Editorial

September 2019

Rechts gewinnt und links verliert. Auf diese einfache Formel lassen sich die Ergebnisse der EU-Wahlen vom Mai bringen. Gerd Wiegel und Klaus Dräger werfen jedoch einen differenzierteren Blick auf die Ergebnisse der Rechten und Linken. Während in den Medien die allgemeine Einschätzung überwog, der befürchtete Durchmarsch der Rechten sei ausgeblieben, wendet Wiegel ein, es handele sich mitnichten um eine Niederlage der modernisierten radikalen Rechten. Deren kontinuierlicher Aufstieg seit 2009 setzte sich weiter fort, jedoch konnte die Zersplitterung der Rechtskräfte im EU-Parlament nicht überwunden werden. Sie werden sich auch zukünftig auf mehre Fraktionen verteilen. Der Einfluss dieser Richtung nimmt aber zu, da sie inzwischen in wichtigen EU-Staaten die Regierungspolitik bestimmt und ihre Interessen auch auf europäischer Ebene verankern kann. Einen Grund für diese Entwicklung benennt Dräger, wenn er darauf verweist, dass die Macht in der EU nach wie vor bei den Nationalstaaten liegt. Das als Demokratisierung verkaufte Spitzenkandidatenmodell wurde schnell wieder kassiert und hat laut Dräger zudem eine Debatte um die inhaltliche Ausrichtung der EU überdeckt, so dass letztlich nur Bekenntnisse für oder gegen die EU gefragt waren. Die Linksparteien in der EU, die zu den klaren Verlierern der Wahl gehören, haben – je nach dem - mit beiden Bekenntnissen Schiffbruch erlitten, wie Dräger an den Ergebnissen der EU-Befürworter als auch der popularen EU-Kritiker belegt.

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Die aktuellen Debatten um die Öko- und Klimaproblematik erweisen sich mehr und mehr als eine strategische Grundfrage auch für die Linke. Marx und Engels haben sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie dem Raubbau an Arbeit und Natur als Quellen des Reichtums schon im Kapitalismus Grenzen gesetzt werden können. André Leisewitz zeigt mit Bezug auf die aktuellen Klimabewegungen, dass wirksame Maßnahmen erst von dem Moment an auf den Weg gebracht werden, in denen sie Gegenstand breiter sozialer Bewegungen geworden sind. Hier spielen u.a. Konflikte um die Dekarbonisierung eine Schlüsselrolle. Für die mit dem Kohleausstieg verbundenen Strukturveränderungen und deren Gestaltung hat die ostdeutsche Lausitz Signalcharakter. Axel Troost beschreibt das Konzept des „gerechten Strukturwandels“ der Kohlekommission, das den betroffenen Regionen erhebliche Subventionen in Aussicht stellt. Bei einer grundsätzlich positiven Bewertung dieser Pläne weist er auf Defizite im Bereich der demokratischen Mitwirkung hin und zeigt, dass ein Teil der vorgesehenen Mittel als Geschenk an die Kapitalseite gehen soll.

Dass es mit Subventionen nicht getan ist zeigt eine empirische Untersuchung, die Forscher der Uni Jena bei Beschäftigten der Lausitzer Kohleindustrie durchgeführt haben. John Lütten referiert die Ergebnisse von Intensivbefragungen, die zeigen, dass es nicht nur um die soziale Abfederung von Strukturwandel geht. Dringend notwendig wäre ein Austausch zwischen Klima-Bewegungen und Kohlebeschäftigten, um unproduktive Gegensätze zu überwinden.

In dem Maße, wie die Zerstörung des Planeten in den Mittelpunkt der sozialen und politischen Auseinandersetzungen rückt, ist die marxistische Linke gefordert, Strategien zur Verbindung von ‚traditionellen‘ Klassenkämpfen mit ökologischen Bewegungen zu entwickeln. Hinweise, dass menschheitsbedrohende Naturzerstörungen letztlich Folge der kapitalistischen Akkumulationsdynamik seien, reichen nicht aus. Christian Stache schildert und kritisiert hierzulande wenig bekannte Debatten über ökosozialistische Strategien in den USA. Im Mittelpunkt des ersten Teils seines Beitrags steht die Frage, ob es sich beim Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit einerseits und dem zwischen Mensch und Natur im Kapitalismus um einen einheitlichen historischen Prozess oder um getrennte Aspekte handelt.

Die ‚Bepreisung‘ von CO2-Emissionen steht gegenwärtig im Mittelpunkt der Debatten um die Klimapolitik. Franz Garnreiter gibt einen detaillierten Überblick über die gegenwärtige Praxis in der EU und entwickelt Kriterien, unter denen CO2-Abgaben sinnvoll sein können. Dies heißt aber nicht, dass man – nach einer entsprechenden Bepreisung – alles dem Markt überlassen könnte.

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Der zweite Themenschwerpunkt unseres Heftes ist den deutsch-deutschen Jubiläen 1949-1989-2019 gewidmet. Linke Geschichtsbetrachtung muss hier eigene Akzente setzen. Jürgen Hofmann wendet sich gegen die herrschende Herangehensweise, im 30. Jahr der deutschen Einheit die kritische Rückschau ausschließlich auf die unterlegene ostdeutsche Seite zu konzentrieren. Für die weitere Entwicklung sei es unerlässlich, auch in der jeweils anderen Vergangenheit ein Erbe und bewahrenswerte Erfahrungen zu entdecken.

Zwei Beiträge befassen sich mit wirtschaftspolitischen Problemen, die mit dem Ende der DDR zusammenhängen. Siegfried Prokop untersucht Entstehen und Scheitern des Konzepts der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Der Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler wendet sich der Wirtschaftspolitik der DDR im Jahre 1989 zu. Er zeigt auf, wie eine reformunwillige Wirtschaftspolitik in ein schier unlösbares Problembündel führte, wenngleich die DDR-Wirtschaft auch 1989 entgegen landläufiger Meinung nicht „bankrott“ war.

Im dreißigsten Jahr der „Wende“, so die kritische Bilanz von Stefan Bollinger, entdeckt der politische und mediale Mainstream plötzlich die „Lebensleistung der Ostdeutschen“. Diese Neuakzentuierung ist die Reaktion auf das Erstarken der AfD und auf die Unzufriedenheit zahlreicher ostdeutscher Wähler, die aus den sozialen Verwerfungen der neoliberalen Transformation der ehemaligen DDR-Wirtschaft resultiert. Eine eigenständige linke Geschichtspolitik muss über die Kritik der Treuhand hinausgehen diesem gescheiterten Sozialismusversuch in seiner Komplexität Rechnung tragen.

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Marx-Engels-Forschung: Nathanael Wolff befasst sich mit dem Übergang vom ersten zum zweiten Band des Marx’schen „Kapital“. Er will zeigen, dass es der Kapitalkreislauf ist, der für Marx bei der Darstellung des Gesamtreproduktionsprozesses des Kapitals die „Kernstruktur“ darstellt und dass sich dies auch beim Übergang vom ersten zum zweiten Band des „Kapital“ bemerkbar macht.

Weitere Beiträge: In dieser Rubrik werden zwei Themen weiterverfolgt, die bereits in den letzten Z-Heften diskutiert wurde. Raphael Peresson analysiert den gegenwärtigen Krisenprozess in Venezuela aus einer politökonomischen Perspektive. Als zentrales Problem konstatiert er die Kontinuität eines rentenbasierten Kapitalismus in Venezuela, den auch die bolivarische Revolution nicht überwinden konnte. Ulrich Brinkmann, Maren Hassan-Beik und Lukas Zappino gehen der Frage nach, aus welchen Gründen Menschen AfD wählen. In ihrer Erhebung konzentrieren sie sich auf gewerkschaftlich Engagierte als Untersuchungsgruppe. Es zeigt sich, dass sozioökonomische Aspekte für die Wahl der AfD durchaus einen hohen Stellenwert haben.

Archiv: Am 1. Juni dieses Jahres verstarb unser Genosse Fritz Krause, kurz vor seinem 93. Geburtstag. Fritz, fast zwanzig Jahre lang Redakteur der „Marxistischen Blätter“, aus proletarischem Milieu kommend, gehörte 1989/90 zu den Gründern von Z. Zur Erinnerung an Fritz veröffentlichen wir hier ein bisher unveröffentlichtes Gutachten, das der mit ihm gut bekannte Wolfgang Abendroth für ihn im April 1973 geschrieben hatte. Es ging um die Verlängerung eines Lehrauftrags für Krause über „Geschichte der Arbeiterbewegung in den Westzonen nach 1945“ am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt, für die sich marxistische Studierende einsetzten.

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„Kleine Rubriken“: Kommentare, Zuschriften, Zeitschriftenschau, Berichte und Buchbesprechungen bieten eine Fülle von Überlegungen zu politischen und ideologischen Aspekten aktueller Bewegungen, unter anderem zur Debatte über den Sozialisierungsartikel des Grundgesetzes, zur Zukunft der EU, zu einer ökologischen Mobilitätswende, zu Initiativen gegen Rechts und zu verschiedenen gewerkschaftlichen Initiativen.

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Aus der Redaktion: Der Redaktionsbeirat der Zeitschrift wird zukünftig verstärkt durch Jürgen Leibiger, Wirtschaftswissenschaftler aus Radebeul bei Dresden. Herzlich willkommen. Jürgen Leibiger sollte unseren LeserInnen gut bekannt sein, er hat bisher schon zahlreiche Beiträge in Z veröffentlicht. Auch in diesem Heft ist er vertreten. Das nächste Gesamtredaktionstreffen zur weiteren Planung des Jahrgangs 2020 findet Mitte Oktober in Berlin statt. Die Marxistische Studienwoche 2020 vom 9.-13. März in Frankfurt/M. wird „Ökosozialismus“ zum Thema haben.

Vorschau: Z 120 (Dezember 2019) behandelt im Themenschwerpunkt Beiträge zu Geschlechterverhältnissen aus historisch-materialistischer Sicht. Das Heft enthält ferner Beiträge zur Marx-Engels-Forschung und zur Theorie der Ästhetik bei Lukacs. Klimakrise und Theorie des Ökosozialismus werden uns ebenfalls weiter beschäftigen.