berlin 2008.

[3] Ernst-Heinrich Schmidt, Heimatheer und Revolution 1918. Die militärischen Gewalten im Heimatgebiet zwischen Oktoberreform und Novemberrevolution, Stuttgart 1981, S. 391ff., 393.

[4] Schmidt, Heimatheer, S. 408, auch das Zitat.

[5] Siehe Joachim Käppner, 1918 – Aufstand für die Freiheit. Die Revolution der Besonnenen, München 2017, S. 185f.

[6] Hermann Müller-Franken, Die Novemberrevolution, Berlin 1928, S. 69.

[7] Wilhelm Groener, Lebenserinnerungen, zitiert nach Lothar Berthold/Helmut Neef, Militarismus und Opportunismus gegen die Novemberrevolution, Berlin 1978, S. 418.

[8] Z. B. Walter Mühlhausen, Friedrich Ebert 1871 – 1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006, S. 110f.

[9] Brief Schleichers, Nachlass Schleicher, BArch-MA, N 42/11, Bl. 5, abgedruckt bei Erwin Könnemann, Der Truppeneinmarsch am 10.12.1918 in Berlin, Neue Dokumente zur Novemberrevolution, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Bd. 12, 1968. S. 1602.

[10] Mark Jones, Am Anfang war Gewalt, Berlin 2017, S. 114.

[11] Eine neuere Quelle dazu: Gerhard Engel, Aufzeichnungen des Kommandanten der Volksmarinedivision Fritz Radtke, November/Dezember 1918, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, H 2008/III, S.74 – 85.

[12] Kriegstagebuch der GKSD, 23.12.1918, Bl. 139, Nachlass Pabst, SAPMO-BArch, NY 4035/1.

[13] Hugo Haase gab dies in einer Regierungssitzung zu Protokoll, Susanne Miller/Heinrich Potthoff (Bearb.), Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19 (RDVB), Düsseldorf 1968, Bd. 2, S. 100.

[14] Klaus Gietinger, November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts, Hamburg 2018, S. 123f.

[15] Ders., Eine Leiche im Landwehrkanal – Die Ermordung Rosa Luxemburgs, Hamburg 2009, passim [Neuauflage im Herbst 2018, die englische Ausgabe erscheint im Januar 2019 bei Verso, London/New York].

[16] Siehe Axel Weipert, Die Zweite Revolution. Rätebewegung in Berlin 1919/1920, Berlin 2015; Dietmar Lange, Massenstreik und Schießbefehl, Generalstreik und Märzkämpfe in Berlin 1919, Münster 2012; Mark Jones, Am Anfang war Gewalt, a.a.O.

[17] Folgendes ausführlich in Klaus Gietinger, November 1918, a.a.O., S. 155 – 198.

[18] Akten der Reichskanzlei, Kabinett Scheidemann, Dokument 17, S. 67f. http://www.bundesarchiv.de/ aktenreichskanzlei/1919-1933/m11/sch/sch1p/kap1_2/kap2_20/para3_4.html; siehe auch Klaus Gietinger, Der Konterrevolutionär. Waldemar Pabst - eine deutsche Karriere, Hamburg 2008, S. 147ff., hier S. 153 und S. 389.

[19] Siehe ders., November 1918, a.a.O., S. 181.

[20] Siehe ebd., S. 158f.

[21] Siehe Wolfgang Niess, Die Revolution von 1918/19. Der wahre Beginn unserer Demokratie, Berlin u. a. 2017.

[22] Siehe Joachim Käppner, 1918 – Aufstand für die Freiheit, a.a.O.

[23] Ebert, BArch-Berlin, R 601/617, Bl. 24 und R 43 I/2212, zitiert nach Walter Mühlhausen, Friedrich Ebert, a.a.O,, S. 291; siehe auch leicht abweichend: Herbert Michaelis/Ernst Schraepler (Hrsg.), Der Weg in die Weimarer Republik. Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart, Bd. 3, Berlin 1958, S. 126, Dokument 607..

[24] Claus Kristen, Ein Leben in Manneszucht. Von Kolonien und Novemberrevolution. „Städtebezwinger“ Georg Maercker, Stuttgart 2018, S. 198.

[25] Hitler in seiner Sportpalastrede am 2. März 1933, laut Völkischer Beobachter vom 3.3.1933, zitiert nach Wolfram Wette, Gustav Noske – Eine politische Biographie, Düsseldorf 1987, S. 756.

[26] Siehe Klaus Gietinger, Der Konterrevolutionär, a.a.O., S. 167-187, mit zahlreichen Belegen.