Berichte

Revolte, Aufstand, Revolution

Marburg/Biedenkopf, 19. bis 23. März 2012

von Alan Ruben van Keeken
Juni 2012

Revolutionstheorie und -Praxis sind und waren seit dem Kommunistischen Manifest fester Bestandteil von marxistischer Wissenschaft und kommunistischer, sozialistischer Politik; der arabische Frühling, der Widerstand in Peripherie und Metropolen gegen Spardiktate und autoritär-technokratische Demokratie- und Herrschaftskonzepte haben sie der seit 89‘ defensiven Linken wieder verstärkt ins Gedächtnis gerufen. Das gilt auch für die schon zum fünften Mal veranstaltete marxistische Studienwoche, bei der sich unter dem Eindruck der „Arabellion“ und ihrer ambivalenten Ergebnisse Revolution als Thema für das nächste Winterkolloquium durchsetzen konnte.

Eingeladen zu diesem hatten die Heinz-Jung-Stiftung und die Zeitschrift Z unter dem Motto „Revolte, Aufstand, Revolution“ in der Woche vom 19. bis 23. März; dem Ruf gefolgt waren rund 20 Studierende, Interessierte aus verschiedensten politischen Zusammenhängen und mehrere Referent/innen aus fast ganz Deutschland; mit Dr. Amy Holmes erhielt die Studienwoche diesmal auch internationale Unterstützung.

Zum Einstieg referierte Frank Deppe zum (marxistischen) Revolutionsbegriff, den er in seinen historischen und theoretischen Dimensionen fassbar machte. Er schlug dabei den großen Bogen von verschiedenen Definitionen (beispielsweise. der von Marx aus dem Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“ von 1859, nach denen alle bisherigen Revolutionen „frühreife“ gewesen wären) über die Bewertung mannigfaltiger Umbrüche von der Pariser Kommune zu den „Orangenen Revolutionen“ bis hin zu klassentheoretischen Fragen, die sich im Laufe der anschließenden Diskussion vor allem auf die Definition des „Volkes“ und die Suche nach dem revolutionären Subjekt konzentrierten.

Der Vertiefung der historischen Aspekte nahm sich am nächsten Tag Wolfgang Küttler vermittels des marxistischen Formations- und Fortschrittsbegriffes an. Er konzentrierte sich dabei zum einen auf die verschiedenen formationstheoretischen Periodisierungen und ihre komplexen Verquickungen mit gesellschaftlichem Umwälzungen und zeichnete im zweiten Teil die Grundlagen des marxistischen Fortschrittsbegriffes nach, nicht ohne kritische Ergänzungen und Einschränkungen, wie beispielsweise das Phänomen der „passiven Revolution“ bei Antonio Gramsci oder die Problematik des Gegensatzes von Universal- und Globalgeschichte.

Mit dem nächsten Block formulierte Lothar Peter die Frage, ob die gesellschaftliche Linke von der antikapitalistischen Postmoderne und ihren Theoretikern (er bezog sich dabei explizit auf Badiou, Žižek, Onfray und Holloway) lernen könne und stellte mit der Dekonstruktion identitärer Begriffe (unter anderem Staat, Nation, Arbeiterklasse) und der Bewahrung einer post-kapitalistischen Perspektive Gemeinsamkeiten der heterogenen Theoretiker heraus. Auch wenn gewisse Punkte ihrer Programmatiken, von quasi-idealistischer „kommunistischer Hypothese“ (Badiou) bis zum nicht unproblematischen Lustprinzip von Michelle Onfray kritisiert wurden, fanden sich auch Ansätze, die als Impulse oder als Erinnerung an Kernelemente marxistischer Philosophie Zuspruch fanden.

Mit einem Überblick über Probleme und Geschichte der Revolutionen in der Peripherie knüpfte Dieter Boris an die Diskussion um „frühreife Revolutionen“ an und konzentrierte sich dabei auf die Rolle von Gewalt und Demokratie, die schwierigen politischen Lernprozesse und die Frage, warum entgegen Marx’ Vorhersagen das Gros der Revolutionen in rural geprägten „Entwicklungsländern“ ausbrach und eben nicht in den am weitesten entwickelten kapitalistischen Ländern. Die von Boris ebenfalls problematisierten Versuche und Schwierigkeiten dieser Länder, sich nachträglich zu kapitalisieren oder die Mangelökonomie zu überwinden, wurden im Plenum anhand von Kuba und der Einbindung in die Blöcke des 2. Weltkrieges weitergehend auseinandergesetzt.

Leider etwas gedrängt, aber mit nicht weniger Sachkenntnis und Diskussionen im Anschluss beschäftigten sich Ivesa Lübben, Amy Holmes und Werner Ruf mit dem Verlauf und den Ergebnissen der „Arabellion“, wobei der Schwerpunkt klar auf Ägypten lag. So stellte Werner Ruf die Einmischungen der arabischen Liga und des Westens in die (nach)revolutionären Prozesse dar und sprach von einer in Gang gekommenen Konterrevolution. Amy Holmes klärte Fünf Mythen der Revolution („Das Militär war neutral“, „Es war eine Facebookrevolution“), informierte über die ägyptische Arbeiterbewegung und antimilitaristische Strömungen(„Anti-SCAF“). Ivesa Lübben lieferte ein differenziertes Bild der verschiedenen islamistischen Parteien und ihrer Ausrichtung, wie den Unterschied zwischen Muslim-Bruderschaft und Salafisten, die unterschiedlich strenge Koran-Exegese und die Verhandlung wirtschaftlicher und sozialer Rechte in der neuen Verfassung.

Eine andere Sicht auf den Krisenkomplex eröffnete das Referat von Julia Dück, die mit ihrem Vortrag über die „Vielfachkrise“ ein Konzept anbot, bei dem sich in verschiedenen „Zeitlichkeiten“ befindliche, zu Krisen zugespitzte Widersprüche und Konflikte überlagern; als Beispiel nannte sie die so genannte Reproduktions- und die ökologische Krise. Diese seien nicht bloß von einem objektiven Standpunkt zu betrachten, vielmehr äußere sich eine Krise als Diskurs, als der subjektive Ausdruck und das Ergebnis gesellschaftlicher Praktiken. Mögliche Orte der Schaffung von Krisen- und letztendlich progressivem, vielleicht gar revolutionärem Bewusstsein bestimmten die anschließende Diskussion, in der das Konzept nicht ohne Kritik aufgenommen wurde.

Etwas zu kurz kamen in der Studienwoche Elemente der Selbsterarbeitung, die den „Frontalunterricht“ der Vortragspraxis aufgelockert hätten, wie die Teilnehmer/innen in der Endauswertung anmerkten. Einzig der ausgefallene Vortrag von Karl-Heinz Roth ermöglichte Arbeitsgruppen zu Theorien über aktuelle periphere Kämpfe und die Occupy-Bewegung. Ingar Soltys Text rezipierte letztere recht positiv und baute sie als Gegenbild zur Tea-Party-Bewegung auf, eine Teilnehmerin hatte zu der inneren Verfasstheit und der Begegnung zwischen traditionellen Linken und dem harten Kern von Occupy-Frankfurt recherchiert und Michael Klundts Aufsatz untersuchte die gewalttätige Manifestation neoliberaler Ideologie in den Riots in Großbritannien. Karl-Heinz Roths Aufsatz über das „Multiversum“ versuchte im Geiste einer Hilfestellung für die neuen Protestierenden eine erweiterte marxistische Klassenanalyse zu leisten.

Gisela Notz gab einen Überblick über Diskurse und Praktiken der verschiedenen Feminismen in der Revolutionsgeschichte mit einem Schwerpunkt auf emanzipatorische und proletarische Bewegungen, z.B. den mitkämpfenden Frauen im spanischen Bürgerkrieg, dem berühmten Tomatenwurf auf dem Delegiertenkongress des SDS 1968 und dem daraus resultierenden Entstehen von „Weiberräten“. Zuletzt diskutierte sie noch die Frage nach einer neuen Frauenbewegung und stellte die Notwendigkeit eines Kampfes für eine gleichberechtigte, friedliche, befreite Gesellschaft heraus.

Die Studienwoche beschloss David Salomon mit einem Rekurs auf das Sujet der Revolution in Brechts Theaterstücken aus verschiedenen Schaffensperioden. So verhandelte er die Schlussszenen von „Trommeln in der Nacht“(1918/19) und „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ als Problematisierung des revolutionären Subjektes, seiner Entstehung und der Rolle eines revolutionären Rechts. Weitergehend wurde die revolutionäre Sozialisation durch Aufstände und die Konjunkturen von kollektiver Subjektivität besprochen.

Atmosphäre und Stimmung des Kolloquiums waren kommunikativ und anregend, viele der Gespräche verblieben nicht im Plenum, sondern setzten sich während der Mahlzeiten und bis in die späten Abend- und Nachtstunden fort; da die meisten Referent/innen mehr als einen Tag blieben, konnten dort auch mehrere Generationen in einen regen Austausch von Wissen, Erfahrungen und verschiedensten Sichtweisen linker Theorie und Praxis kommen. Dabei zeigte sich bei dem Gros der Diskussionen ein hoher Grad an Reflexion und auch Zurückhaltung, was die Beurteilung der revolutionären Potenz unserer Zeit angeht, trotz Occupy-Bewegung, trotz militantem Krisenwiderstand und Arbeitskämpfen chinesischer Wanderarbeiter. Aber der Elan und das rege Interesse, mit dem die Teilnehmer/innen marxistischer Theorie begegneten, zeigte nicht nur, um es mit Gramsci zu sagen, den Pessimismus des Verstandes sondern auch den Optimismus des Willens.

Alan Ruben van Keeken

Ökologie und Mobilität

SALZ Konferenz, Kassel, 24. bis 25.März 2012

Den Auftakt zur diesjährigen Konferenz der Bildungsgemeinschaft SALZ zum Thema „Ökologie und Mobilität“ bildete ein trauriger Anlass: Der Tod von Jakob Moneta, Schirmherr von SALZ seit dem Jahr 2006. Jakob Moneta, langjähriger Chefredakteur der „metall“ und unermüdlicher Aktivist der sozialistischen Linken, war eines der letzten Bindeglieder zwischen der „alten“ kommunistischen Arbeiterbewegung vor dem 2. Weltkrieg und der heutigen sozialistischen Linken. Er hat nie „abgeschworen“ und auch nie resigniert. Seiner wurde mit einem kurzen Nachruf und einer Schweigeminute gedacht.

Klaus Engert führte mit einem kurzen Einleitungsreferat in das Thema der Konferenz (über 50 TeilnehmerInnen) ein. Er ging in erster Linie auf die historischen und materiellen Grundlagen der Entwicklung des Verkehrs und speziell die Ursachen für die allgemeine Beschleunigung mit all ihren Konsequenzen ein. Seine Grundthese: Beschleunigung und Verkehr sind die logische Folge der Notwendigkeit der Erhöhung der Umschlaggeschwindigkeit des Kapitals, und der Geschwindigkeitswahn, den wir beobachten, ist die sekundäre ideologische Folge dieser objektiven Notwendigkeit. Somit ist die notwendige Verkehrsvermeidung und „Entschleunigung“ individuell wie kollektiv ohne Systemwechsel nicht zu haben. Aber gemäß dem Motto, dass sich die neue Gesellschaft im Schoße der alten entwickelt, müssen schon heute Alternativen geschaffen werden.

Winfried Wolf gab einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Autogesellschaft. Anhand der aktuellen Daten wies er zweierlei nach: Zum einen, dass die hoch gepriesenen Verbesserungen bei den Emissionen aus Verbrennungsmotoren durch die Zunahme der Zahl der Automobile mehr als „kompensiert“ werden und trotz Peak Oil die Konzerne weiterhin massiv auf den Verbrennungsmotor setzen. Zum zweiten, dass die so genannte Elektromobilität ebenfalls eine Sackgasse ist – der Ressourcen- und Flächenverbrauch ist nicht geringer und die erforderliche Energie ebenfalls nur auf Kosten der Umwelt zu produzieren. Das Problem ist nicht der Verbrennungsmotor, sondern der Individualverkehr. Klimaschutz ist nur mit einer konsequenten Abkehr von letzterem machbar. Mit geschätzten 380.000 Verkehrstoten pro Jahr ist der Verkehr einer der größten Killer; von den Klimaeffekten einmal ganz abgesehen.

Hans-Jochen Luhmann, langjähriger Mitarbeiter des „Wuppertal Institutes für Klima, Umwelt, Energie“, ging zunächst auf den Flugverkehr ein – nach dem Schiffsverkehr die schmutzigste Art der Fortbewegung. Durch die „Sekundäreffekte“ der Triebwerke (Ozonbildung, Wasserdampf-/Wolkenbildung) ist die Klimawirkung des Luftverkehrs doppelt so hoch wie die des eigentlichen Schadstoffausstoßes, der derzeit mit 630 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent „nur“ zwei Prozent der weltweiten Emissionen ausmacht. Die Flugindustrie setzt weiter unbeirrt auf exponentielles Wachstum. Das schmutzigste Transportmittel nahm Luhmann sich anschließend vor: den Schiffsverkehr. Auch hier sind exorbitante Steigerungen geplant, obwohl jetzt bereits die Emissionen mit 1050 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent drei Prozent des globalen Klimagasausstoßes ausmachen. Der Grund ist simpel: Schiffsverkehr ist eine Methode der Abfallverbrennung auf hoher See. Das Schweröl, mit dem die Schiffe betrieben werden, ist ein Abfallprodukt der Ölraffinerien, mit dem diese sonst nichts anfangen könnten – und entsprechend schmutzig.

Das grundsätzliche Problem, das Flug- wie Schiffsverkehr gemeinsam haben, ist das Fehlen grenzüberschreitender Regelungen, denn beide Verkehrsformen sind rechtlich gesehen sozusagen extraterritorial. Deshalb wachsen hier die Emissionen auch überproportional. Die Entscheidung der EU, ab 2012 den Luftverkehr in den Emissionshandel einzubeziehen, ändert daran nichts, unter anderem, weil die Abgaben im Grunde peanuts sind: Ein Flug nach New York verteuert sich gerade einmal um 12 Euro.

In der Diskussion wurde kritisiert, dass Luhmann nicht davon ausgeht, dass eine Rückführung des weltweiten Verkehrsniveaus möglich sein wird. Deshalb setzt er auf Substitution von Treibstoffen (Methan, Wasserstoff), wobei er zugibt, dass z.B. niemand weiß, wohin man dann z.B. mit dem Schweröl soll, Begrenzung der Reichweite und Geschwindigkeit von Flugzeugen zur Spriteinsparung, Begrenzung der Flughöhe zur Vermeidung der Effekte auf die Tropopause und höhere Energieeffizienz. Aber auch hier werden die entsprechenden Anstrengungen durch die Zunahme des Verkehrs in der Bilanz zunichte gemacht.

Dietmar Düe stellte vorab klar, dass er als „Opelaner“ aus dem Blickwinkel der Beschäftigten in der Verkehrsindustrie eher pragmatische Ansätze verfolgt. Er plädierte für einen Umbau der Automobilindustrie mit Sicherung der Arbeitsplätze und stellte dabei drei mögliche Felder vor: Erstens Produktinnovationen – da stellte er vor allem auf die Elektromobilität ab und forderte einen Mix aus schienen- und straßengebundenem Verkehr. Zweitens „Mobilitätsdienstleistungen“ wie etwa car-sharing, oder Verleihen statt Verkaufen. Drittens die Einbeziehung von Vollrecycling in die Automobilindustrie, nach dem „cradle to cradle“-Prinzip. Er wies darauf hin, dass all dies systemimmanent machbar sei. Interessant sein historischer Rückblick: Ende der 80er Jahre war die Debatte um den Umbau der Autoindustrie bereits weiter als heute…

Die anschließende Diskussion war kontrovers. Kritisch wurde eingewandt, Düe habe den Individualverkehr zu wenig problematisiert und die Klimaeffekte der so genannten Elektromobilität überschätzt. Einig waren sich die Diskutanten aber darin, dass es ohne eine Akzeptanz schaffende Lösungsstrategie für die Beschäftigten in der Autoindustrie, einschließlich Arbeitszeitverkürzung, nicht gelingen kann, dem Klimaschutz im Automobilland Deutschland auch im betrieblich-gewerkschaftlichen Bereich zum Durchbruch zu verhelfen.

Den zweiten Tag der Konferenz eröffnete Hans Gerd Öfinger. Er machte zunächst einen Parforceritt durch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte im Verkehrsbereich, insbesondere des schienengebundenen Sektors, die gekennzeichnet waren durch einen Rückzug des schienengebundenen Verkehrs aus der Fläche zugunsten der Fernverbindungen, Privatisierung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs und Kahlschlag im schienengebundenen Güterverkehr, gekoppelt mit Abbau der Sicherheit, Lohndumping und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Seine zentrale These: Mobilität müsse als.soziale Frage begriffen werden: Nach der Freigabe der Fernverbindungen auch für Busunternehmen steht zu befürchten, dass sich eine Entwicklung abzeichnet nach dem Motto: Die Reichen fahren Bahn, die Armen Bus.

Seine Forderung nach einem Sozialticket stieß allerdings in der Diskussion auf Kritik. Einige Teilnehmer fanden das zu kurz gegriffen und plädierten für den Nulltarif im öffentlichen Verkehr. Auch das Für und Wider der schienengebundenen Systeme wurde debattiert und mögliche Kombinationslösungen mit anderen Verkehrsmitteln, zum Beispiel dem (Elektro)fahrrad.

Abschließend referierte Gisela Notz über Formen solidarischer Ökonomie als Lösungsansatz für das Mobilitätsproblem. Sie konzentrierte sich auf den Beitrag von alternativen selbstverwalteten und egalitären Projekten zu Verkehrsvermeidung bzw. -reduzierung. Zwar gibt es kein geschlossenes Modell für solche Ansätze, aber einige interessante Beispiele. So sind die in den letzten Jahren aus der Not entstandenen, selbstverwalteten, non-profit arbeitenden Dorfläden, die die Fahrt in den abgelegenen Supermarkt ersparen, für sie ebenso eine lohnende Alternative wie das Prinzip, die Arbeit zu den Menschen statt die Menschen zur Arbeit zu bringen.

Sie wies auch darauf hin, dass die zunächst solchen Ansätzen gegenüber eher distanzierten Gewerkschaften in letzter Zeit auch einen Umdenkungsprozess durchmachen und sich dem Motto „besser leben, weniger arbeiten“ annähern.

Sabine Leidig hatte schließlich die Aufgabe, mit einem kurzen Input die abschließende Plenumsdiskussion zu möglichen Umsetzungsstrategien zu eröffnen. Sie legte den Schwerpunkt ebenfalls auf den sozialen Charakter von Mobilität und sah als Hauptaufgabe, sozusagen in einer konzertierten Aktion dem von der ölbasierten Industrie gepushten Auto- und Mobilitätswahn entgegenzutreten. Deshalb wurde von ihr das „Netzwerk solidarische Mobilität“ projektiert, in dem möglichst alle zu dem Thema arbeitenden Initiativen jeglicher Couleur, von linksradikal bis kirchlich, vernetzt und zu gemeinsamen Aktionen gebracht werden sollen, um den sozialen Charakter des Problems in den Vordergrund zu rücken.

In der Debatte waren sich die Teilnehmer der Konferenz darin einig, dass eine durchgreifende Kampagne mit mobilisierungsfähigen, übergreifenden Forderungen nötig ist, um öffentlichen Druck zu erzeugen, dass gegen die derzeit propagierte Form der Elektromobilität Front gemacht werden muss und dass dazu der Aufbau eines Netzwerkes, wie es von Sabine Leidig propagiert wird, nützlich und notwendig ist.

Die „Kasseler ökosozialistische Erklärung“ von SALZ profitierte übrigens ebenfalls von der Konferenz: Sie wurde mit einem erweiterten Absatz zum Thema Verkehr fortgeschrieben.

Unterstützt wurde die seitens der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderte Konferenz durch die Basisinitiative in der Bahngewerkschaft EVG, Bahn von unten sowie die Initiative Ökosozialismus. Für das Jahr 2013 haben sich die TeilnehmerInnen auf eine Fortsetzung der ökosozialistischen SALZ-Konferenzen zum Schwerpunkt Ökologie, Antimilitarismus/Antiimperialismus & Weltwirtschaft geeinigt. Weiteres zu den ökosozialistischen Konferenzen unter www.bildungsgemeinschaft-salz.de!

Klaus Engert / Peter Schüren

Finanzsystemwechsel.
Für eine Wende im Finanz- und Steuersystem

Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen, Frankfurt/M.,
20. April 2012

Dass es Alternativen zur Eurokrise und den derzeit vorherrschenden Lösungsstrategien gibt, zeigte zu Beginn der Tagung Axel Troost, finanzpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Linken, auf sehr anschauliche Weise. Die große Frage sei aber, wie solche Alternativen politisch wirksam werden könnten. Es gehe um nicht weniger als eine gerechte Finanz-, Geld- und Wirtschaftspolitik für Europa, sagte Troost. Was sich derzeit abspiele, sei das genaue Gegenteil davon. Die Eurokrise sei eine tiefe Zäsur, und die Finanzwirtschaft habe erfolgreich von den eigentlichen Ursachen der Krise abgelenkt und die Staatsschuldenkrise in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit geschoben, die sie selbst durch die Inanspruchnahme der Milliardensubventionen mit erzeugt habe. Die tiefere Ursache der Eurokrise, führte Troost aus, seien die exorbitanten Kosten der Bankenrettung in Tateinheit mit der Fehlkonstruktion des Euro, nämlich weil die Währungsunion nicht durch eine Wirtschafts- und Fiskalunion ergänzt worden sei.

Zu dieser ganzen Krisenentwicklung und -verschärfung habe die Bundesregierung entscheidend beigetragen – durch ihre Förderung hoher Exportüberschüsse, durch Austeritätspolitik, Lohn- und Sozialdumping, Handelsbilanzungleichheit, durch einen Kurs der Expansion nach außen und des rigorosen Sparens nach Innen. Damit sei Deutschland in die Position gekommen, hohen Druck auf die Krisenländer ausüben zu können, damit diese überhaupt Gelder des IWF und anderer vergleichbarer Institutionen bekommen könnten. Das habe die Wirtschaft dieser Länder immer tiefer in die Krise getrieben.

Trost erläuterte einen Sechs-Punkte-Plan der Linken zur Überwindung der Euro-Krise. Dazu gehört aus seiner Sicht

- Die den anderen aufdiktierten Sparprogramme müssen beendet werden.

- Die Finanzierung der öffentlichen Haushalte muss von den Finanzmärkten abgekoppelt werden, evtl. notwendige Neuverschuldung läuft nur noch zinsgünstig über eine zu bildende europäische Bank für öffentliche Anleihen und nicht mehr teuer über die Privatbanken.

- Zum Abbau des Schuldenstandes vieler Länder muss es Schuldenschnitte und eine europäische Vermögensabgabe für Millionäre geben. Die Staatsschulden werden so auf en erträgliches Maß reduziert.

- Der Bankensektor muss fortan streng reguliert werden.

- Die Außenhandelsungleichgewichte müssen beseitigt, die Binnennachfrage gestärkt werden.

- Die Krisenprofiteure müssen zur Kasse gebeten werden, etwa durch eine Finanztransaktionssteuer oder eine Bankenabgabe.

Die anschließende Diskussion konzentrierte sich im Wesentlichen auf zwei Punkte: Zum einen auf die Frage der notwendigen Demokratisierung der europäischen politischen Institutionen (so Beat Weber, Beirat für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen, Wien), die dann auch in den folgenden Tagungsblöcken ein wichtige Rolle spielte (s.u.). Zum anderen auf die Frage: Geht es vorwiegend um ein Reformkonzept innerhalb der herrschenden kapitalistischen Verhältnisse, also um einen anderen Kapitalismustyp, oder auch um systemüberwindende Konzepte? – Thomas Sablowski (Rosa-Luxemburg-Stiftung), der diese Frage in einem Korreferat stellte, gab zu bedenken, dass weit gehende Reformkonzepte wie die hier skizzierten vermutlich ohnehin an Grenzen stoßen würden, an denen die Systemfrage sich stellen werde, also die Aufgabe, die kapitalistische Wirtschaftsweise zu überwinden. Troosts Position dazu fiel salomonisch aus: Es müsse beides geben, fasste er zusammen. Reformkonzepte diesseits der Schwelle der Kapitalismusüberwindung seien notwendig, insistierte er. Es sei ja gerade eine Schwäche der Linken, dass sie die überall spürbare adressatenlose Wut über die Verhältnisse zu wenig in eine solche wirksame Reformrichtung zu lenken vermöge. Dies alles könne und müsse aber auch ein wichtiges Teilstück eines Weges sein, der über den Kapitalismus hinaus führe. Es sei bemerkenswert, dass es dazu inzwischen wieder eine rege Diskussion bei verschiedensten politischen Kräften gebe.

Konsens bestand auf der Tagung also darin, dass die in eine Staatsschuldenkrise umgedeutete Finanzkrise ein autoritäres Krisenmanagement in Europa begünstigt, das wiederum zu Sozialabbau und zu einer Kontrolle der Demokratie durch die Finanzmärkte führt. Das zeigt, wie grundlegend die Machtposition des Finanzkapitals in Frage zu stellen ist. Aber wie schwierig sich dies für eine linke Politik erweist, machten die Beiträgen der Experten, Expertinnen des zweiten Workshops dieser Tagung „Schuldenkrise politisieren: Organisieren gegen Austerity“ deutlich. An Reformkonzepten fehlt es nicht. Aber wie können diese Reformen umgesetzt werden? Bernd Riexinger (Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart) machte in den aktuellen Tarifauseinandersetzungen des Öffentlichen Dienstes Ansatzpunkte für einen Gegenentwurf zum neoliberalen Mainstream aus. Denn anders als im industriepolitischen Sektor seien die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst keineswegs „gut“ durch die Krise gekommen. Während es dort eine „Krisenpartnerschaft“ gegeben habe, würden die Beschäftigten hier als erste die Auswirkungen der Austeritätspolitik zu spüren bekommen.

Auch Riexinger konstatierte eine „adressatenlose Wut“, die aber nicht in aktive Gegenwehr münde. Auch wenn Prekarisierung und Spaltung der abhängig Beschäftigten eine charakteristische Seite des Finanzkapitalismus sei, könnten die Prekären allein nicht den Widerstand stemmen. Hier knüpfte Christina Kaindl (Rosa-Luxemburg-Stiftung) mit ihrer Forderung an, den Klassencharakter der Schuldenpolitik zu verdeutlichen und zu fragen: Wer profitiert? Wer zahlt? Angela Klein (Europamärsche) wertete die Schuldenfrage als einen Schlüssel zu einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik. Sie machte Ansätze eines ersten zaghaften Krisenbewusstseins aus: So wirkten z. B. die Folgen der Privatisierung der Infrastruktur oder der öffentlichen Daseinsvorsorge wie der Wasserversorgung mobilisierend. Hier und da werde die Schuldenpolitik mit politisch linken Argumenten angegriffen, wie etwa bei der früheren Bundesministerin Däubler-Gmelin, die nun das Bundesverfassungsgericht wegen des Schuldenmanagements anrufe. Interessant sei auch die Neuauflage der Debatte über ein Schuldenmoratorium: So wie vor zwanzig Jahren über ein Schuldenmoratorium im globalen Süden, z. B. für Argentinien, nachgedacht wurde, werde es jetzt für die peripheren Länder Europas diskutiert, denen die gleichen politischen Kräfte wie damals ein Austeritätsregime aufzwingen wolle. Der Vertreter der occupy-Bewegung deutete die Finanzkrise als Teil einer Vielfachkrise, die auch rassistische Tendenzen fördere. Ihm ging es um mehr als Krisenlösung. Auch konzeptionell sei eine Antwort auf das autoritäre Finanzregime zu finden. Deshalb gehe es um die Ermächtigung von Menschen; es gehe darum, eine Kollektivität von Menschen zu entwickeln, die vereinzelt wären und darum in die Lage versetzt werden sollten, öffentliche Räume zurückzuerobern. – Der Gesamttenor der Diskussion machte im Schuldenregime nicht nur einen Abbau der sozialen Leistungen und Einschränkungen der sozialen Infrastruktur aus, sondern sah darin auch einen Ansatz für Widerstand. Wenn die Daseinsvorsorge eingeschränkt werde, werde die Finanzkrise für die Bürgerinnen und Bürger erfahrbar. Hier könne Politisierung ansetzen.

An der dritten, von Lukas Zeise (Kolumnist der Financial Times Deutschland und Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung) sehr munter moderierten Diskussionsrunde nahmen der Vorsitzende der Links-Fraktion im Hessischen Landtag, Willi van Ooyen, Peter Wahl (Vorstandsmitglied der NGO Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung WEED) und Bernd Riexinger (Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart) teil.

Ooyen erinnerte daran, dass sich in Hessen bei der Volksabstimmung über die Verankerung der Schuldenbremse eine Mehrheit von 70 Prozent für die Schuldenbremse ausgesprochen hatte. Über die Ursachen der kommunalen Finanzkrise und die Funktion der Schuldenbremse besteht also offenbar wenig Klarheit in der Bevölkerung. Die Umsetzung der Schuldenbremse in Hessen hat erst begonnen und wird zu drastischen Einschränkungen bei kommunalen Dienstleistungen und Infrastruktureinrichtungen führen. Ab 2020 sollen die Kommunalhaushalte ausgeglichen sein. 106 hoch verschuldete Kommunen haben sich unter den „kommunalen Schutzschirm“ begeben, der ihnen eine Konsolidierung über eine partielle Entschuldung ermöglichen soll – angesichts eines Volumens von 3,2 Mrd. Euro für einen Zeitraum von 30 Jahren und einer Aufnahme von Kassenkrediten durch die Kommunen in 2012 von allein 6 Mrd. Euro eine völlige Unmöglichkeit. Die Kommunen, die sich unter den Schutzschirm begeben haben, müssen dabei ausdrücklich den einschneidenden Sparmaßnahmen, die der Hessische Rechnungshof vorschlägt, zustimmen. Hier drohen also „griechische Verhältnisse“. Ooyen machte deutlich, dass auf der kommunalen Ebene bisher kaum Widerstandskraft gegen die finanzielle Abdrosselung der Kommunen und damit eine großer Aufklärungsbedarf besteht und dass es dringend notwendig sei, mit praktischen Schritten zu zeigen, dass sich Widerstand lohnt.

Peter Wahl thematisierte die europäische Ebene. Er bezeichnete es als gegenwärtig dringendste Aufgabe, einen Staatsbankrott der EU-Mitgliedsstaaten Griechenland, Portugal und Spanien zu verhindern. Die Krise der Staatshaushalte sei eine „Schlüsselkrise“, deren Lösung Voraussetzung sei, die anderen (ihr zugrunde liegenden) Finanz- und Wirtschaftskrisen wirksam bekämpfen zu können. Von den drei Optionen – Erhalt des Euro und der Eurozone in jetziger Form; Exit einzelner Länder; Abschaffung des Euro – plädierte er für die erste Option bei Vertiefung der europäischen Integration, die eine Demokratisierung, „Entwaffnung der Finanzmärkte“, Schaffung einer Transferunion, Veränderungen im Statut der EZB, ein Gegensteuern gegen die Handelsungleichgewichte etc. beinhalten müsse. Wahl sah für eine solche Tendenz durchaus Chancen; die BRD sei hier bei einer Reihe von Fragen einschl. ihrer fiskalpolitischen Vorstellungen eher isoliert. Größtes Problem seien die strukturellen Ungleichgewichte zwischen den Kern- und Peripherie-Ländern. Bernd Riexinger beurteilte solche Chancen sehr viel skeptischer. Er zitierte zustimmend das IG Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban, der von einer „Strategie der autoritären Stabilisierung“ in Europa gesprochen und dies als größten Anschlag auf die Demokratie nach 1945 bezeichnet habe. Diese Politik sei ganz vom Bemühen geprägt, „das Vertrauen der Finanzmärkte“ zurückzugewinnen. Der von Gewerkschaften und der Linken einzufordernde Gegenentwurf muss, so Riexinger, die Aspekte Umverteilung (gegen die Zerschlagung von Wohlfahrtsstaatlichkeit), Regulierung (öffentliche Kontrolle des Finanzsektors bei Vergesellschaftung der Banken) und Demokratisierung (einschl. Formen der direkten Demokratie und der Demokratisierung und Rekommunalisierung des öffentlichen Sektors) – in den Mittelpunkt stellen.

Die von Zeise aufgeworfene Frage nach Schuldenschnitt/Schuldenaudit als Option wurde zwar teils positiv beurteilt (Ooyen, Riexinger), wobei jedoch auf fehlende politische Voraussetzungen („Kräfteverhältnis“) verwiesen wurde, teils als zweischneidig und nur unter bestimmten verhandelten Bedingungen akzeptabel (Wahl), da ein Schuldenschnitt auch Kleinsparer betreffe. Dass dies – entsprechende Kräfte vorausgesetzt – gesetzlich auch anders geregelt werden kann, dürfte aber klar sein (Zeise). Generell wurden Maßnahmen gegen Lohn- und Steuerdumping, d.h. einheitliche Standards auf europäischer Ebene, die die innereuropäische Konkurrenz zurückdrängen, für sinnvoll erachtet. Eine gegen den Internationalisierungstrend gerichtete Rückkehr zur Regulierung allein im nationalstaatlichen Rahmen sei dagegen anachronistisch. Die Forderung nach „Mobilisierung der europäischen Bevölkerung“ stellt sich dabei leicht, erweist sich jedoch schon auf nationaler Ebene als höchst kompliziert. Entsprechende europäische Initiativen, in der Bundesrepublik der gewerkschaftliche Aufruf „Europa neu begründen“, wurden daher als „Riesenfortschritt“ (Riexinger) bewertet.

André Leisewitz/Jürgen Reusch/Franz Segbers